Mit ihren Blicken folgt Lea Lin Teutenberg immer wieder den bunt gekleideten Jugendlichen, Männern und Frauen, die auf dem Holzoval vor ihren Augen ihre Runden drehen. Eine leichte Brise zieht durch die kühle Radhalle im niederrheinischen Kaarst-Büttgen, ausgelöst von den kreisenden Sportlern da unten. Lea Lin Teutenberg trägt schon ihre langen Sporttextilien. “Hier hat alles angefangen”, sagt die 24-Jährige, “als Kind war ich schon immer hier, habe Papa bei den Rennen zugeschaut. Jetzt trainiere ich oft hier. Das ist etwas Besonderes.” Gleich wird sie ihr Bahnrad durch das Tor schieben, mit vorsichtigen Schritten hinuntertrippeln in den Innenraum, wo auch ihr Vater Lars und ihr Bruder Tim Torn an diesem Sonntag auf die Piste rollen. Die jüngste Generation einer bemerkenswerten Rennradfamilie wird unter den Augen ihrer Eltern dann weiter ihre Wege gehen und sich auf neue Aufgaben vorbereiten.
Hier am Niederrhein, im vorwinterlichen Ambiente, geht es um Ziele, denen man sich auch annähert, wenn man im Kreis fährt und auf die Vergangenheit schaut. Das klingt philosophisch, aber im Zusammentreffen mit der Familie Teutenberg stecken durchaus große Fragen. Sicher ist, dass der Name Teutenberg für den Radsport in diesem Land eine große Bedeutung hat, die sich aus der Vergangenheit herleitet. Fast sicher ist aber auch, dass die Familie für die Zukunft dieses Sports hierzulande bedeutsam sein wird.
Wenn Lea Lin, Rufname Lin, und Tim Torn, Rufname Tim, mit Vater und Mutter in der Sportanlage zusammenstehen, steht auch gewissermaßen der verstorbene Großvater im Raum. Mit in der Halle sind auch Erinnerungen an die Tour de France, an Weltrekorde, an große Begegnungen. Über allem schweben große Ziele für die kommende Saison, und dann erklingt immer wieder ein Zitat des Gründers dieser Radsport-Dynastie: “Der Weg ist das Ziel.” Dies ist das jüngste Kapitel in der Geschichte, die auch in TOUR schon mehrfach erzählt und um immer neue Kapitel erweitert wurde.
Zweieinhalb Stunden Training haben sich Vater Lars und seine Kinder für heute vorgenommen. Sie sind nicht allein. Der als Materialspezialist bekannte ehemalige Profi organisiert an diesem Tag einen Lehrgang für Bahnfahrer des VfR Büttgen. “Einige von denen stehen beim Madison-Fahren noch ganz am Anfang, da geht es um Grundlagen”, sagt der 53 Jahre alte Routinier, der in anderthalb Jahrzehnten als Berufsfahrer 92 Sechstagerennen bestritt. Der Mann mit den kurzen, braunen Haaren kann erklären, wie man sich abwechselt, wie man dem Partner Schwung mitgibt. Er erklärt den Junioren vor ihm die Details ganz ruhig, sehr direkt und sehr ernst, er schiebt die stehenden Körper der jungen Leute vor sich hin und her, während im Hintergrund seine beiden Kinder über die Bahn hetzen, angeführt von einem Derny. Der Vater gibt dem Fahrer des Gefährts ein Zeichen mit der rechten Hand, er dreht an einem imaginären Gashahn. Es soll trainiert werden, nicht gerollt. Die Einheit soll sich für alle lohnen, nicht nur für die Einsteiger. “Ich finde es wichtig, unser Wissen so breit wie möglich zu streuen”, sagt Teutenberg senior. Er wirkt voll bei der Sache.
Wissen hat Lars Teutenberg in gehörigem Maße. Er gilt als Tüftler, Mastermind, Materialfetischist. “Das ist aber nicht alles. Es geht immer um Optimierung, Effizienz, ums Kraftsparen”, sagt er. “Das versuche ich meinen Kindern zu zeigen. Wie sie mit einer Mischung aus dem besten Material und der richtigen Verhaltensweise im Rennen gegenüber den Wettbewerbern Kraft sparen. Das ist der Weg zum Erfolg.”
