Die Radsportbegeisterung ist riesig in Ruanda. Zum Start der zweiten Etappe der Rundfahrt in Huye schauten mehrere Hundert Fahrradtaxifahrer voller Ehrfurcht auf die schnellen Maschinen im Peloton. “Wir würden auch mal gerne auf solchen Rädern fahren”, sagt Innocent und blickt von seinem schweren Eingangrad zum Einkaufspreis von etwa 100 Dollar auf die leichten und sündteuren Rennmaschinen der Profis. Das Preisgefälle ist auch bei den Einkommen extrem.
Neo-Profis in der World-Tour können mit dem Mindestgehalt von 34.020 Euro pro Jahr rechnen. Die Fahrradtaxifahrer müssten beim Standardpreis von 100 Ruanda-Franc pro Kilometer (etwa sieben Eurocent) mehr als zehn Mal den Erdball auf Äquatorhöhe umrunden. Das nennt man Klassenunterschied.
Sind die Rahmenbedingungen vergleichbar, fallen die Unterschiede nicht mehr so deutlich aus. Eric Manizabayo, als Teenager selbst noch Fahrradtaxifahrer, hielt im Trikot der ruandischen Nationalmannschaft als Zehntplatzierter der sechsten Etappe auf der steilen Rampe des Mont Kigali bestens mit. Vor ihm platzierten sich auf dieser Königsetappe der Rundfahrt zwei weitere Sportler aus Afrika.
“Der Radsport in Afrika ist im Kommen”, bilanziert Jean-Pierre van Zyl. Er leitet seit 2005 den südafrikanischen Ableger des World Cycling Center des Weltradsportverbandes UCI. “Unsere erste Generation mit Daniel Teklehaimanot, Merhawi Kudus und Tsgabu Grmay hatte es richtig schwer; zu dem Zeitpunkt gab es noch keinen schwarzen Profi. Die jetzige Generation sieht hingegen, dass afrikanische Fahrer bei der Tour de France dabei sind, bei Olympia antreten und – wie Biniam Girmay – sogar Rennen gewinnen. Das eröffnet ganz neue Horizonte”, meint van Zyl. Zur Tour du Rwanda kam er mit einem blutjungen Team mit einem 18-Jährigen, drei 20-Jährigen sowie als Mentor Tsgabu Grmay.
Der Jugendtrend passt bestens in die neue Strategie der Tour du Rwanda. Hier fungiert Philippe Colliou als Technischer Direktor. In Frankreich richtet er die Tour de l’Avenir aus, international die wichtigste Nachwuchs-Rundfahrt. “Unser Ziel bei der Tour du Rwanda ist es, junge afrikanische Fahrer zu fördern. Deshalb haben wir so viele afrikanische Nationen wie möglich eingeladen”, erzählt er. Zu den Teams aus Eritrea, Äthiopien, Ruanda, Mauritius, Algerien und Südafrika kommen zwei Continental-Rennställe aus Ruanda. Um attraktive Wettkampfbedingungen für die meist jungen Fahrer vom afrikanischen Kontinent zu kreieren, bemühte sich Tour-de-l’Avenir-Boss Colliou um Development-Teams aus Europa.
Die sehen die Einladung durchweg positiv. “Es ist eine schöne Erfahrung für unsere jungen Fahrer. Das Rennen passt gut in den Saisonaufbau. Und die Mischung mit den afrikanischen Teams ist auch interessant”, meint Kurt van de Wouwer (Team Lotto-Dstny). “Es ist vor allem sehr schön, eine weitere acht Tage lange Rundfahrt für diese Alterskategorie zu haben. Fast jeder World-Tour-Rennstall hat ja jetzt ein Entwicklungsteam. Die Jungs brauchen Raum, um sich zu zeigen, sie brauchen Renntage. Und es ist eine gute Schule für sie, zu sehen, wie sie sich nach acht Etappen fühlen”, fügte Kevin Hulsmans hinzu, Sportlicher Leiter bei Soudal - Quick Step.
Das erste Achtungszeichen setzte allerdings ein Oldie. Pierre Latour, 30 Jahre alt und mit der Erfahrung von neun Grand Tours ausgestattet, gewann das Bergzeitfahren der fünften Etappe. Sein Erfolg lässt sich auf eine weiteren interessanten Aspekt Ruandas zurückführen. Latour bestritt mit seinem Team TotalEnergies im Januar ein mehrwöchiges Trainingscamp im Schatten der majestätischen Vulkankegel, wo das Bergzeitfahren ausgetragen wurde.
