Andreas Kublik
· 21.12.2022
Er ist der Beste unter den Super-Allroundern: Tom Pidcock ist Olympiasieger auf dem Mountainbike, Weltmeister im Cyclocross, und er gewann die Etappe nach Alpe d’Huez bei der Tour de France. Wo liegen die Limits des 23-jährigen Briten?
TOUR: Tom, Sie waren jüngst persönlich bei der Präsentation der Tour de France 2023 in Paris. Haben Sie schon herausgefunden, welche Etappe gut für einen Tailwhip sein könnte?
Tom Pidcock: Für einen Tailwhip? (lacht) Dazu müsste ich ein paar mehr Details kennen als nur die grobe Route. Dazu müsste ich genau wissen, wo die Tempo-Schwellen sind oder die Brücken.
Tailwhip nennt man diese Show-Einlage, bei der Sie oder Mathieu van der Poel während Cyclocross- oder Mountainbike-Rennen im Sprung das Hinterrad quer zur Fahrtrichtung ziehen. Aber jetzt im Ernst: Was treibt Sie im Radsport am meisten an: Geht’s ums Gewinnen, um die Show wie beim Tailwhip, darum, sich einfach ans Limit zu bringen oder sich selbst zu quälen?
Ich würde sagen, es ist von allem etwas. Es geht um harte Arbeit, darum, so gut wie irgendmöglich zu sein. Und die Ergebnisse der harten Arbeit zu sehen.
Was ist für Sie das Beste, was Sie aus dem Radsport ziehen?
Schwierige Frage ... (denkt nach) Nun, ich genieße es – es geht ums Vergnügen!
Wenn man Sie Rad fahren sieht, merkt man schnell: Sie gehen anders an den Radsport heran als die Altvorderen?
Nun, klar, ich gehe die Sache anders an als die ältere Generation. Alleine schon dadurch, dass ich drei Disziplinen bestreite – das ist etwas, was nicht gerade weithin akzeptiert war und gemacht wurde in der Vergangenheit.
Und die Rennen werden anders gefahren ...
Ja, alles ist jetzt ein bisschen schneller und explosiver.
Sie sind Teil eines Trends, einer neuen Radsport-Generation: Schließlich gibt es jetzt einige Super-Allrounder wie Mathieu van der Poel oder Wout Van Aert, die verschiedene Radsportdisziplinen auf höchstem Niveau bestreiten. Woher kommt diese Entwicklung?
Es ist einfach passiert. Mathieu und Wout waren die zwei, die damit auf höchstem Niveau begonnen haben – zumindest in der Zeit, in der ich das verfolgt habe. Ich würde sagen, es ist jetzt einfach mehr akzeptiert, es zu tun.
Die beiden Genannten waren Ihre Vorbilder?
Ich denke, ja, in gewisser Weise. Ich verdanke ihnen die Inspiration, als ich jünger war.
Sie sind Mountainbike-Olympiasieger, Cyclocross-Weltmeister und haben bei der Tour de France 2022 die Bergetappe nach Alpe d’Huez gewonnen. Wenn Sie sich als Profi für eine der drei Disziplinen entscheiden müssten: Welche würden Sie wählen?
Straßenradsport – weil es einfach die wichtigste Disziplin, die Spitze im Radsport ist. Darin ist es am schwersten zu gewinnen; und es ist taktischer als die anderen. Klar, in Sachen Radbeherrschung ist Straßenradsport nicht vergleichbar mit Radsport im Gelände. Aber in jeder anderen Hinsicht.
Und was fasziniert Sie an den Disziplinen im Gelände?
Ich mag beide gerne. Beim Mountainbiken war zuletzt die Herausforderung, dass ich eigentlich ziemlich unerfahren bin und diesen Mangel an Erfahrung überwinden muss – das habe ich genossen. Cyclocross ist die Disziplin, in der ich meinen ersten richtig großen Erfolg hatte. Und ich mag dieses intensive Format einfach.
Was fesselt Sie mehr: Wenn Sie den zehnmaligen MTB-Weltmeister Nino Schurter in einer anspruchsvollen, verblockten Downhill-Passage abhängen könnten oder Tadej Pogačar oder Jonas Vingegaard bei einer Bergankunft auf der Straße?
