Thomas Huber
· 17.12.2023
Strade Bianche ist eines der ersten Eintagesrennen der Saison und machte im Jahr 2023 in doppelter Hinsicht auf sich aufmerksam. Erst verirrte sich ein Pferd kurzzeitig auf die Rennstrecke und sorgte für große Augen bei den Zuschauern, dann kam es zum Showdown zwischen zwei SD-Worx-Teamkolleginnen. Noch im Zielort Siena fingen Lotte Kopecky und Demi Vollering beim letzten Anstieg die bis dato führende Kirsten Faulkner ab, ehe die beiden Fahrerinnen auf die Zielgerade kamen. Im Fotofinish kamen sie ins Ziel, minutenlang war dabei unklar, wer der beiden die Siegerin war. Nach Ansicht der Bilder hatte sich Vollering um Haaresbreite an Kopecky vorbeigeschoben. Es war der Auftakt zu einer sagenhaften Saison für die Niederländerin.
Wenige Tage nach Platz zwei bei Strade Bianche kam Lotte Kopecky dann beim Eintagesrennen Nokere Koerse als Erste ins Ziel. Für sie war es jedoch ein besonders emotionaler Sieg: Vier Tage vor dem Rennen war ihr Bruder Seppe plötzlich verstorben. Mit dem Sieg demonstrierte sie nicht nur ihre fahrerische Klasse, sondern auch mentale Stärke. Mit fast einer halben Minute Vorsprung vor der zweitplatzierten Lorena Wiebes bewies sie ihre Überlegenheit. Kopecky kam als Solistin ins Ziel, hatte dabei beim Triumph ihren Kopf gesenkt und jubelte nicht. Anschließend widmete sie den Sieg ihrem verstorbenen Bruder, der sie zum Radsport gebracht hat.
Bei der “Königin der Klassiker” gab es im Jahr 2023 einen Überraschungserfolg. Die 34-jährige Kanadierin Alison Jackson siegte im Zielsprint und durfte ihren ersten Sieg bei einem World-Tour-Rennen bejubeln. Weil die Gruppe der Favoritinnen um Lotte Kopecky und Lorena Wiebes in der “Hölle des Nordens” in einem Massensturz 38 Kilometer vor dem Ziel zu Fall kam, rettete die Ausreißergruppe ihren Vorsprung ins Velodrom von Roubaix. Dort bewies Alison Jackson die höchste Spritzigkeit und setzte sich im Zielsprint vor ihren Kontrahentinnen um Katia Ragusa durch. Im Ziel konnte die Fahrerin von EF Education-Tibco-SVB den Sensationssieg kaum fassen.
Nach dem Sieg bei Strade Bianche unterstreicht Demi Vollering bei den Ardennen-Klassikern, dass sie im Jahr 2023 das Maß der Dinge im Frauen-Radsport ist. Innerhalb einer Woche gewinnt die Niederländerin vom Team SD Worx das Amstel Gold Race, Fleche Wallonne und Lüttich-Bastogne-Lüttich. Damit ist sie erst die zweite Frau, der dieses Triple gelingt. Im Jahr 2017 gewann Anna van der Breggen die drei Rennen hintereinander - heute ist die 33-Jährige sportliche Leiterin beim Team SD Worx. Womöglich hat sie hat sie ihr Sieger-Gen der Ardennen-Rennen an ihren heutigen Schützling weitergeben können.
Nach den beeindruckenden Siegen in den Jahren 2021 und 2022 bei der Vuelta a Espana Femenina geht es für Annemiek van Vleuten in ihrer letzten Spanien-Rundfahrt deutlich knapper zu. Zwar fährt sie auf der sechsten Etappe ein Polster von über einer Minute auf ihre Kontrahentin Demi Vollering heraus, die bei der Etappe bereits früh im Rennen den Anschluss an die Spitze verliert. Auf der finalen siebten Etappe wird es dann aber noch einmal eng. Fünf Kilometer vor dem Ziel verliert van Vleuten den Anschluss an ihre Landsfrau Vollering, die die Etappe auch am Ende für sich entscheidet. Im Ziel hat van Vleuten 56 Sekunden Rückstand auf die Tagessiegerin und rettet mit neun Sekündchen Puffer den Gesamtsieg ins Ziel.
