Es sind die kleinen Momente, die einen daran erinnern, dass Egan Bernal eigentlich einer der besten Radprofis im Sport ist. Einen solchen Moment gab es unter anderem beim Auftakt der Katalonien-Rundfahrt zu sehen. Mit einem kurzen Antritt vor dem letzten Zwischensprint kam Bernal Über-Fahrer Tadej Pogacar zuvor und sicherte sich die drei Sekunden Zeitbonifikation. Eine Aktion im Stil eines Topfahrers – und dieser ist Bernal zweifellos.
Was er allerdings auch ist: Jemand, den das Pech seit Jahren an die Hand genommen hat. Das gab es ebenfalls zum Auftakt in Katalonien festzustellen. Auf der ansteigenden Zielgeraden kam es zum Sturz, Bernal war darin verwickelt. Prellungen und Schürfwunden waren das Resultat. Nichts Wildes. Und trotzdem weitere Narben am Körper und Schläge aufs Gemüt.
Wobei für Bernal in erster Stelle gilt: Dass der 27-Jährige überhaupt noch am Leben ist und Rad fährt, ist sein größtes Glück. Im Januar 2022 prallte Bernal im Training mit dem Zeitfahrrad auf einen stehenden Bus. Er zog sich 20 Knochenbrüche zu, darunter elf Rippen, einen Oberschenkel, eine Kniescheibe und Teile des zweiten Halswirbels. Beide Lungenflügel waren verletzt. Bernal entging nur knapp einer Querschnittslähmung. “Mein erstes Ziel war es, wieder gut laufen und ein normales Leben führen zu können”, sagte Bernal einst. Der Unfall hat seine Karriere in zwei Teile zerschnitten: die erfolgreiche Zeit davor sowie die Rehabilitation als Radprofi danach.
Seitdem sucht die Radsportwelt nach den kleinsten Anzeichen für den alten Bernal, den Fahrer, der zwei Grand-Tour-Siege einfuhr. Das Vorjahr, in dem der Kolumbianer wieder eine komplette Saison bestritt, erwies sich als ergebnismäßig wenig aufschlussreich. Bernal bewegte sich zumeist anonym durch die Rennen, auch wenn er mit der Tour de France und der Vuelta a Espana zwei große Landesrundfahrten bestritt, was zweifellos wichtig für seine Rennhärte war. In dieser Saison sind die positiven Tendenzen jedoch unverkennbar.
Fast überschwänglich wirkten zu Jahresbeginn Aussagen von Bernal in der kolumbianischen Zeitung Ciclismo Colombiano, nach dem er die nationale Straßenmeisterschaft auf Platz drei beendet hatte. “Ich hatte im Rennen nostalgische Gefühle, weil ich mich wie der Egan von früher fühlte. Es war mir egal, ob ich im Anstieg abgehängt werde, ich bin einfach drauflos gefahren – so bin ich früher Rennen gefahren, ohne Angst, und so habe ich mich wieder gefühlt”, gab es dort von Bernal zu lesen.
Es folgte Gesamtrang drei bei der viertägigen Rundfahrt O Gran Camino sowie Rang sieben bei Paris-Nizza. Und auch bei der Katalonien-Rundfahrt setzte sich der Aufwärtstrend trotz frühen Sturzes fort, Bernal landete auf Gesamtrang drei – sein erstes Podium bei einem World-Tour-Event seit drei Jahren. Nicht immer fuhr er konstant an der Spitze mit, landete jedoch auf der entscheidenden Königsetappe auf Platz zwei. “Ich habe das eigentlich nicht erwartet”, sagte Bernal hinterher. “Ich bin einfach glücklich und wirklich motiviert, jetzt weiterzuarbeiten.”
