Der spektakulärste Teamwechsel zur Saison 2026 bislang ist ohne Zweifel der von Remco Evenepoel zu Red Bull - BORA - hansgrohe, an die Seite des aufstrebenden Jung-Stars und Tour-de-France-Dritten Florian Lipowitz. Dass der Belgier, getrieben von brennendem Ehrgeiz und seinen eigenen Erwartungen, sich zum Kreis der potenziellen Tour-de-France-Sieger zählt, ist kein Geheimnis. Ob und wie das zu den Ambitionen und Fähigkeiten von Florian Lipowitz passt, muss die – in Teilen neu aufgestellte – Sportliche Leitung des Teams klären. Und: Dann ist da ja auch noch der demnächst 36 Jahre alte Primož Roglič, dessen Vertrag dem Vernehmen nach Ende 2025 ausläuft.
Viele Beobachter reagierten allerdings verwundert auf die Nachricht von Evenepoels Wechsel. Angesichts des Ausstiegs von Rolf Aldag als Sportdirektor, zwei Tage nach Ende der Tour de France und mit sofortiger Wirkung, verstärkt sich der Eindruck, dass nicht alle Personen in der Teamleitung mit der Personalpolitik von Teamchef Ralph Denk einverstanden sind. Im Schatten des Aldag-Ausstiegs verabschiedete sich zudem auch noch der langjährige Sportliche Leiter Enrico Gasparotto mit sofortiger Wirkung. Dafür heuerte – ebenfalls mit sofortiger Wirkung – der Belgier Sven Vanthourenhout bei Denks Team an, langjähriger Wegbegleiter und -bereiter von Remco Evenepoel.
Die jüngsten Rochaden lenken das Augenmerk darauf, dass die Personalwechsel bei Red Bull - BORA - hansgrohe schon öfter Anlass zu Rätselraten gaben. In den zurückliegenden zehn Jahren verpflichtete das Team aus dem bayerischen Raubling 78 neue Profis und gab 61 ab. Was im ersten Moment nach einer enormen Fluktuation klingt, unterscheidet sich aber nicht wesentlich von den Gepflogenheiten anderer World-Tour-Teams. Hier die prominentesten Zu- und Abgänge der vergangenen zehn Jahre von 2015 bis 2025 im Überblick.
2015 befand sich das Team noch im Aufbau und Ralph Denk verpflichtete gleich acht neue Fahrer für die Saison, wobei der Fokus noch auf deutschen bzw. österreichischen Profis lag. Unter anderem schlüpften Phil Bauhaus, Emanuel Buchmann, Patrick Konrad, Dominik Nerz, Christoph Pfingsten und Björn Thurau neu ins Bora-Trikot. Letzterer verließ das Team zum Saisonende bereits wieder, beendete seine Karriere 2019 und sah sich in der Folge mit Dopingvorwürfen aus den Jahren 2011 bis 2014 konfrontiert, die eine langjährige Sperre nach sich zogen.
Christoph Pfingsten empfahl sich als Allrounder und zuverlässiger Helfer mit ordentlichen Platzierungen und blieb bis 2019, bevor sein Vertrag nicht mehr verlängert wurde und er zum Team Visma wechselte.
Der hochveranlagte Dominik Nerz kam als potenzieller Kapitän für die Grand Tours zu Bora, beendete seine Karriere aber schon 2016 nach zahlreichen gesundheitlichen Problemen, auch als Folge diverser Stürze. 2019 verarbeitete er seine Erfahrungen aus dem Profisport in dem Buch „Gestürzt“. Darin schildert er auch, wie er aufgrund von Leistungsdruck und eigenen Erwartungen in eine lebensbedrohliche Magersucht abrutschte. Zwischen den Zeilen kann man herauslesen, dass das Umfeld im Team Bora nicht dazu angetan war, den sensiblen Athleten aufzufangen und behutsam aufzubauen.
