Sebastian Lindner
· 09.06.2024
Im Dauerregen von Leigh bei Manchester geriet so einiges durcheinander. Auf dem Weg zum sicheren Sieg nahm Lotte Kopecky (SD Worx - Protime) 150 Meter vor dem Ziel die Beine hoch. In den engen und rutschigen Kurven, so der Plan, sollte sie wie zuletzt immer den Sprint für Lorena Wiebes anziehen. Kopecky powerte durch die Kurven, riss ein Loch und hätte völlig problemlos ihren dritten Tagessieg einfahren können.
Doch sie tat es nicht. Und auch Wiebes wollte nicht gewinnen. Die beiden Stars des Teams wollten den Sieg ihrer treuen Helferin Christine Majerus schenken. Auf den letzten 70 Metern schrie Wiebes von hinten, sie solle durchziehen. Und vermeintlich fuhr die 37 Jahre alte Luxemburgerin auch zu ihrem ersten Sieg auf internationalem Parkett seit mehr als zwei Jahren. Sie jubelte schon - doch das war zu früh. Denn Ruby Roseman-Gannon (Liv Jayco AlUla) nutzte den laxen Umgang der Konkurrenz und schob ihre Rad auf den allerletzten Metern noch an allen anderen vorbei - vor allem zum Ärger von Kopecky, die noch auf der Zielgerade motzte.
Doch Kopecky, die bereits die ersten beiden Etappen gewonnen hatte - Wiebes die Dritte - wird es verschmerzen können, denn der Gesamtsieg war ihr trotzdem nicht mehr zu nehmen. Platz zwei ging an Anna Henderson aus dem britischen Nationalteam, Dritte wurde durch die Bonussekunden noch Majerus, die bei der Siegerehrung für genau diesen Rang peinlich berührt zeigte. Schließlich endete auch die Fabelserie von SD Worx auf der Insel mit bis dato sechs Etappensiegen in Folge bei World-Tour-Rennen in dieser Saison. Schon die RideLondon Classique hatte das niederländische Team komplett für sich entschieden.
Für Roseman-Gannon war es der erste Sieg auf internationalem Parkett. Die 25-Jährige hatte zuvor auf Profi-Niveau bisher nur die Australische Meisterschaft auf der Straße in diesem Jahr gewonnen.
Nach mehreren vergeblichen Attacken in der Anfangsphase durch die Protagonistinnen der frühen Phasen der Vortage hatte Elizabeth Deignan (Großbritannien) Interesse an den Bergpunkten, die es nach 16 Kilometern an einem Anstieg der 1. Kategorie zu holen gab. Deignan attackierte, sicherte sich die Zähler und machte damit ihre Führung in der entsprechenden Sonderwertung klar. In der Folge ließ sie sich aber nicht einholen und fuhr weiter.
Bis zum zweiten Berg des Tages, der nach 42 Kilometern wieder zur 1. Kategorie gehörte. Hier rettete sie sich mit ein paar Sekunden Vorsprung vor dem Feld über die Kuppe. Hinten wurde richtig Dampf gemacht, denn der Anstieg stellte die vermeintlich letzte Chance für Veränderungen in der Gesamtwertung dar. Im mittlerweile strömenden Regen setzten sich sieben Fahrerinnen aus dem Feld ab, um den Kampf aufzunehmen. Lotte Kopecky, Lorena Wiebes, ihre Helferin Christine Majerus, sowie Anna Henderson, Pfeiffer Georgi und Letizia Paternoster setzten sich ab.
Unterdessen baute Deignan ihren kleinen Vorsprung in der Ebene wieder aus. Die Verfolgergruppe wuchs auf zwölf Fahrerinnen an, auch Franziska Koch (Team dsm-firmenich PostNL) schaffte die Rückkehr. 40 Kilometer vor dem Ziel war Deignan dann gestellt. Kurze Zeit später schloss eine weitere Verfolgergruppe von hinten zu den Favoritinnen auf.
Rund um die 20-Kilometer-Marke wurde erneut attackiert. Kopecky, Paternoster, Henderson und Georgi fuhren sich eine halbe Minute Vorsprung heraus. Wiebes setzte nach und schloss etwa zehn Kilometer später wieder auf - allerdings wurden die Ausreißerinnen kurz darauf wieder gestellt. Ein weiteres Quartett um Koch und Roseman-Gannon wurde etwa fünf Kilomete vor dem Ziel zurückgeholt, nachdem es sich ein paar Sekunden herausgefahren hatte.
So ging es auf den letzten, kurvenreichen Kilometer. Kopecky führte das Feld auf die letzten 200 Meter und ging in den nassen Kurven mehr Risiko als alle anderen. 200 Meter vor dem Ziel hatte die Weltmeisterin eine Lücke, die locker für den Sieg gereicht hätte. Doch dann nahm sie die Beine hoch. Denn sie und Wiebes, die ebenfalls nicht zum Sprint ansetzte, hatten sich offenbar vorgenommen, den Sieg an Majerus zu verschenken. Die war vorne und riss den Arm zu jubeln hoch - allerdings zu früh, denn Roseman-Gannon zog auf den letzten Metern noch an der Luxemburgerin vorbei.