“Die Bedingungen sind gut. Man kann in der Höhe trainieren, die Straßen sind in gutem Zustand, die Hotels in Ordnung”, meint der Sportliche Leiter Lylian Lebreton. Er geht davon aus, dass sein Rennstall das Experiment im nächsten Jahr wiederholen wird und dass auch andere World-Tour-Teams gerade im Hinblick auf die Rad-WM 2025 nachziehen werden.
Viele Europäer mit Ruanda-Erfahrung sind überzeugt davon, dass die aufstrebende Radsportnation als Trainingsrevier für World-Tour-Teams interessant werden könnte. “Es kann der neue Teide werden”, bestätigt David Louvet, aus Frankreich stammender Nationaltrainer des ruandischen Teams, mit Verweis auf den Trainings-Hotspot vieler Profis auf Teneriffa.
Bei dieser Tour fielen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Radsports in Ruanda bei Kilometer fünf des Bergzeitfahrens zusammen. Dort befindet sich das einstige Trainingszentrum von Team Africa Rising. Es wurde von den US-Amerikanern Jock Boyer und Kimberly Coats eingerichtet, die seit 2007 und 2009 Radsport in Ruanda aufbauten. 2017 zogen sie sich wegen massiver Differenzen mit dem Radsportverband zurück. Dabei ging es auch um Korruptionsvorwürfe. 2019 musste der damalige Verbandspräsident deswegen zurücktreten. “Was uns betraf, ging es um Rechnungen für Räder. Wir wiesen den Verbandspräsidenten darauf hin, dass diese Rechnungen beglichen werden müssen, aber sie zahlten einfach nicht. Weil wir die Vereinbarungen mit dem Sponsor respektieren wollten, mussten wir, um die Rechnungen selbst zu begleichen, ein paar Räder unserer Mountainbike-Flotte verkaufen”, erzählt Coats.
Auch der folgende Verbandspräsident trat zurück, Ende 2023. Es ging ebenfalls um Korruptionsvorwürfe. Immerhin wird das Trainingszentrum von Team Africa Rising wieder von der Nationalmannschaft benutzt, wie auch von einheimischen und internationalen Teams.
Weil es in der Umgebung viele Fahrradtaxifahrer gibt, die wegen der Höhenlage über hohe natürliche Hämatokritwerte verfügen, richtet Ex-Profi Nathan Byukusenge regelmäßig Rennen für Fahrradtaxis aus, erzählt Jean-Pierre van Zyl. “Früher haben wir Fahrer rekrutiert, wenn wir im Training an ihnen vorbeifuhren und sie sich mit ihren schweren Eingangrädern nicht abschütteln ließen. Keine Ahnung, wie viel Watt sie getreten haben. Aber sie waren einfach gut und wir haben sie dann in unser Team eingeladen”, blickt er zurück. Inzwischen läuft das Scouting systematischer. Es gibt auch mehr Rennen im Land.
Aufgrund der wachsenden Infrastruktur für junge afrikanische Fahrer ist Rennorganisator Colliou davon überzeugt, dass er bei seiner Tour de l’Avenir bald einen afrikanischen Sieger haben wird. “In fünf Jahren könnte es so weit sein. Bei der Tour de France wird es noch etwas länger dauern, aber es wird passieren”, meint er.
Rennen in Ruanda findet er übrigens leichter zu organisieren als in Frankreich. “Die staatlichen Institutionen hier sind extrem hilfreich. Die Polizei sichert den Parcours ab. Wo wir neue Straßen brauchen, wird gebaut. Ein paar Streckenabschnitte auf der dritten Etappe durch den Nyungwe-Nationalpark wurden neu gemacht für uns. Insgesamt weisen die Straßen eine gute Qualität auf. Und es gibt auch genügend Hotels mit akzeptablem Niveau”, erzählt er.
