Sebastian Lindner
· 22.10.2024
Rigoberto Uran ist ein Star. In Europa wird er kaum als solcher wahrgenommen. Selbst auf dem Höhepunkt seiner Karriere Mitte der 2010er Jahre war das nicht so. Doch 2,6 Millionen Follower auf Instagram sprechen ihre eigene Sprache. Da kommt kein Mathieu van der Poel (1,2 Millionen) heran, kein Wout Van Aert (1,1) und auch kein Tadej Pogacar (2,0). Kurz gesagt: kein anderer Radprofi. Und auch kein anderer Radprofi kann von sich behaupten, dass sein Leben als Telenovela verfilmt wurde.
Im vergangenen Herbst begann die Ausstrahlung von 99 Folgen “Rigo”, demnächst könnte sie sogar mit dem wichtigsten internationalen Fernsehpreis Emmy ausgezeichnet werden. Als die Serie über die kolumbianischen TV-Geräte flimmerte, hatte Uran noch nicht mal das Ende seiner Karriere verkündet. Das tat er dieses Jahr im Februar, nachdem er seine Heimatrundfahrt Tour Colombia als Vierter beendet hatte.
Uran war da gerade in seine 19. Saison als Radprofi gestartet. 2006 hatte er als 18-Jähriger den für Südamerikaner großen Schritt über den Atlantik nach Europa gewagt. Das kleine italienische Team Tenax nahm ihn auf, mit Marlon Perez hatte er dort einen Mann aus seiner Heimat an der Seite. Uran fasste schnell Fuß und zog im Jahr darauf bereits weiter zum Pro Team Unibet, womit er bereits auf der höchsten Ebene des Radsports angelangt war.
Auch dort klappte es auf Anhieb. Bei der heute nicht mehr existierenden Euskal Bizikleta (2.HC) durch das Baskenland gewann er ein Zeitfahren, zwei Wochen später eine Etappe der Tour de Suisse. Der Mann, der das alles möglich gemacht hatte, erlebte diese Erfolge allerdings nicht mehr. Sein Vater hatte Rigoberto Uran mit 14 Jahren zum Radsport gebracht. Heute ein gefeierter Volkssport, hatten Fabio Parra in den 1980er Jahren mit Etappensiegen bei der Tour de France und Luis Alberto Herrera mit dem Gewinn der Vuelta Espana den Stein so richtig ins Rollen gebracht, um die Jahrtausendwende war es dann Santiago Botero aus Medellin - unweit von Urans Heimatgemeinde Urrao im kolumbianischen Hochland geboren - der mit dem Gewinn des Bergtrikots bei der Tour oder dem WM-Titel im Zeitfahren die Begeisterung schürte.
Doch Urans Vater wurde von einer paramilitärischen Gruppe getötet, drei Monate nachdem er den Sohn mit dem Radsportvirus infiziert hatte. Um seine Familie zu unterstützen, übernahm Uran den Job des Vaters und verkaufte parallel zu Schule und Training Lottoscheine. Zwei Jahre später machte er beim kolumbianischen Team den ersten Schritt auf dem Weg zum Profi. Doch weil er mit 16 Jahren noch zu jung war, um den Vertrag beim 1993 gegründeten und noch heute existierenden kolumbianischen Conti-Team Orgullo Paisa zu unterschreiben, lief das Papier offiziell über seine Mutter.
Der schnelle Weg nach oben von Rigoberto Uran in Europa machte alles ein wenig einfacher. Dabei hätte alles auch relativ schnell wieder vorbei sein können. Denn bei der Deutschland-Rundfahrt 2007 stürzte er schwer, landete in einem Bach und brach sich beide Ellenbogen und ein Handgelenk. Die Saison war beendet, die Zeit bei Unibet auch. Doch zuvor hatte er bereits Caisse d’Epargne - den Vorgänger von Movistar - und damit das größte spanische Team auf sich aufmerksam gemacht. Er unterschrieb für 2008 und blieb für drei Jahre.
Einen Sieg konnte Uran in dieser Zeit nicht einfahren. Doch als Erster über eine Ziellinie zu fahren blieb dem Kolumbianer ohnehin nur selten vergönnt. Zeit seiner Karriere schaffte er das für einen Fahrer seiner Klasse vergleichsweise nur seltene 14 Mal. Immerhin zählen dazu vier Etappensiege bei Grand Tours. Zwei beim Giro d’Italia und jeweils einer bei der Tour und der Vuelta a Espana lassen Uran zum Kreise derer zählen, die bei allen drei großen Landesrundfahrten erfolgreich waren. 101 Fahrer haben das bisher in der Geschichte dieser drei Rennen geschafft. Ansonsten sticht nur noch ein Sieg beim Grand Prix de Quebec heraus.
