Dröhnende Stille70 Jahre Radrennbahn Bielefeld

Thomas Musch

 · 03.08.2023

Schnelle Piste: Die Kurven der Bahn sind bis zu 46 Grad steil
Foto: Andreas Dobslaff
Am 14. Juni vor 70 Jahren erlebte die Radrennbahn Bielefeld ihren ersten Renntag. Die Ära der Steher- und Dernyrennen stand in voller Blüte, 15.000 Zuschauer füllten die Ränge bis auf den letzten Platz. Heute steht die imposante Anlage unter Denkmalschutz, aber noch immer drehen Radsportler jeglicher Couleur ihre Runden auf dem Betonoval. Besuch eines Monuments.

Von leeren Rennstrecken geht eine eigenartige Faszination aus. Auch wenn sie still und verlassen liegen, meint man das Dröhnen der Motoren zu hören und den Geruch von verbranntem Gummi und Benzin zu riechen. Radsport ist zwar an sich eine lautlose Fortbewegung, aber über dem Betonoval der Radrennbahn in Bielefeld meint man auch das Brummen von Motoren zu hören. Was daran liegen mag, dass diese Rennbahn in den 1950er-Jahren auch und besonders als Bühne für die damals populären Steher- und Dernyrennen gebaut wurde, bei denen tollkühne Radrennfahrer in aberwitzigem Tempo im Windschatten von Motorrädern oder Mopeds über die 333,33 Meter lange Bahn jagten. Sichtbar wird ihre Bestimmung noch heute an den hohen und mit 46 Grad Neigung extrem steilen Kurven.

Sven Harter kennt die Bahn seit Jahrzehnten als Rennfahrer. 1988 wurde er gemeinsam mit seinem Partner Christian Dippel Deutscher Steher-Meister der Amateure. Noch heute zieht die Faszination des Stehersports den inzwischen 60-Jährigen auf die Bahn in Bielefeld, die er so beschreibt: “Sie ist alt, sie ist lang, auf Steherrennen ausgerichtet und man kann richtig schnell darauf fahren.” Und er fügt an: “Ich bin darauf schon 115 km/h gefahren.”

Radrennbahn Bielefeld: Neue Rennbahn in der Wirtschaftswunderzeit

Wenn es stimmt, dass der Sport immer auch ein Spiegel der Gesellschaft ist, reflektieren Entstehung und Geschichte der Bielefelder Bahn die Wünsche und Neigungen der Menschen nach dem Krieg geradezu idealtypisch. Schon 1946 machten sich Mitglieder des RC Zugvogel Bielefeld daran, ihren Traum einer neuen Radrennbahn Wirklichkeit werden zu lassen. Der Wunsch war stark, die Schrecken und Entbehrungen des Krieges hinter sich zu lassen und Neues zu schaffen. Die Menschen sehnten sich nach Zerstreuung und Ablenkung und danach, sich als Zuschauer wieder einer, wenn man so will, “unschuldigen” Begeisterung hingeben zu können, Sportlern zuzujubeln, deren Wettkampf friedlich blieb und deren famose Leistungen und Schneid man guten Gewissens zu Heldentaten verklären durfte. Den Entwurf zur neuen Rennbahn steuerte Clemens Schürmann aus Münster bei, dessen Architekturbüro in Münster schon damals spezialisiert auf Radrennbahnen war und bis heute Anlagen in der ganzen Welt konzipiert, darunter die Olympiabahnen von Barcelona, Seoul und Peking. Doch die Arbeiten mussten bald wieder eingestellt werden; die Stadt Bielefeld hatte ihre Verkehrsplanung geändert, das zugesagte Grundstück stand nicht mehr zur Verfügung, Ärger und Enttäuschung insbesondere im Radsportverein waren groß.

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Gebaut auf 41.000 Kubikmetern Kriegsschutt

