Saisonvorschau 2024Was hat sich bei den Teams getan?

Tom Mustroph

 · 31.12.2023

Jäger und Gejagte: 2023 blieb kein Schlupf­loch, um der Überlegenheit von Jumbo-Visma zu entfliehen.
Foto: Gruber Images
Die Saison 2023 war über weite Strecken geprägt von der Überlegenheit des Team Jumbo-Visma: beeindruckend, aber auch etwas monoton. Für 2024 stehen die Zeichen wieder auf mehr Vielfalt.

Eine Rekordsaison ist vorbei, die nächste deutet sich an. 2023 stand ganz im Zeichen des überlegenen, ja übermächtigen Team Jumbo-­Visma. Alle drei Grand Tours gewann die niederländische Equipe, dazu fünf von zwölf kleineren Rundfahrten der World Tour. Weil aber die Transfer-Saison im Herbst, nun ja, “exzentrisch” verlief, unter anderem Primoz Roglic wegen des internen Konkurrenzdrucks das Team verließ, deutet sich nun eine spektakuläre Tour de France 2024 an: Vier Grand-Tour-Sieger werden in vier verschiedenen Teams um die Krone des Radsports kämpfen. Zu den Dauerrivalen Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard gesellt sich Neuling Remco Evenepoel mit Meriten aus Spanien-Rundfahrt und Weltmeisterschaften. Erstmals seit 2020, als er die Tour am vorletzten Tag gegen Poga­car verlor, wird Primoz Roglic – sofern nichts dazwischenkommt – als unumstrittener Team-Kapitän zur Großen Schleife antreten und das Jugend-Trio herausfordern.

Dominatoren: Sie gilt es zu schlagen: Die Tour-Equipe von Jumbo-Visma mit Sieger Jonas Vingegaard.Foto: Getty ImagesDominatoren: Sie gilt es zu schlagen: Die Tour-Equipe von Jumbo-Visma mit Sieger Jonas Vingegaard.

“Das wird eine Mega-Tour. Die Konstella­tion ist total spannend und super für unseren Sport”, jubilierte Bora-Chef Ralph Denk, der dem wechselwilligen Slowenen offensichtlich das beste Angebot zum richtigen Zeitpunkt machen konnte – als Roglic mit der Fusionsidee seines Rennstalls mit Soudal - Quick Step möglicherweise zu fremdeln begann. Dieser Zusammenschluss hätte Vingegaard, Roglic und Vuelta-Sieger Sepp Kuss mit Evenepoel vereint. Die Aussichten des Slowenen auf eine unumschränkte Kapitänsrolle in Frankreich wären damit drastisch geschrumpft.

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Ralph Denk über Transfer von Primoz Roglic

Rückblickend schätzt Ralph Denk die Aussichten für seinen größten Transfer-Coup seit der Verpflichtung von Peter Sagan aber als gut ein – auch ohne die Gerüchte um die Fusion, die vor allem dem niederländischen Portal Wielerflits für ein paar Wochen weltweite Aufmerksamkeit bescherten. Er erläutert: “Ich glaube, die Chancen wären ähnlich gewesen. Primoz wollte sich einfach noch mal sicher auf die Tour de France fokussieren. Jumbo-Visma hat Vingegaard als zweimaligen Sieger. Verständlich, dass sie für ihn auch ein drittes und viertes Mal fahren. Deswegen dürfte der Wunsch von Primoz, Jumbo zu verlassen, nicht wirklich etwas mit den Fusionsgerüchten zu tun haben.”

Budgets im Profi-Radsport

Die Gerüchte beschleunigten aber sicherlich die Verhandlungen. Dass Roglic nicht zu Ineos Grenadiers ging, dem dominierenden Team der vergangenen Dekade, sondern zu Bora-Hansgrohe, belegt veränderte Kräfteverhältnisse. Der britische Rennstall mit dem höchsten Budget (circa 50 Millionen Euro pro Jahr) zieht nicht mehr automatisch die besten Fahrer an. Geld allein gewinnt eben auch keine Rennen. UAE Team Emirates belegt nach der Saison 2023 zwar Platz eins in der Team-Rangliste der UCI und verfügt mit etwa 35 Millionen Euro über das zweithöchste Budget der World-Tour-Teams. Die wichtigsten Rennen aber gewann Jumbo-Visma, deren geschätztes Budget rund 25 bis 30 Millionen Euro beträgt. Dass nicht nur Geld alleine über den Erfolg entscheidet, ist ein gutes Zeichen für den Sport – auch wenn die abgelaufene Saison deutlich macht, dass Teams mit Jahresetats von deutlich weniger als 20 Millionen Euro wenig Chancen auf Siege haben. Sie haben es damit auch schwer, ihren Sponsoren gute Werbereichweiten zu offerieren, was die Finanzierung stark erschwert. Das Gesamtgebilde Profiradsport auf der Straße bleibt auch 2024 eine fragile Angelegenheit.