Phil Bauhaus verließ Bora nach zwei Jahren wieder und entwickelte sich bei anderen Teams zu einem geschätzten Sprinter und Sprinthelfer, unter anderem bei Sunweb und vor allem bei Bahrain - Victorious. Der Österreicher Patrick Konrad blieb bis 2023 bei Bora und bewährte sich als kletterstarker Allrounder und loyaler Helfer.
Bekanntester Zugang aus jenem Jahr war Emanuel Buchmann. Der wortkarge Allgäuer errang mit Platz vier bei der Tour de France 2019 den bis dahin größten Erfolg für das Team Bora bei einer Grand Tour. Anknüpfen konnte er an diesen Erfolg nicht mehr. Nach der – ihm zufolge – nicht eingehaltenen Zusage für einen Start beim Giro d’Italia 2024 verließ er die Mannschaft Ende vergangenen Jahres im Unfrieden und versucht im reifen Rennfahreralter von 32 Jahren beim französischen Team Cofidis einen Neuanfang.
2017 erfolgte der bis dahin größte Umbau des Teams mit 13 Neuzugängen. Der prominenteste war Peter Sagan. Er kam als Weltmeister der Jahre 2015 und 2016 sowie als mehrfacher Etappensieger und Gewinner des Grünen Trikots der Tour de France. Damit war der Anspruch von Ralph Denk, in der Liga der Top-Teams mitspielen zu wollen, öffentlichkeitswirksam dokumentiert – und mit dem dritten Weltmeistertitel in seinem ersten Jahr bei Bora machte Sagan seine Verpflichtung zum gelungenen Coup für Ralph Denk.
Anders die Verpflichtung des Polen Rafal Majka. Der damals 28-Jährige kam als Etappensieger der Tour de France in den Jahren 2014 und 2015 sowie als Gewinner des gepunkteten Trikots des Bergbesten 2014 und 2016. Die Erwartung, für das Team Bora in die Top-Ten der Tour de France fahren zu können, erfülle sich indes nicht. 2017 konnte Majka die Tour nicht beenden, 2019 errang er jeweils Platz sechs bei Giro und Vuelta, blieb aber ansonsten oft unter dem Radar. Bei der Tour kam er über Platz 14 im Jahr 2023 nicht hinaus – da fuhr er aber schon im dritten Jahr für UAE Team Emirates.
Zwei weitere Neuzugänge waren aus deutscher Sicht interessant. Der damals 23-jährige Pascal Ackermann kam als Sprint-Talent zu Bora. Er konnte die in ihn gesetzten Erwartungen aber eher selten erfüllen, was zweifellos auch daran lag, dass er in Peter Sagan einen – wenn nicht den – seinerzeit weltbesten Sprinter vor der Nase hatte. 2019 und 2020 gewann er je zwei Etappen beim Giro bzw. bei der Vuelta. Nach der Saison 2021 verließ er das Team, auch deswegen, weil er für das Tour-de-France-Aufgebot nie berücksichtigt worden war. Dennoch musste er noch bis 2024 warten, bevor er im schon vorgerückten Rennfahreralter von 30 Jahren für sein aktuelles Team Israel - Premier Tech zum ersten Mal an der Tour de France teilnehmen durfte.
Der zweite Deutsche, der 2017 zu Bora kam, war Marcus Burghardt. Er war zu dem Zeitpunkt allerdings schon 34 Jahre alt und reüssierte bis zu seinem Karriereende 2021 als zuverlässiger Allrounder und Helfer.
Im Jahr 2019 war neben drei weiteren Neu- bzw. Wiederverpflichtungen der prominenteste Neuzugang Maximilian Schachmann. Der Berliner gilt als vielseitig, er kann gut klettern und ist ein starker Zeitfahrer. Aus seiner Zeit bei Bora ragen die beiden Siege bei Paris-Nizza heraus (2020 und 2021) sowie Etappensiege bei der Katalonien-Rundfahrt (2019), ein zweiter Platz bei der Algarve-Rundfahrt (2020) sowie Platz drei beim Frühjahrsklassiker Lüttich-Bastogne-Lüttich (2019). Die Jahre 2022 und 2023 waren geprägt von Stürzen, Verletzungen und gesundheitlichen Problemen. 2024 lief es wieder besser, zur Saison 2025 wechselte Schachmann aber zurück zum Team Soudal Quick-Step, wo er 2017 seine Profi-Karriere begonnen hatte.