Zwei deutsche Fahrerinnen machten durch Etappensiege bei der Tour de France Femmes besonders auf sich aufmerksam. Auf der 2. Etappe siegte Liane Lippert vom Team Movistar in einem Bergauf-Sprint aus einer größeren Gruppe heraus. Auch gegen die in Gelb fahrende Lotte Kopecky setzte sich die 25-Jährige unter regnerischen Bedingungen durch und durfte ihren ersten Grand-Tour-Etappensieg bejubeln. Der Sieg der Friedrichshafenerin kam aber nicht aus heiterem Himmel. Bereits bei Fleche Wallonne belegte sie hinter der Dominatorin Demi Vollering Platz zwei. Lippert war aber nicht die einzige Deutsche, der ein Etappensieg gelang ...
Ricarda Bauernfeind gewann bei der Tour de France Femmes die 5. Etappe. Auf welligem Terrain setzte sie sich 35 Kilometer vor dem Ziel ab und versuchte sich als Solistin. Als das Team SD Worx versuchte, die Mitfavoritin auf den Tagessieg Lotte Kopecky an die deutsche Ausreißerin heranzuführen, zerfiel das Peloton. Nur die Schweizerin Marleen Reusser und Liane Lippert versuchten, Bauernfeind auf den letzten Kilometern zu stellen. Die junge Deutsche trotzte den Versuchen und rettete am Ende 22 Sekunden Vorsprung ins Ziel. Die deutsche Siegerin der 2. Etappe Liane Lippert wurde an diesem Tag Dritte, während Bauernfeind den ersten Sieg auf World-Tour-Ebene feiern durfte. Am Ende wurde die 23-Jährige sogar starke Neunte im Gesamtklassement.
Über viele Jahre war die niederländische Radsport-Legende Annemiek van Vleuten die große Dominatorin im Frauen-Radsport. Bei der 7. Etappe der Tour de France Femmes bekam die zu diesem Zeitpunkt 40-Jährige jedoch von ihrer Landsfrau Demi Vollering ihre Grenzen aufgezeigt. Bei der Königsetappe zerfiel das Feld der Favoritinnen am letzten Anstieg völlig. Am legendären Col du Tourmalet kämpfte sich Demi Vollering auf beeindruckende Weise als schnellste Fahrerin den Berg hinauf und deklassierte ihre Konkurrentinnen. Am Ende kam sie mit fast zwei Minuten Vorsprung auf die Polin Katarzyna Niewiadoma ins Ziel und hängte Annemiek van Vleuten mit über zweieinhalb Minuten ab. Damit entthronte Demi Vollering die einstige Dominatorin und wurde selbst zum Maß der Dinge im Frauen-Radsport. Der Etappensieg war zugleich auch die Vorentscheidung im Kampf um den Tour-Gesamtsieg.
Bei der Rad-WM in Glasow überragte vor allem eine Fahrerin: Lotte Kopecky. Erst sicherte sich die Belgierin beim Ausscheidungszeitfahren und beim Punktefahren auf der Bahn die Goldmedaille, ehe sie auch auf der Straße gewann. In einem hektischen Rennen setzten sich kurz vor dem Ziel Lotte Kopecky und Cecilie Uttrup Ludwig ab. Die Niederländerin bewies mehr Spritzigkeit, hängte ihre Kontrahentin ab, die sogar auf den letzten Metern noch von Demi Vollering abgefangen wurde. Mit drei Sekunden Vorsprung gewann Kopecky am Ende das Rennen. Mit der dritten Goldmedaille der Belgierin wurde die Rad-WM zu den Kopecky-Festspielen umgetauft.
Annemiek van Vleuten ist eine der erfolgreichsten Radsportlerinnen der Geschichte. Auch in ihrem letzten Profi-Jahr zeigte die Niederländerin, was in ihr steckt. Auf ihrer Abschiedstournee gewann sie im Jahr 2023 nicht nur die Vuelta a Espana Femenina und den Giro Donne. Sie siegte auch bei ihrem vorletzten Profi-Rennen überhaupt: Bei der Tour of Scandinavia benötigte sie für die fünf Etappen zwei Sekunden weniger als Cecilie Uttrup Ludwig und bewies einmal mehr ihr Sieger-Gen. Damit trat van Vleuten auf der Platzierung ab, auf der sie ihre Rennen so häufig beendete - auf Platz eins.