Ruanda zum Radsportland auszubauen gehört zur staatlichen Entwicklungsstrategie. “Tourismus ist einer unser wichtigsten Industriezweige. 2023 generierten wir hier Einnahmen von über 550 Millionen Dollar”, erklärt Michaella Rugwizangoga. Die studierte Chemikerin – sie arbeitete einige Jahre bei BASF in Ludwigshafen – ist Tourismus-Chefin des Rwanda Development Boards, der staatlichen Institution, die für Wirtschaftsentwicklung und Kapitalakquise in den Schlüsselbranchen verantwortlich ist.
“Sport ist für uns eine bedeutende Plattform, um auf uns aufmerksam zu machen und Touristen ins Land zu holen”, erzählt sie. “Visit Rwanda” steht deshalb auch auf dem gelben Trikot des Gesamtführenden der Rundfahrt – wie schon auf den Ärmeln der Fußballprofis von Bayern München, FC Arsenal und Paris Saint-Germain. Das Geld für die Sponsorendeals im Fußball kommt von Rugwizangogas Behörde. “Es stammt aus unseren Tourismuseinnahmen”, betont sie. Und es soll den Tourismus weiter ankurbeln. Nach ihren Angaben hat der Deal mit dem FC Arsenal im Verlauf der vergangenen sechs Jahre zu 30 Prozent mehr Touristen aus Großbritannien geführt. Auch die Aufwendungen für die Ausrichtung der Rad-WM kommen aus diesem Topf. Allein sieben Millionen Euro dürften als Gebühren an den Weltverband UCI fließen. Für WM-Touristen will das Rwanda Development Board spezielle Pakete schnüren, inklusive Aufenthalt in den Nationalparks. Alles in der Hoffnung, dass sich Ruanda als Reisedestination herumspricht.
Kritische Stimmen, die wegen nachgewiesener Menschenrechtsverletzungen im Lande wie außerhalb, unter anderem Entführungen und Mordanschläge auf Regimegegner, die Investitionen in den Sport als Sportwashing verurteilen, wischt Rugwizangoga weg. “Immer wenn man etwas Ungewöhnliches tut, bekommt man Gegenwind. Wir investieren in den Sport, um unserer Jugend Entwicklungschancen zu geben. Wir sehen die Investments in den internationalen Sport vor allem als Geschäft”, sagt sie. Und da will das Land in Zukunft sogar an einem noch größeren Rad drehen. “Warum sollen wir in 15 Jahren nicht auch Olympische Spiele oder die FIFA-WM mitausrichten? Man muss groß träumen”, sagt sie.
Für die Rad-WM scheint das Land gerüstet. Die Generalprobe hat gut geklappt. Die Tour du Rwanda bot auch erste Gelegenheit, den WM-Berg Mont Kigali zu befahren. “Der Anstieg ist richtig brutal. Man steigt unten ein, hat erst ein steileres Stück, dann wird es noch mal flacher, dann wird es wieder steiler. Der letzte Kilometer ist richtig, richtig hart”, beschreibt Bike-Aid-Profi Vinzent Dorn seine Erfahrungen. “Da werden auch bei der WM einige zurückfallen und nur die Allerstärksten drüberkommen. Es ist ein super selektiver Berg”, prognostiziert er.
Als doppelter Triumphator am Mont Kigali stellt sich der Brite Joseph Blackmore heraus. Der 21-Jährige, auch er ein Youngster, gewann im Bergsprint die sechsten Etappe. Am Schlusstag setzte er sich dort als Solist durch und hatte sogar Kraft genug, um mit einem Wheelie den Zielstrich zu überqueren.
Für seinen Teamkollegen Chris Froome, bislang der berühmteste Profi mit afrikanischer Herkunft, hielt die Tour du Rwanda sportlich vor allem Enttäuschungen parat. Beim Teamzeitfahren fiel er schnell zurück, kassierte mehr als fünf Minuten. Allerdings flossen die Zeitabstände nicht in die Gesamtwertung ein.
Auf der 6. Etappe am Mont Kigali probierte er einen Ausreißversuch. Er war auch einige Kilometer allein vor dem Feld, wurde bestaunt von Bauern, die schnell von ihren Feldern kamen, um die Rennfahrer anzufeuern. Lange vor dem finalen Anstieg wurde er aber wieder eingefangen. Auch am Schlusstag wurde er nur 30. Selbst das Peloton in Ruanda ist mittlerweile zu stark besetzt für den viermaligen Tour-de-France-Sieger. Auch das ist ein Indiz für Wachstum.