Ich denke, ich nehme das physisch anspruchsvollere Szenario: Vingegaard oder Pogačar bei einer Bergankunft abzuhängen – ich glaube, das wäre auch einfach das bedeutendere Ergebnis.
Die Menschen haben vermutlich noch immer die Bilder von Ihrer atemberaubenden Abfahrt vom Galibier-Pass während der Tour de France vor Augen, als sie mit Tempo 100 an vielen Konkurrenten vorbeikurvten. Kennen Sie eigentlich den Begriff Angst?
Natürlich! Wenn man keine Angst spürt, kennt man auch nicht die eigenen Limits. - Tom Pidcock
Wann hatten Sie denn zuletzt Angst?
Erst neulich, als ich an der Straße entlang lief, und plötzlich ein Auto ausscherte. Ich spüre auch immer Angst, wenn ich bergab fahre. Und ich erinnere mich noch gut an mein erstes „Opening Weekend“ (Beginn der Klassikersaison in Belgien Ende Februar mit den Rennen Omloop Het Nieuwsblad und Kuurne-Brüssel-Kuurne; Anm. d. Red.): Da sind wir den Neuen Kwaremont mit 150 Jungs auf der breiten Straße mit Tempo 80 runter; jeder hat um seine Position gekämpft – das war auch sehr furchteinflößend. Wir betreiben einen gefährlichen Sport – egal ob wir’s mögen oder nicht. Angst gehört dazu. Und es kommt auch auf die Begleitumstände, die eigene Verfassung an: Alles kann unter Kontrolle sein, man fühlt sich sicher. Und ein anderes Mal ist man unsicher und ängstlich. Man hat gute und schlechte Tage, sei es körperlich oder mental.
Viele deutsche Fans haben das vermutlich gar nicht mitbekommen: Sie hatten vor einigen Jahren einen sehr schweren Sturz bei der Tour de l’Avenir. Inwieweit hat sich das auf Ihre Fahrweise ausgewirkt?
Das war der schlimmste Sturz, den ich je hatte. Ich kann mich nicht daran erinnern, ich hatte kurz das Bewusstsein verloren. Ich kann mich nur auf ein Video von dem Sturz beziehen. Ich habe einen Fehler gemacht, indem ich bei Nässe zu schnell in eine Kurve gefahren, dann gestürzt und in eine Mauer geprallt bin. Ich lag an diesem Tag in Führung, wahrscheinlich hätte ich die Etappe gewonnen und das Gelbe Trikot übernommen. Es war die letzte Kurve der Abfahrt kurz vor dem Ziel. Es ist besonders ärgerlich, weil ich eigentlich keiner bin, der unnötig viel riskiert. Danach hat mich das für eine ganze Weile beeinträchtigt, wenn ich bei Nässe abfahren musste.
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Jetzt haben Sie Probleme in Abfahrten überwunden?
Ich würde sagen: ja.
Was ist für Sie persönlich die Herausforderung dabei, drei Disziplinen während einer Saison zu kombinieren?
Es gibt einfach nicht viel Zeit, um sich umzustellen. Es geht das ganze Jahr so. Das ist die schwierigste Sache dabei. Aber gleichzeitig mag ich genau das.
Sie ließen lange offen, ob Sie Ihren Titel als Cross-Weltmeister verteidigen werden. Wie schwierig ist es, alle Höhepunkte mitzunehmen?
Die nächste WM ist eine Woche später als gewöhnlich – das ist für mich unpassend. Denn was ich sicher weiß: Ich will diesmal eine geradlinigere Vorbereitung auf die Straßensaison haben.
Wir betreiben einen gefährlichen Sport. Egal ob wir’s mögen oder nicht: Angst gehört dazu.
Sie wollten 2022 Dreifach-Weltmeister werden: Den Cyclocross-Titel haben Sie im Februar gewonnen, dann wurden Sie in München Mountainbike-Europameister und wollten danach WM-Titel im Mountainbiken und zum Saisonabschluss im Straßenrennen holen. Doch nach Rang vier bei der MTB-WM haben Sie die Saison abgebrochen. Was ist schiefgelaufen?
Zunächst: Ich habe dieses Ziel nie so formuliert. Die Medien haben das vermutet.
Aber es war doch Ihr Ziel?