Viel mehr in Erinnerung bleiben dagegen die Rennen, die Uran nicht gewonnen hat und als Zweiter beendet hat. Etwa das olympische Straßenrennen von 2012. Gemeinsam mit dem 38 Jahre alten Alexandre Vinokourov hatte sich der Kolumbianer sieben Kilometer vor dem Ziel aus der Spitzengruppe gelöst. Beide hatten auf der Zielgeraden einen sicheren Vorsprung. An der 300-Meter-Marke ging Uran nochmal auf Nummer sicher, schaute sich über die linke Schulter nach den Verfolgern um. Vinokourov nutzte den Moment und attackierte auf der anderen Seite. Bis der 25-Jährige realisiert hatte, was passiert war, war die Lücken zum Kasachen zu groß.
Nachdem er Gold verschlafen hatte, schielte er auf dem Podium sehnsüchtig auf die Medaille seines Bezwingers. Im Nachgang musste er sich noch anhören, den Sieg an Vinokourov verkauft zu haben - zu amateurhaft wirkten der Blick über die falsche Schulter und der folgende Schlenker in die falsche Richtung, nachdem er kurz zuvor noch die richtige Seite gewählt hatte. Uran schickte diese Sichtweise ins Reich der Sagen, mit bedachten Worten und ohne Kritik an seinen Kritikern. Immer war er Sportsmann, vor allem in den bittersten Momenten seiner Karriere.
2011 war Uran zum Team Sky gewechselt. Auch dort brauchte er zunächst etwas Anlauf, bis 2012 Rang sieben beim Giro d’Italia sein erstes Top-10-Resultat bei einer Grand Tour wurde, inklusive des Gewinns der Nachwuchswertung. Die Kapitänsrolle hatte er sich mit seinem Landsmann Sergio Henao geteilt. Ein Jahr später beim gleichen Rennen übernahm er das Amt, nachdem der eigentliche Chef Bradley Wiggins nach der 12. Etappe aussteigen musste. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits seine erste Etappe gewonnen, 20 Sekunden vor einem weiteren Kolumbianer, Carlos Betancur. Die Rundfahrt beendete her nach einem sehr konstanten Auftritt als Zweiter hinter dem überragenden Vincenzo Nibali.
Uran hatte damit bewiesen, dass er das Potenzial zum großen Rundfahrer hatte. Neue Ambitionen, neue Ansprüche, neues Team: Für 2014 unterschrieb er bei Omega Pharma - Quick Step. Zum Giro reiste er als unumstrittener Kapitän und auch als einer der Favoriten auf den Gesamtsieg, zumal Nibali in diesem Jahr nicht am Start stand. Und es sah gut aus für Uran, der mit seinem Sieg im bergigen Zeitfahren der 12. Etappe ins Rosa Trikot sprang. Bis zur Königsetappe auf dem 16. Teilstück sollte das auch so bleiben. Auf der ging es zunächst über den Gavia, dann das Stilfser Joch und zu guter Letzt hoch ins Martelltal. Doch bei widrigen Bedingungen mit Schneefall wurden vor allem die Abfahrten zum Problem. Runter vom Stelvio schickten die Organisatoren dem Feld Motorräder mit roten Fahnen voraus. Als Neutralisation der Abfahrt wollte das bei Veranstalter RCS hinterher aber keiner verstanden wissen. Im Gegensatz zum Großteil der Fahrer und Mannschaften, zu denen auch Uran gehörte. Klare Kommunikation fehlte, es herrschte Chaos.
Ein anderer Kolumbianer nutzte dieses zu seinem Vorteil. Der 24 Jahre alte Nairo Quintana hatte eine kleine Gruppe um sich gescharrt und sich auf der letztlich nicht neutralisierten Abfahrt einen großen Vorsprung herausgefahren. Neben dem Tagessieg fuhr er ins Rosa Trikot und machte aus 2:40 Minuten Rückstand in der Gesamtwertung auf Uran einen Vorsprung von 1:41 Minuten - die Basis für den Gewinn des Giros. Während Urans Team ohne Ende zeterte, verlor der Profi selbst kein böses Wort. Auch bis heute nicht.
Nachdem 2015 für den Rundfahrer Uran nicht nach Plan lief und er kein Top-10-Resultat bei den Grand Tours abliefern konnte, endete seine Zeit bei Quick-Step. Auch wenn sein neues Team noch mehrere Namensänderungen mitmachte: Für Uran war der Wechsel zu Cannondale zur Saison 2016 der letzte seiner Karriere als Radsportler. Ohne dabei zu glänzen, beendete er den Giro als Siebenter, das Jahr später zum dritten Mal als Dritter der Lombardei-Rundfahrt.