Lars Teutenberg kann das glaubwürdig vortragen. Er schaffte es 2002, den Stundenrekord mit einem menschenbetriebenen Fahrzeug (HPV) aufzustellen: 82,6 Kilometer legte er in 60 Minuten zurück. Sein Wissen und sein Verständnis von Physik und Materialkunde machten ihn zum Wegbereiter der Aerodynamik im Rennradsport, insbesondere bei Zeitfahren. Noch mit 44 Jahren qualifizierte Lars Teutenberg sich erstmals für die Zeitfahr-WM, damals in Spanien.
Das zeigt, wie sehr der Wahl-Kölner sich mit Optimierung auskennt. Dieses Wissen brachte er bei zahlreichen Profiteams ein. Als Profi war Teutenberg selbst nie auf höchstem Niveau unterwegs, dafür beriet er nach seiner Karriere Top-Mannschaften. Er war beim T-Mobile-Nachfolgeteam High-Road für die Technik zuständig, danach betreute er die Rennmannschaften für den Fahrradhersteller Scott, später war er Performance Director bei Bora-Hansgrohe und zuletzt beim Frauenteam Canyon-SRAM. Jetzt agiert er als Produktspezialist beim niederländischen Unternehmen Scope, einem ingenieursgetriebenen Hersteller von Carbonlaufrädern.
Sein 21 Jahre alter Sohn Tim hat zum Termin schon die Montur seines World-Tour-Teams mitgebracht. Gestern trug er noch einen alten Trainingsanzug des BDR als Karnevalsverkleidung, denn es war der 11.11. in Köln – für ihn die einzige Chance, Karneval zu feiern. Heute ist er wieder darauf aus, das Training voll zu nutzen. Er ist ein gutes Stück vorangekommen auf dem Weg, den ihm seine Familie geebnet hat.
“Es war gefühlt immer so, dass ich Profi werden wollte, schon in der Grundschule.” - Tim Torn Teutenberg
Der Sport war nicht nur sichtbar, die Familie setzte Zeichen. Tims Großvater Horst, Sozialarbeiter und später Leiter des Jugendamts in Monheim bei Düsseldorf, hatte sich als Quereinsteiger maximal engagiert, wurde A-Lizenz-Trainer und galt über Jahrzehnte als Förderer des Radsports in Nordrhein-Westfalen. Tim erinnert sich an den Satz des Großvaters, der immer wieder ertönte. “Der Weg ist das Ziel”, und der junge Mann hat daraus eine Verpflichtung mitgenommen: “Wenn ich das Gefühl habe, dass der Weg stimmt, kann ich zufrieden sein. Das hängt nicht an Ergebnissen.”
Der inzwischen verstorbene Opa steckte mit Ehefrau Elke maximales Engagement nicht nur in den eigenen Nachwuchs. Heraus kamen nicht nur eine, sondern gleich drei bemerkenswerte Karrieren. Sven, Lars’ jüngerer Bruder, fuhr als Teamkamerad mit Lance Armstrong bei US Postal Services und brachte 2017 mit seiner Frau Suzan die Tour de France nach Düsseldorf. Ina-Yoko, die kleine Schwester, gehört zu den Legenden des Frauenradsports, als Sprinterin reihte sie Sieg an Sieg und ist inzwischen Sportliche Leiterin beim Frauen-World-Tour-Team von Lidl-Trek. Es ist ein Radsport-Biotop, in dem Lin und Tim groß wurden. Aber sie hätten auch andere Wege einschlagen dürfen, das sagen beide Kinder heute, überdies war das Abitur Pflicht. “Ich habe ganz viele Sportarten ausprobiert. Mein Vater saß auch am Rand, als ich beim Reiten war”, erinnert sich Lin an ihre Teenie-Jahre. “Aber irgendwann kommt diese Liebe zum Sport auf, wenn man das so vorgelebt bekommt.”