Es dauerte einige Jahre, bevor der RC einen neuen Anlauf unternehmen konnte. 1950 beschloss der Stadtrat, den Bau einer Rennbahn im Naherholungsgebiet In den Heeper Fichten im Osten der Stadt zu genehmigen. Eine Rolle mag dabei auch gespielt haben, dass die Stadt Bielefeld als Standort der Fahrradindustrie mit traditionsreichen Marken wie Dürkopp und Rabeneick ihr Image als Fahrradstadt pflegen wollte. Wieder steuerte Architekt Clemens Schürmann den Entwurf bei und nun sollte die Anlage tatsächlich Gestalt annehmen. Im Oktober 1950 erfolgte der erste Spatenstich. Es entstand, gegründet auf mehr als 41.000 Kubikmetern Kriegsschutt, ein bautechnisches Meisterwerk – und das fast ausschließlich in Handarbeit. Der Innenraum wurde abgesenkt, die Bahn aus Spannbeton fugenlos gegossen; die Tribünen thronten sechs Meter darüber und umschlossen die Bahn mit 9.000 Steh- und 6.000 Sitzplätzen. Galoppierende Baukosten kannte man auch damals schon. Aus dem bewilligten Etat von 350.000 D-Mark wurden am Ende mehr als 600.000 D-Mark. Die Hoffnung der Stadtverwaltung, die örtliche Fahrradindustrie würde zur Finanzierung der Anlage beitragen, erfüllte sich leider nicht.



Als am 14. Juni 1953 der erste Startschuss fiel, dürfte das kaum jemanden gestört haben. Die Zuschauerränge waren bis auf den letzten Platz besetzt, die örtliche Prominenz gab sich die Ehre, auch der Architekt Clemens Schümann begutachtete das Werk. Bis Ende des Jahres hatten schon 50.000 Menschen die Rennen auf der neuen Bahn besucht, die zu der Zeit als schnellste und modernste Rennpiste in ganz Europa gelten konnte.

Radrennbahn Bielefeld: Publikumsmagnet Steherrennen

In den Jahren danach waren insbesondere die Steherrennen ein Publikumsmagnet. Die Zuschauer strömten zu Zehntausenden in die Arena und staunten über die Rekorde. Beim Steherrennen 1960 steigerte der Dortmunder Rennfahrer Karlheinz Marsell die Durchschnittsgeschwindigkeit über eine Stunde auf 76,6 km/h. Auch mit Motorrädern wurden spektakuläre Rennen gefahren und Rekorde aufgestellt, das schnellste Rennen wurde mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 122,5 km/h absolviert.

Jedoch: Die Erfolge der Anfangsjahre konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Radrennbahn der Stadt nie die erhofften Einnahmen bringen würde, um die Investition wieder einzuspielen. Dem allgemeinen Trend zur Motorisierung hatten die Bielefelder Fahrradfirmen wenig entgegenzusetzen, als Sponsoren fielen sie weitgehend aus. Lokale Radsportgrößen, welche die Zuschauer in die Arena gelockt hätten, fehlten, der Stehersport verlor insgesamt zunehmend an Interesse. Die Versuche, andere Sportarten anzulocken und Veranstaltungen im Innenraum der Radrennbahn auf die Beine zu stellen, erzeugten bei Reitturnieren, Feldhockey, Boxkämpfen und Konzerten immer wieder sehenswerte Bilder und unterhaltsame Nachrichten, trugen zur Wirtschaftlichkeit aber eher wenig bei.

Es ist in erster Linie dem RC Zugvogel, dem Förderverein und vielen anderen Radsportvereinen aus der Region zu verdanken, dass nach schwierigen Jahren immer noch auf der Bahn trainiert wird und Rennen gefahren werden. Heute ist die Bahn sogar Sportstätte und Denkmal in einem. 2010 schlug die AG Radrennbahn vor, das Bauwerk unter Denkmalschutz zu stellen und war damit bei der zuständigen Denkmalbehörde in Münster erfolgreich. Seither ist die Radrennbahn ein geschütztes Denkmal: als Symbol für die einstige Fahrradhochburg Bielefeld, als bautechnische Meisterleistung und als Werk des Münsteraner Architekturbüros Schürmann. Seit Juni 2014 setzt sich zudem ein Förderverein für den Erhalt der Rennbahn ein. Längst haben auch die Stadtoberen erkannt, dass die Rennbahn ganz wesentlich dazu beiträgt, den Namen Bielefelds in der Region und darüber hinaus ins Gespräch zu bringen. Entsprechend engagiert kümmert sich die Stadtverwaltung um den Erhalt des Architektur-Denkmals. “Die lokale Politik steht dahinter”, sagt Gerhard Dirkschnieder vom Förderverein und erzählt: “Nach unserer Jubiläumsveranstaltung wurde ein Riss in der Fahrbahn festgestellt; der wurde von Seiten der Stadt umgehend repariert.”