Klar, es wäre schön gewesen. Was schiefgegangen ist: Ich wurde vor der Mountainbike-WM krank und hatte dann im Rennen auch noch einen Platten. Eigentlich war ich super vorbereitet, war in Top-Form. Obwohl einiges schiefging, war ich mental sehr stark – und darauf bin ich schon ein bisschen stolz. Aber man kann schon sagen, dass ich danach irgendwie die Nase voll hatte.
Bleibt es trotzdem Ihr Ziel, die drei Titel innerhalb eines Kalenderjahres zu gewinnen?
Es ist auf jeden Fall schön, zu versuchen, sie zu gewinnen – als Erster überhaupt.
Was sind Ihre nächsten Ziele?
Zunächst möchte ich die Cross-Saison im Weltmeister-Trikot genießen. Danach möchte ich eine ordentliche und konstante Straßensaison hinlegen. Im abgelaufenen Jahr war es ein einziges Auf und Ab mit Krankheiten – Covid und Verdauungsproblemen.
Was erwarten Sie konkret von der Straßensaison: Sind Paris-Roubaix oder die Gesamtwertung der Tour de France ein Thema?
Das muss alles noch besprochen werden. Ich würde natürlich beides in Zukunft ausprobieren. Ich suche diese Herausforderungen. Aber wann? Das kann ich nicht sagen.
Mittelfristig planen Sie bis zu den Olympischen Spielen in Paris 2024?
Für Paris, für den Mountainbike-Wettbewerb, brauche ich Punkte. Deshalb werde ich im kommenden Jahr weiter ein paar Mountainbike-Rennen fahren und nach der Tour de France die WM in Glasgow bestreiten. Das ist eines der großen Ziele im nächsten Jahr.
Sie stammen aus der Stadt Leeds in der Grafschaft Yorkshire, wo rund um Harrogate die Straßen-WM 2019 stattfand. Wie ist es, dort als junger Kerl mit dem Radsport zu beginnen? Man hat wahlweise Stadtverkehr oder enge kurvige Straßen mit Mauern und Hecken, die schlecht einzusehen sind. War das nicht gefährlich?
Nein, das ist wirklich nicht gefährlich dort, und es gibt auch nicht viel Verkehr. Und es regnet auch normalerweise nicht so viel wie damals während der WM. Das waren die stärksten Regenfälle, die ich je in Leeds erlebt habe! Es gibt bei uns eine großartige Radsportkultur. Mein Vater war Radsportler, er hat mich in den Radsport gebracht. Und es gibt zu Hause eine tolle Radsport-Szene mit vielen verschiedenen Arten von Ausfahrten und Radfahrern mit allen möglichen Stärken. Es ist einfach ein toller Platz, um ein Radsportler zu sein – wirklich!
Auch Ihr drei Jahre jüngerer Bruder Joseph will Radprofi werden. Er fährt aktuell im Nachwuchsteam von Groupama-FDJ. Wie war das früher – war der Schulweg oft ein Radrennen zwischen Ihnen und Ihrem Bruder?
Grundsätzlich bin ich jeden Tag mit dem Rad in die Schule gefahren, das war so eine Meile oder eineinhalb, manchmal bin ich auch durch den Wald – solange, bis ich mit 18 mit der Schule fertig war. Aber ich hatte dabei nie viel Wettbewerb mit meinem Bruder.
Auf Strava kann man sehen, dass Sie im vergangenen Mai, in der Woche zwischen den beiden Mountainbike-Weltcups in Albstadt und Nove Mesto, aus dem Nirgendwo in Deutschland 190 Kilometer mit dem Rennrad ziemlich geradeaus irgendwo nach Tschechien gefahren sind. Sie können gar nicht genug vom Radfahren kriegen?
Nun, das zeigt, dass ich gerne hart trainiere. Im Mountainbikesport gibt es nicht die gleiche Einstellung. Dort trainiert man nicht so viel wie die Straßenfahrer – vielleicht deshalb, weil man das nicht muss für eineinhalb Stunden, die die Rennen dauern. Wir sind damals einfach ein Stück mit dem Auto Richtung Tschechien ins Hotel gefahren. Dann habe ich eine Route geplant, bis dorthin, wo unser Truck stand, und bin am nächsten Tag hingefahren. Dort habe ich geduscht, etwas gegessen, dann ging es weiter.
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