Das ging auch Catrin Degenhardt so, und aus ihr sprudelt die Begeisterung für den Sport an diesem Sonntagnachmittag am allermeisten. Sie ist Lars’ Lebensgefährtin, sie kamen schon vor dreieinhalb Jahrzehnten zusammen, in der gemeinsamen Heimat Mettmann. “Ich hatte mit dem Radsport gar nichts zu tun, aber ich begleitete Lars, sooft es ging, zu Rennen, um Zeit mit ihm zu verbringen”, sagt die Frau, die jetzt wieder Vollzeit in einer Unternehmensberatung arbeitet. Das war zwischendrin nicht möglich, denn im Laufe der Zeit hatten sie und Lars erkannt, dass das Leben mit einem Mann im Profizirkus und später der sportliche Werdegang ihrer Kinder auch ihre Energie forderte. Mit den kleinen Kindern reisten sie um die Welt, sie lebten an vielen Orten, sie sammelte Erfahrungen.
“Diese Welt des Radsports brachte ein eigenes soziales Umfeld, das uns sehr aufgenommen hat, da bin ich voll eingetaucht”, erzählt die 54-Jährige. An der Gesamtschule in Köln-Rodenkirchen übernahm sie die Leitung der Radsport-AG – elf Jahre lang. Als der Nachwuchs zum Bahntraining musste, fuhr sie die Kinder nicht nur hin. Sie saß auf der Tribüne, knüpfte Kontakte, organisierte Wettbewerbe und wurde zuletzt Vorstandsmitglied in der Arbeitsgemeinschaft Kölner Bahnrennsport, die für den sportlichen Betrieb auf der Kölner Radbahn zuständig ist. “Als die Kinder selbst mit dem Auto zum Training fuhren, spürte ich einen Phantomschmerz”, erinnert sich Degenhardt.
Sie erzählt, wie sie Lin bei ihrer WM-Teilnahme in Doha 2016 begleitete, wie sie mit ihr 2021 bei der WM in einem belgischen Hotel saß und plötzlich der Bundestrainer anrief. Eigentlich wollten sie Bruder Tim anfeuern, doch plötzlich war auch Lin Starterin für Deutschland. Die Familie hatte allerdings nur einen Rennanzug dabei. “Dann haben wir einfach Tims Anzug genommen und ihn gewaschen, das ging auch”, erinnert sich die Mutter.
Die Teutenbergs wirken zusammen wie eine exakt justierte Schaltgruppe. “Die Beziehung unserer Kinder ist eng. Wir wollten ihnen immer vermitteln, dass sie einander für das ganze Leben haben, und das scheint gefruchtet zu haben”, sagt die Mutter. Es war der jüngere Bruder, sagt auch Lin, der ihr immer wieder den Antrieb vermittelt habe, dem Sport treu zu bleiben. Als Tim Erfolge anhäufte, habe sich Lin davon inspirieren lassen. Die beiden sind eng im Austausch. Die Mutter berichtet auch, wie traurig Tim gewesen sei, als Lin zu Hause auszog. Ein Konkurrenzverhältnis gebe es nicht, im Gegenteil.
2024 wird ein wichtiges Jahr in der Laufbahn der beiden Teutenberg-Kinder. Ihr Vater hat sie in all den Jahren trainiert. “Dabei habe ich viele Diskussionen mit den Leuten in ihren Teams und in den Nationalmannschaften führen müssen”, sagt Lars Teutenberg. Er ist eben nicht nur Materialexperte, er habe bei den Profiteams auch immer Trends der Trainingslehre aufgesaugt. Wenn der Vater mit dem Nachwuchs in Trainingsgruppen fuhr, wunderten sich oft andere Eltern. Warum coacht er denn auch alle anderen mit? Macht er seinen Kindern damit nicht das Leben schwer, weil sie im Rennen doch wieder auf genau diese Rennfahrer treffen – als Gegner?
“Diese Betrachtungsweise fand ich immer kurzsichtig. Ich wollte, dass meine Kinder das bestmögliche Umfeld haben – denn wenn sie weit kommen wollen, müssen sie mit Konkurrenz klarkommen. Das Talent setzt sich dann ohnehin durch”, sagt der Vater. Der Weg ist das Ziel, und doch habe er immer auch eine ganz explizite Vorgabe für seine familiäre Nachwuchsarbeit gehabt: “Ich habe immer überlegt, was auf dem höchsten Niveau des Radsports aktuell gefragt ist. Das ist natürlich Training, aber das hat auch sehr viel mit Mind-Set zu tun”, sagt Lars Teutenberg.