Ist Bernal also demnächst wieder ein Mann für die großen Siege? Die Kluft zu seinen früheren Leistungen und Erfolgen scheint zumindest noch immer groß. Denn bis zu seinem Unfall galt Bernal als bester Klassementfahrer der Welt und stand bei Rundfahrten regelmäßig ganz oben – unter anderem mit 22 Jahren 2019 bei der Tour de France. Es war sein erster Grand-Tour-Sieg, die Experten dichteten aber bereits mehrere dazu – schließlich war Bernal auserkoren, eine Ära zu prägen. 2021 gewann er ebenfalls den Giro d’Italia.
Allerdings war Bernals Karriere schon damals kein steiler Höhenflug, sondern von Rückschlägen geprägt: Brüche am Schulterblatt und Schlüsselbein bei der Katalonien-Rundfahrt 2018, Hirnblutung und ausgeschlagene Zähne bei der Clasica San Sebastian im selben Jahr, 2019 brach er sich im Frühjahr ein weiteres Mal das Schlüsselbein. Ein Jahr später musste er die Tour de France aufgrund von Knie- und Rückenproblemen aufgeben, es folgte eine längere Pause. Es ist nicht zu weit hergeholt, wenn man behauptet, Bernal hat mehr Tage in Behandlung als bei Renneinsätzen verbracht.
Aus all diesen Tiefphasen kam Bernal bislang stets zurück, physisch und mental. Eine Stärke, die ihm gewiss auch nach seinem folgenreichen Unfall im Januar 2022 geholfen hat. Zusätzlich gab es für ihn den frühen Tour-Sieg zu verarbeiten. “Ich hatte die Tour mit 22 Jahren gewonnen und wusste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Es war der Traum aller, es war wie - was nun?”, so Bernal einst. Ein Motivationsloch, dann die Rückenprobleme, ein Mix aus Zweifeln und Schmerzen. Erst mit dem Giro-Sieg 2021 fand er aus diesem Tal heraus. Er kennt diesen Weg also.
Womöglich ist der Bernal von 2019 und 2021 aber ohnehin der falsche Maßstab. Der Radsport hat sich seitdem enorm verändert, die prognostizierte Bernal-Ära wurde von Pogacar übernommen, die Tour de France befindet sich in fester Hand von Jonas Vingegaard. Hinzu kommen Ausnahmetalente wie Remco Evenepoel oder Juan Ayuso. Auf diesem Niveau zu konkurrieren, ist eine riesige Herausforderung – selbst für den Bernal früherer Jahre. Das bekam der Kolumbianer ebenfalls bei der Katalonien-Rundfahrt aufgezeigt, als er auf der Königsetappe Pogacar ziehen lassen musste. “Tadej ist auf einem anderen Level. Deshalb habe ich gar nicht erst versucht, ihm zu folgen”, so Bernal hinterher.
Für den Kolumbianer bleibt die Erkenntnis: Er ist wieder im oberen Bereich in den Ergebnislisten angelangt – das ist mehr, als ihn viele nach seinem schweren Unfall je zugetraut haben. Außerdem hat er die Zeit auf seiner Seite. Beides ist ein immenser Gewinn für den Kopf. Mit immer noch jungen 27 Jahren ist Bernal nur zwei Jahre älter als Pogacar, was oft übersehen wird.
Ob er künftig wieder eine Grand Tour gewinnen kann, darüber wird die weitere Saison erste Anzeichen geben, wenn Bernal bei der Tour oder der Vuelta am Start ist – und nach aktueller Lage womöglich sogar Ineos’ beste Option als Kapitän ist. Es wäre die endgültige Bewährungsprobe, wo er leistungsmäßig steht. Aber auch ohne weiteren Grand-Tour-Sieg steht Bernal ein erfolgreicher zweiter Karriereabschnitt offen – sei es bei Klassikern, kürzeren Rundfahrten oder durch Etappensiege. Sein Talent ist zumindest nicht verloren gegangen, das haben die ersten Saisonwochen 2024 gezeigt.
“Ich wache jeden Tag mit dem Gedanken auf, wieder auf mein bestes Niveau zu gelangen”, sagte Bernal im Vorjahr und fügte an: “Sollte das nicht mehr möglich sein, würde ich meine Karriere beenden.” Davon scheint er aktuell allerdings weit entfernt.