Der nächste deutsche Hoffnungsträger kam 2020 zur Mannschaft von Ralph Denk. Und Lennard Kämna feierte einen gelungenen Einstand: Er gewann je eine Etappe beim Critérium du Dauphiné und bei der Tour de France. Der kletterstarke Allrounder fügte seiner Erfolgsliste 2022 und 2023 Etappensiege beim Giro d’Italia sowie bei der Vuelta a España hinzu und zählt damit zur erlesenen Riege von Radprofis, die bei allen drei großen Landesrundfahrten Etappen gewinnen konnten. Anfang 2024 wurde Kämna im Trainingscamp auf Teneriffa in einen Unfall mit einem Auto verwickelt. In der Folge stockten die Verhandlungen mit Ralph Denk über eine Vertragsverlängerung und Kämna gewann nach eigener Aussage den Eindruck, in den Planungen des Teams keine Rolle mehr zu spielen. Inzwischen fährt Kämna für das Team Lidl - Trek.
Aus der Liste der Neuzugänge für die Saison 2021 ragen zwei Namen heraus: Nils Politt und der Niederländer Wilco Keldermann. Letzterer kam mit der Empfehlung von Platz drei beim Giro d’Italia 2020 und galt als weiterer Hoffnungsträger, um Ralph Denks Traum von einer Top-Platzierung bei einer Grand Tour zu erfüllen. Doch das Konstrukt schien ein Missverständnis, nach nur zwei Jahren ohne nennenswerte Ergebnisse verließ Keldermann das Team wieder. Nils Politt hingegen fügte sich zunächst perfekt ins Bora-Konzept: Er gewann 2021 eine Etappe der Tour de France sowie eine Etappe und die Gesamtwertung der Deutschland Tour. 2022 bewies er seine Fähigkeiten als Klassikerspezialist mit seinem Sieg bei Rund um Köln.
In der Folge aber schien Politt bei Bora keine Perspektive mehr zu sehen. Erfolge blieben aus und 2024 wechselte der gebürtige Kölner zu UAE Team Emirates. Dort avancierte er in kurzer Zeit zu einem der wichtigsten und profiliertesten Helfer in Tadej Pogačars Tour-de-France-Mannschaft.
2022, im Jahr eins nach dem Weggang von Peter Sagan, erlebte die Mannschaft mit elf Neuzugängen den zweitgrößten Umbruch in den zehn Jahren seit 2015. Besondere Aufmerksamkeit erregte der Wechsel von Cian Uijtdebroeks. Der damals erst 19-jährige Belgier kam aus dem eigenen Nachwuchs (Team Auto Eder) und galt als überragendes Talent, was er durch zwei Etappensiege und den Gesamtsieg bei der Tour de l’Avenir 2022 bestätigte, die als Tour de France der Nachwuchsfahrer gilt. Schon 2023 mischten sich allerdings kritische Untertöne in die Aussagen des Top-Talents über das Team Bora; es mehrten sich die Hinweise, dass er die Denk-Equipe unter allen Umständen verlassen wollte, weil er seine Ansprüche an seine künftige Rolle in der Mannschaft nicht erfüllt sah. Letztlich endete der Vertragspoker in einer Schlammschlacht; seit 2024 steht Uijtdebroeks bei Visma-Lease a Bike unter Vertrag.
Als deutlich unspektakulärer, aber im Ergebnis entschieden wertvoller, erwies sich die Verpflichtung des Australiers Jai Hindley. Der damals 26-Jährige kam, sah – und gewann den Giro d’Italia: der von Ralph Denk so lange ersehnte erste Sieg bei einer Grand Tour für das Team Bora. Indes: Mit Ausnahme eines Etappensieges bei der Tour de France 2023 ist Hindley seither nicht mehr allzu viel gelungen.
