Rein sportlich geht es darum, wer nach dem Karriereende der viele Jahre alles überragenden Annemiek van Vleuten das neue Gesicht des Frauenradsports wird. Top-Kandidatinnen sind Tour-Siegerin Demi Vollering und Weltmeisterin Lotte Kopecky.
Die Wachablösung fand noch während der Regentschaft der alten Herrscherin statt. Demi Vollering deklassierte während der Tour de France Femmes am legendären Anstieg zum Tourmalet die langjährige Überfrau des Straßenradsports, Annemiek van Vleuten. Die 40-jährige Niederländerin hatte zuvor zwar ihre Ausnahmeposition mit Siegen bei Giro und Vuelta bestätigt, bei der Tour de France fand sie in Vollering aber ihre Meisterin. Die ist nun auf dem besten Weg, das Erbe ihrer Landsfrau anzutreten. Allerdings stellen sich ihr auch Rivalinnen in den Weg. Und ob es überhaupt jemanden geben kann, den Platz der Olympiasiegerin, Weltmeisterin und achtmaligen Grand-Tour-Siegerin (viermal Giro, dreimal Vuelta, einmal Tour) auszufüllen, ist ebenfalls die Frage.
“Momentan ist mir keine Fahrerin bekannt, die so werden möchte wie Annemiek”, merkte Ronny Lauke an. Der Teamchef von Canyon//SRAM stellt vor allem die Unbedingtheit heraus, die van Vleuten über viele Jahre zur überlegenen Athletin machte, und die er so bei den anderen nicht beobachtet. “Diesen brutalen Ehrgeiz, den Annemiek mitgebracht hat, mit dem sie das ganze Leben dem Radsport untergeordnet hat, was eben auch bedeutet, viel Zeit auf irgendwelchen Bergen alleine im Hotel zu verbringen, das schaffen viele gar nicht. Sie brechen ein, weil sie ihr soziales Umfeld brauchen.”
Die vielen Höhentrainingslager, für die van Vleuten berühmt – einige würden sagen: berüchtigt – war, sind anderen gar nicht zuzumuten, glaubt Lauke. Demnach wird es eine Chefin mit neuem Profil geben.
Erste Kandidatin dafür ist Demi Vollering. Die 27-Jährige entthronte schließlich van Vleuten, als die noch die Titelverteidigung bei der Tour de France Femmes anpeilte. Sie bewies dabei Kaltschnäuzigkeit und Killerinstinkt. Sie enthielt sich zunächst der Führungsarbeit in einer Dreiergruppe, zu der auch noch Canyon//SRAM-Fahrerin Kasia Niewiadoma gehörte und spekulierte auf das Zurückkommen ihrer Teamgefährtin Marlen Reusser. Als das geschah und van Vleuten zermürbt war, verwandelte sich die junge Frau, die wenige Jahre zuvor noch als Floristin im Blumenladen ihres Vaters arbeitete, in eine Lady Gnadenlos und jagte als Solistin die Serpentinen hoch.
Weil sie auch noch das Ardennen-Triple (Lüttich-Bastogne-Lüttich, Wallonischer Pfeil und Amstel Gold Race) gewann, ist sie zweifellos prädestiniert, die neue Vorzeigefrau zu werden. Allerdings muss sie dafür in Zukunft unschöne Aktionen wie etwa das Windschattenfahren hinter dem Teamauto auf der 5. Etappe der Tour unterlassen. Sie bekam dafür eine 20-Sekunden-Zeitstrafe aufgebrummt, steckte das aber weg und stellte zwei Tage später mit dem Sieg am Tourmalet die Verhältnisse klar. Das einstige Blumenmädchen hat mittlerweile die stählerne Härte einer Klinge, die auch die widerspenstigsten Dornen vom Stiel einer Rose zu entfernen vermag.
Die zweite Kandidatin für den verwaisten Königinnensitz fährt im gleichen Team. Die 28 Jahre alte Lotte Kopecky hat nicht die Kletterqualitäten wie Vollering, ist dafür aber explosiver. Das stellte sie bei ihren WM-Triumphen auf Bahn und Straße unter Beweis. “Es ist verrückt, drei WM-Titel in einer Woche. Als junges Mädchen wollte ich einfach nur kompetitiv sein. Ich dachte niemals, dass ich so gut werde”, sagte sie unmittelbar nach ihrer bisher schönsten Woche im Sport. Im Monat zuvor, bei der Tour de France, bewies sie vor allem Leidensqualitäten im Hochgebirge und rang im Zeitfahren die als Rundfahrerinnen stärker eingeschätzten van Vleuten und Niewiadoma nieder.