Bis heute agiert er als persönlicher Trainer der beiden. Sie haben mit ihm ihren Weg in die Weltspitze gefunden. “Er weiß, was für uns am besten ist, er weiß, wann wir einen Tritt in den Arsch brauchen und wann wir mal ein bisschen locker machen sollten”, sagt Lin. 2024 ist ein großes Jahr, für beide. “Das Ziel ist, bei Olympia in Paris auf der Bahn zu starten. Dann schauen wir weiter”, sagt sie, die sich auf Umwegen als Radprofi etabliert hat. Seit 2020 fährt sie beim Straßenrennteam Ceratizit-WNT, was erst seit Kurzem finanziell einträglich wird. 2020 schaffte sie auch den Sprung in die Sportfördergruppe der Bundeswehr. “Damit kann ich mich voll auf den Sport konzentrieren”, sagt sie. Sie hatte nach dem Abitur begonnen, Wirtschaftsingenieurwesen in Köln zu studieren, doch die Anwesenheitspflicht passte nicht zum Sport. Jetzt hat sie auch ein Management-Studium in Ansbach unterbrochen. “Das kann ich immer noch nach meiner Karriere machen”, sagt Lin Teutenberg.
Ihr Bruder denkt nicht mehr an Alternativen. Er wird 2024 dem Development-Team der World-Tour-Mannschaft Lidl-Trek angehören. Es ist seine Chance als sprintstarker Fahrer, bei den Profis Fuß zu fassen. “In solchen Strukturen unterwegs zu sein, bringt große Chancen. Da wird es nicht nur um Ergebnisse gehen und um Werte, sondern um einen Prozess”, sagt er. Er fühle sich dem Traumberuf nun greifbar nah. “Meine Tante erfuhr lustigerweise von dem Deal erst, nachdem ich unterschrieben hatte”, sagt Tim über vermeintliche Seilschafts-Effekte bei seinem Karriereschritt. Schließlich arbeitet er jetzt im selben Team wie die Schwester seines Vaters. Auch für Tim Torn Teutenberg ist Olympia in Paris das überragende Ziel der anstehenden Saison, das Ziel, auf das er auch an diesem Novembertag in Büttgen hintrainiert. “Erst mal hinkommen”, sagt der Europameister im Ausscheidungsfahren, “denn der Kader wird nicht groß sein. Aber dann wäre ein Platz unter den Top fünf schon mein Traum.” So konkret kann jemand Ziele anpeilen, wenn er mit seiner Familie schon einen weiten Weg gegangen ist.
Lars Teutenberg ist ein Sohn des einflussreichen, 2021 verstorbenen Radtrainers Horst und seiner Frau Elke Teutenberg. Lars Teutenberg gewann als Straßenprofi unter anderem die Internationale Thüringen-Rundfahrt (1998). 1996, 1999 und 2002 stellte er Weltrekorde mit dem Human Powered Vehicle auf – also mit Menschenkraft erreichte Stundenweltrekorde. Er lebt zusammen mit Catrin Degenhardt und ist Bruder des ehemaligen Pro-Tour-Athleten Sven Teutenberg und der Frauen-Radsportlegende Ina-Yoko Teutenberg.
Degenhardts und Teutenbergs Kinder Lea Lin und Tim Torn haben schon als Junioren Deutsche Meistertitel auf der Bahn geholt. Lin Teutenberg ist seit 2020 Profi beim Continental-Women’s-Team Ceratizit-WNT. Sie war 2022 Deutsche Meisterin im Omnium und in der Mannschaftsverfolgung und ist aktuell nationale Titelträgerin im Punkte- und Zweier-Mannschaftsfahren. Tim Teutenberg ist aktueller Europameister im Ausscheidungsfahren und gewann 2022 gleich vier Deutsche Meistertitel auf der Bahn. Er gehört 2024 dem Nachwuchsteam von Lidl-Trek an.