Faszination Rennbahn

Im Jahr ihres 70-jährigen Bestehens präsentiert sich die “Betonschüssel” also sehr lebendig, das Endlosband wird fleißig befahren. Dazu gehören beispielsweise die Sommerbahnmeisterschaft der Lizenzsportler ab Mai, das Bahnfahren für Einsteiger, die Open Track Days, die sich an die Fixie-Szene richten, und selbstverständlich die Steherrennen.

Das Fahren auf einer Freiluftbahn dieser Dimension ist faszinierend. Die Betonfahrbahn, die von außen betrachtet so ebenmäßig erscheint, ist rauh und rissig, immer wieder greifen Wellen und kleine Buckel in den Lenker. Wind wird zum besonderen Vergnügen, wenn er in die eine Richtung schiebt und eine halbe Runde später mächtig bremst. Schaut man als Hobbysportler in eine der Steilkurven hinauf, ist einem schleierhaft, wie man dort oben, fast sieben Meter über dem Boden, mit dem Rad entlangfahren soll. “Man muss schnell sein”, sagt Gerhard Dirkschnieder vom Förderverein, der selbst auch gerne und regelmäßig auf die Bahn geht, “mindestens 50 km/h sollte man drauf haben. Und mutig muss man sein. Ich mache es nicht.”

Dass die Rennbahn auch Radlern ohne motorisierten Windschatten Fahrspaß vermittelt, liegt am berühmten “Steher-Knick”: Das untere bzw. innere Drittel der Fahrbahn ist in der Neigung den Tempi der klassischen Bahnradsportler angepasst, darüber nimmt die Kurvenneigung drastisch zu, damit die hohen Geschwindigkeiten der Rennfahrer hinter Motorrädern überhaupt erst möglich werden.

Adrenalin-Kick und Freiheitsgefühl

Für Sven Harter und auch dessen Sohn Luca gehört es zum Selbstverständlichsten, was man auf einem Rennrad machen kann – vorzugsweise im Windschatten eines der 750er-Triumph-Motorräder der Bielefelder Rennbahn. “Es ist absolut faszinierend, mit mehreren Gespannen um die Bahn zu kreisen, mit 80 bis 90 km/h, manchmal an die 100 ran”, sagt der 20-jährige Luca Harter, “das Gefühl der Geschwindigkeit, die Konzentration, das ist etwas Besonderes. Man ist sich der Gefahr schon auch bewusst, aber das ist Teil der Fasznation.” Er hat die Begeisterung für den Steher-Sport zwar nicht mit der Muttermilch aufgesogen ­– “meine Mutter hat neulich nach längerer Zeit mal wieder zugesehen. Sie meinte, ob ich eigentlich verrückt sei” –, aber in Vaters Windschatten war es quasi unausweichlich. “Die Bahn war über viele Jahre so etwas wie ein Lebensmittelpunkt”, erzählt Harter senior, der den Bund Deutscher Radfahrer mehrfach bei Steher-Weltmeisterschaften repräsentiert hat und heute im normalen Leben eine Kindertagesstätte leitet. Für einige Jahre war er – der Rennbahn wegen – sogar nach Bielefeld gezogen. Was ihn, auch mit 60 Jahren, immer noch in den Sattel seiner Stehermaschine klettern lässt, beschreibt er so: “Es ist ein unglaubliches Freiheitsgefühl, je schneller man fahren kann, ein richtiger Adrenalin-Kick.“ Und fügt lachend an: Den habe ich auf dem normalen Rad am Berg leider nicht.”

Damit auch weiterhin Bahnrad- und Steherrennen auf der Betonpiste stattfinden können, steht aber größerer Sanierungsaufwand ins Haus: “In den nächsten drei bis fünf Jahren müssen werden für den Erhalt des Denkmals wohl rund 1,5 Millionen Euro erforderlich sein”, so die Einschätzung von Gerhard Dirkschnieder, der hofft, dass sich die Summe auftreiben lässt. Schließlich ist die Bahn zwar einerseits “nur” ein Denkmal, aber andererseits auch das Rückgrat des Bahnradsports in der Region, für den Nachwuchs, die Lizenzsportler und nicht zuletzt für die Jedermannsportler.

Die nächsten Veranstaltungen auf der Radrennbahn Bielefeld

12. August 2023
Internationaler Steher-Cup und Landesmeisterschaft Bahn NRW

10. September 2023
Tag des offenen Denkmals
An dem Tag gibt’s keine Rennen aber viel Hintergründe, Führungen, Ausstellungen, einen Dokumentarfilm und Bewirtung

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