Die Polin ist schon länger die Beste vom Rest, wenn es um Rundfahrten geht. Zwar liegt ihr letzter größerer Sieg auf der Straße mit dem Amstel Gold Race 2019 schon einige Zeit zurück, aber sie erzielt regelmäßig Podiumsplätze. Auf Schotter gelang der 29-Jährigen in der vergangenen Saison endlich ein richtiger Erfolg: Sie wurde Gravel-Weltmeisterin. Mit dem neu gewonnenen Gefühl für Siege ist sie in der kommenden Saison stark zu beachten.
Ihr Stil – der WM-Sieg war Resultat eines 26 Kilometer langen Angriffs im Solo – erinnert an van Vleuten. Sie hat aber nicht deren an Verbissenheit grenzenden Ehrgeiz. Zu ihrem mit Abstand schönsten Erlebnis auf dem Rad erklärte sie kurz nach dem WM-Sieg eine Bikepacking-Tour, gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten, dem ehemaligen Profi Taylor Phinney. Das nennt man wohl eine gute Work-Life-Balance. Kommt diese auch im Peloton beliebte Athletin ohne Gesundheitsprobleme durch die Saison, kann sie zur Coverfrau 2024 avancieren.
Kasia Niewiadoma kommt zugute, dass sie bei Canyon//SRAM mittlerweile auf beachtliche Unterstützung in den Bergen hoffen darf. Die Deutsche Ricarda Bauernfeind überraschte bei der Tour mit einem Etappenerfolg nach fast 36 Kilometern Solofahrt. Damit hängte die 23-Jährige in der Spezialwertung des überwältigendsten Ausreißversuchs des Jahres sogar Männer-Star Remco Evenepoel ab (29-Kilometer-Solo beim Sieg der 18. Vuelta-Etappe).
Neoprofi Antonia Niedermaier steuerte beim Giro einen formidablen Etappensieg in den Bergen bei. “Beide sind noch sehr jung. Wir hoffen, dass ihre Entwicklung so weitergeht. Wir haben auch noch Chloe Dygert, die, wenn sie gesund bleibt, ebenfalls in solche Leistungsregionen fahren kann. Unsere gesamte Gruppe hat an Leistungsdichte zugelegt, und deshalb können wir bei schweren Rundfahrten in der Zukunft eine gute Rolle spielen”, meint Teamchef Lauke.
Eine tragende Rolle kann auch Liane Lippert spielen. Im gemeinsamen Jahr mit Superstar van Vleuten bei Movistar reifte die 25-Jährige vom Bodensee zur Siegfahrerin, holte unter anderem einen Etappensieg bei der Tour. Mit ihr dürfte besonders bei den Eintagesrennen zu rechnen sein – Olympia 2024 in Paris eingeschlossen. Echtes Superstar-Potenzial hat die erst 21 Jahre alte Niederländerin Fem van Empel (Visma | Lease a Bike). Sie mischte im Winter die Cyclocross-Szene auf und will nun verstärkt Straßenrennen fahren. “Mich nur für eines zu entscheiden, ist keine Option. Cyclocross macht mir zwar am meisten Spaß, ich bin aber auch gut auf der Straße und will da die Beste werden”, sagte sie. Das nennt man Ambitionen.
Was die Bezahlung im Frauenradsport angeht, gibt es noch viel Luft nach oben. Laut Jahresbericht der Fahrerinnenvereinigung The Cyclists Alliance (TCA) bekommen 25 Prozent der befragten Frauen auf Continental-Niveau gar kein Gehalt, drei Viertel haben Zweitjobs. Der Report macht aber Hoffnung, dass sich daran bald etwas ändern könnte: Der Anteil von Fahrerinnen mit Uni-Abschluss oder parallelem Studium beträgt im Continental-Bereich und in der World-Tour der TCA zufolge 98 Prozent. Ein derart gebildetes Peloton sollte auch bei Vertragsverhandlungen seine Ansprüche formulieren können.