Der dritte prominente Neuzugang zur Saison 2022 brachte Tema Bora und seinem Chef Ralph Denk nicht den erhofften Erfolg. Der Russe Aleksandr Vlasov wurde als kommender Mann für das Gesamtklassement einer Grand Tour eingekauft, konnte diesem Anspruch aber nicht gerecht werden. Sein Sieg bei der Tour de Romandie 2022 nährte die Hoffnung auf künftige Erfolge noch einige Zeit, aber außer einem Etappensieg bei Paris-Nizza sowie Platz zwei bei der Tour de Romandie in diesem Frühjahr ist Vlasov wenig in Erscheinung getreten. Bei der Tour de France in diesem Jahr, in der das Team Red Bull - BORA - hansgrohe insgesamt keine besonders gute Figur machte (den Auftritt von Florian Lipowitz einmal ausgenommen), wirkte der 29 Jahre alte Russe außer Form und indisponiert.
2023 fand Florian Lipowitz Aufnahme in den World-Tour-Kader – zu seinen Erfolgen und Fähigkeiten ist an anderer Stelle schon ausführlich berichtet worden. Es wird spannend sein zu beobachten, wie seine weitere Entwicklung von statten geht, wie die – in Teilen neue – Teamleitung ihn fördert – und wie die Ko-Existenz mit Remco Evenepoel die künftige Ausrichtung des Teams beeinflusst.
Im Jahr 2024 schließlich holte Ralph Denk in Primož Roglič den – neben Peter Sagan – bislang erfolgreichsten und vermutlich auch teuersten Profi in der Geschichte des Teams. Der hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine glänzende und gut gefüllte Palmarès vorzuweisen, unter anderem je zwei Siege bei der Tour de Romandie, der Katalonien-Rundfahrt, dem Critérium du Dauphine, der Baskenland-Rundfahrt sowie Tirreno-Adriatico, dazu den Gesamtsieg beim Giro d’Italia 2023 sowie drei Gesamtsiege bei der Spanien-Rundfahrt (2019, 2020 und 2021).
Man könnte auch sagen: Roglič hatte eigentlich schon alles gewonnen – außer der Tour de France, und das sollte er 2024 angehen. Nach einem Sturz auf der zwölften Etappe musste er das Rennen allerdings verletzungsbedingt aufgeben. Im August hielt er sich mit seinem insgesamt vierten Sieg bei der Spanien-Rundfahrt einigermaßen schadlos und bescherte seinem Teamchef damit nach dem Giro-Erfolg von Jai Hindley den zweiten Sieg bei einer Grand Tour.
Immer wieder musste sich der Teamchef in der Vergangenheit anhören, dass er an Rennfahrern, die seine Erwartungen nicht erfüllen, relativ schnell das Interesse verliert und sie in den Tiefen des Kaders versauern lässt. Der Vertrag des bald 36 Jahre alten Primož Roglič läuft Ende des Jahre aus. Hat der Slowene seine Schuldigkeit getan – und kann gehen, wie so viele vor ihm?
Gesamtsiege bei Giro d’Italia und Vuelta a España – das ist mehr, als die meisten anderen World-Tour-Teams nach zum Teil jahrzehntelanger Zugehörigkeit zum Radsport-Oberhaus vorweisen können. Indes: Der Anspruch von Ralph Denk ist ein anderer, der Tour-Sieg sein erklärtes Ziel und Leitschnur. Es wird spannend zu beobachten sein, wie der Teamchef den arrivierten Star Evenepoel einsetzt - und wie den aufstrebenden Florian Lipowitz. Der bald 25 Jahre alte Schwabe hat erst eine Tour de France absolviert - aber es gibt nicht wenige Beobachter, die Lipowitz für den geeigneteren der beiden Top-Rennfahrer halten, wenn es darum geht, bei der Tour um das Gelbe Trikot zu kämpfen. Dass der extrem vielseitige Evenepoel sich dem unterordnet, ist, Stand heute, schwer vorstellbar.