Grenzen des Wachstums: die Teams

Die Rennställe sind das Rückgrat des Straßenradsports. Sie sind zugleich dessen Achillesferse; da sie, anders als etwa im Fußball, nicht an TV-Geldern und Lizenzgebühren partizipieren, sondern allein auf die Zahlungsfähig- und -willigkeit ihrer Sponsoren angewiesen sind, variieren die Budgets extrem, sind selten langfristig gesichert und ungleich verteilt. Konsequenzen daraus zeigten sich vor allem während des Herbstes in Form von wilden Fusions-Planspielen und Lizenzrückgabe-Szenarien. Jumbo-Visma, das erfolgreichste Team der Saison, schien zu befürchten, nicht mehr auf dem gleichen Niveau weitermachen zu können. “Sie sind auf eine Mauer geprallt, weil sie zu viel Erfolg hatten, weil die Ausgaben, die sie dafür tätigten, auf dem Sponsorenmarkt nicht mehr reinzuholen waren. Deshalb versuchten sie es mit der Fusion”, analysiert ­Jonathan Vaughters, Rennstallchef von EF Education EasyPost. Wachsen durch Zusammenschluss, weil Wachstum durch Sponsoren nicht mehr realistisch schien?

Teure Rennfahrer

In die Zwangslage geriet Jumbo-Visma allerdings auch durch den Anstieg der Fahrergehälter. Zwar fahren die Krösusse des Profizirkus in anderen Teams – Tadej Pogacar mit 6 Millionen Euro bei UAE Team Emirates, Chris Froome mit 5,5 Millionen Euro bei Israel-Premier Tech, Remco Evenepoel mit etwa 4 Millionen bei Soudal - Quick Step. Bei Jumbo-Visma (2024 unter dem Namen Visma | Lease a Bike) bekommt Wout van Aert jährlich 2,2 Millionen Euro. Roglic’ Gehalt soll bei drei Millionen gelegen haben. Dass Vingegaard bei seiner jüngsten Vertragsverlängerung unter den Teamkollegen blieb, ist kaum anzunehmen. Und auch bei Sepp Kuss musste das Management nach dem Vuelta-Sieg sicher eine Schippe drauflegen.

Allerdings findet das Rennen nach immer höheren Gagen zunehmend Kritiker. Chefs mittelgroßer Rennställe wie Vaughters oder Ralph Denk plädieren schon länger für Budget-Obergrenzen im Bereich von 20 bis 30 Millionen Euro. Das soll zu mehr Chancengerechtigkeit führen.

Verstärkt hat sich vor allem Bora-Hansgrohe mit Primoz Roglic. Jumbo-Visma zieht Talente aus dem eigenen Nachwuchs hoch in die World-­Tour-Equipe, UAE Team Emirates hat Talente eingekauft. Soudal - Quick Step verpflichtete für die Grand-Tour-Ambitionen ihres Solitärs Evenepoel den früheren Giro-­Dritten und Tour-Vierten Mikel Landa (von Bahrain-Victorious) sowie den tempoharten und bergfesten Gianni Moscon (bisher Team Astana).

Transferbilanz

Großer Verlierer bei den Transfers ist Ineos Grenadiers. Eine ganze Reihe solider Rundfahrer wurde abgegeben: Der frühere Giro-Sieger Tao Geoghegan Hart an Lidl-Trek, Daniel Martinez wechselt zu Bora, Pavel Sivakov verstärkt UAE Team Emirates, und das 22 Jahre alte britische Rundfahrt-Talent Ben Tulett heuert ausgerechnet beim Erzrivalen Jumbo-Visma an. Auf die freien Plätze rückten indes keine Neuzugänge, die sofort um Podiumsplätze bei großen Rundfahrten kämpfen können. Das Team muss sich weiterhin auf den inzwischen 37-jährigen Geraint Thomas und den Rekonvaleszenten Egan Bernal stützen. Letzterer war auch in der abgelaufenen Saison noch weit von seinem früheren Niveau entfernt, auf dem er 2019 die Tour de France und 2021 den Giro gewann, bevor er bei einem schweren Unfall im Training Anfang 2022 beinahe ums Leben gekommen wäre. Der Mangel an Erfolgen bei Rennen und bei der Zusammenstellung des Teams dürfte das Hauptmotiv für die recht brüske Trennung von Teammanager Rod Ellingworth sein.



Auf der Gewinnerseite befindet sich hingegen die mit Petro-­Dollars finanzierte Mannschaft Jayco-AlUla. Die australische Equipe verstärkte ihre ohnehin schon starke Sprinterfraktion um Dylan Groenewegen und Michael Matthews noch mit Caleb Ewan (von Lotto-Dstny) und Max Walscheid (bisher Cofidis). Dagegen nimmt sich der Versuch von dsm-firmenich-PostNL geradezu bescheiden aus, mit Neuzugang Fabio Jakobsen wieder in die Sprint-Finals eingreifen zu können – dabei hat das niederländische Team um den deutschen Road Captain John ­Degenkolb Siege bitter nötig. Laut UCI-Teamranking liegt der Rennstall derzeit auf dem 18. und damit letzten Platz, der Ende 2025 eine neue World-Tour-Lizenz garantiert. Momentan abgestiegen aus der Top-Kategorie sind Astana und Arkea-B&B Hotels.



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