Im folgenden Jahr rückte sein Fokus nach vielen Jahren Giro erstmals auf die Tour de France. Cannondale stellte Uran ein starkes Team an die Seite. Der Kolumbianer startete solide und konnte auf der 9. Etappe im Sprint einer kleinen Gruppe seinen ersten Sieg in Frankreich feiern. Dabei fuhr Uran im Finale mit einem defekten Schaltwerk und zunächst sah es auch so aus, als müsste er sich wieder einmal mit dem zweiten Platz zufriedengeben, nachdem Warren Barguil am Zielstrich jubelnd die Arme nach oben riss. Das Zielfoto jedoch machte Uran zum Sieger.
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In der Gesamtwertung musste er sich nach 21 Etappen dann aber doch wieder geschlagen geben, Chris Froome feierte seinen dritten Sieg in Serie. Doch Uran kam dem Briten so nahe wie sonst keiner bei dessen Toursiegen, hielt den Rückstand unter einer Minute.
Und so ging der Südamerikaner, der spätestens nach seinem ersten Podium in Frankreich zum Volkshelden aufgestiegen war, als einer der Favoriten in die Frankreich-Rundfahrt für 2018. Von seiner wilden Mähne, die ihm in den Jahren zuvor den Spitznamen Mick Jagger eingebracht hatte, war nichts mehr zu sehen.
Glück brachte ihm die neue Frisur aber auch nicht. Nach einer guten ersten Woche, die ihn abgesehen vom späteren Sieger Geraint Thomas vor allen anderen GC-Aspiranten sah, stürzte er und musste in dessen Folge zunächst große Zeitverluste hinnehmen und schließlich aufgeben. Mit nur einem Renntag nach der Tour flog Uran zur Vuelta und wurde dort Siebenter. Inklusive der Tour 2019, die er ebenfalls auf diesem Platz beendete, blieb es für den Rest seiner Karriere sein bestes Ergebnis bei den Dreiwöchigen. Zwar fuhr Uran bis einschließlich 2022 jedes Jahr noch einmal in die Top 10 von Tour oder Vuelta, doch für ganz nach vorne sollte es nicht mehr reichen.
Zur Saison 2023 rückte Uran zurück ins zweite Glied und gab den Edelhelfer für einen weiteren Südamerikaner, Richard Carapaz. Mehr und mehr übernahm der inzwischen 36-Jährige, der 2022 mit einem Vuelta-Etappensieg zum letzten Mal aufs Podium kletterte, die Mentoren-Rolle. Anfang der laufenden Saison kündigte er sein Karriereende für den Herbst an. Die Vuelta sollte sein letztes Rennen werden. Und sie wurde es, nur musste er das Rennen unter den denkbar unglücklichsten Umständen beenden. Uran stürzte auf der 6. Etappe, brach sich das Becken und beendete seine Karriere, die er als eines der Aushängeschilder der goldenen kolumbianischen Radsport-Generation um Quintana und Egan Bernal begann, im Krankenhaus.
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Auch das nahm Uran mit Gelassenheit hin. 19 Jahre lang konnte ihn nichts aus der Ruhe bringen, dann auch nicht ein Ende mit Schrecken. Zumal es nur das Ende seiner ersten sportlichen Karriere sein soll. Denn er strebt eine zweite an. Rigoberto Uran will Fußballprofi werden. “Fast 23 Jahre lang war es mein Ziel, aufzustehen, zu frühstücken und Fahrrad zu fahren. Damit wird dann endlich bald Schluss sein”, sagte er noch im Februar gegenüber Medien in seiner Heimat, als er das Ende seiner Zeit im Peloton ankündigte.
Jetzt ergänzte er in einem ausführlichen Interview: “Es ist verrückt, aber mein Ziel ist Profifußball. Ich habe nichts zu verlieren, probiere gerne Dinge aus. Wahrscheinlich bin ich auf dem Holzweg, aber das ist ein unerfüllter Traum.” Sollte Uran tatsächlich noch mal die Fußballschuhe für einen Profiverein schnüren - was aufgrund seiner Popularität in der Heimat zumindest bei einem kolumbianischen Klub keineswegs aussichtslos ist - wäre er nicht der erste Radprofi, der das Metier wechseln würde. Auch Oscar Pereiro, nach der nachträglichen Disqualifikation von Floyd Landis zum Überraschungs-Toursieger 2006 erklärt, unterschrieb 2010 im Alter von 33 Jahren nochmal einen Vertrag bei einem Verein in Spaniens dritter Liga.