Andreas Kublik
· 13.09.2025
Nur Fliegen sei schöner, so heißt es. Und für Clara Koppenburg hat sich Radfahren wie Fliegen angefühlt. So erinnert sie sich zumindest an ihre erfolgreichste Zeit. „Ich bin die Berge hochgeflogen“, so formuliert sie es. Es war die Zeit, als aus dem Radsport-Talent aus dem badischen Lörrach eine Überfliegerin wurde, die damals als stärkste Kletterspezialistin im deutschen Radsport galt. Es begann 2018 – sichtbar bei der Weltmeisterschaft in Innsbruck, wo sie das sehr bergige Straßenrennen der Frauen erst offensiv mitgestaltete und dann als beste Deutsche auf Rang 18 abschloss. Aus einer Helferin war eine Leaderin, eine Kapitänin geworden – eine, die auf ihr eigenes Ergebnis fahren durfte, die sichtbar war.
Das machte Lust auf mehr. Sie wurde noch erfolgreicher. Zu Beginn der folgenden Saison, im Februar 2019, gewann sie beim spanischen Etappenrennen Setmana Valenciana die Bergankunft auf dem Xoret de Cati mit deutlichem Vorsprung und später auch die Gesamtwertung. Es folgte das erfolgreichste Jahr Koppenburgs – mit vielen Topplatzierungen. Die Radsportlerin hatte damals, 23 Jahre alt, den Schlüssel zum Erfolg gefunden: das Gewicht. Je leichter sie war, desto schneller und erfolgreicher war sie. Jetzt ist Koppenburg 30. Und sie weiß nicht, wie es weitergeht. Die Erfolge sind verblichen. Fürs Jahr 2026 hat sie keinen Vertrag als Radprofi in Aussicht. "Ich habe den wichtigsten Kampf gewonnen - aber manchmal fühlt es sich trotzdem wie eine Niederlage an“, schrieb sie jüngst auf Instagram und machte öffentlich, worüber sie bislang nur mit Vertrauten und innerhalb ihrer Teams gesprochen hatte: das Ringen mit sich selbst, ihre Essstörung, ihre Fixierung auf den Radsport. Sie war erfolgreich, in anderem Sinne. Sie fühlt sich jetzt wieder gesund. Sie blickt jetzt anders auf den Radsport - unter anderem auch als Expertin bei Übertragungen der ARD.
Längst ist der Radsportlerin bewusst geworden, dass sie zwar erfolgreich, aber dennoch auf dem falschen Weg, der Preis für die Erfolge zu hoch war. „Das einzige, was mir wichtig war: gut im Sport zu sein. Alles andere hab ich komplett ausgeblendet. Mir war es total egal, dass ich meine Periode verloren habe. Ich dachte sogar, ich sei deshalb eine noch bessere Athletin”, erzählt sie von der Clara, die irgendwie nicht mehr Clara war. Wenn sie heute die Bilder aus ihrer erfolgreichsten Zeit sieht, löst das in ihrer immer noch schlechte Gefühle aus – es hätte schlimmer ausgehen können: “Es hätte sein können, dass ich nie in der Lage gewesen wäre, eine Familie zu gründen, hätte mir alle sozialen und familiären Kontakte zerstören können“, betont sie. Sie spricht nun öffentlich über ihre Probleme, ihr viel zu niedriges und damit ungesundes Gewicht in den Jahren mit den besten Ergebnissen. Sie will andere warnen. „Ich habe meinen Körper bis an die Grenzen gebracht. Und ich flog die Berge hinauf. Aber ich war nicht gesund. Ich war nicht glücklich. Ich war nicht ich selbst“, schrieb sie in ihrem Instagram-Post. Von vormals 53 Kilogramm Idealgewicht (schon das wäre bei Normalbürgerinnen Untergewicht) reduzierte sich ihr Gewicht auf bis zu 46 Kilogramm in Rennform, während privater Krisen wie einem schweren Unfall ihrer Mutter Kerstin magerte sie auf 43 Kilogramm ab. Bei 1,70 Meter Körpergröße. Solches Untergewicht ist gefährlich. Es kommt zu einem Nährstoffmangel. Der Hormonhaushalt kippt. Das Ausbleiben der Monatsblutung bei Frauen ist ein Frühwarnzeichen. Körper und Seele werden anfällig für Infekte und Stress. Die Knochendichte lässt nach – die Gefahr von Brüchen steigt.
Koppenburg selbst spricht von REDs (Abkürzung für Relative Energy Deficiency in Sport), dem Fachbegriff für das Syndrom, wenn Sportler im Verhältnis zu ihrem sehr hohen Energiebedarf, vor allem durch intensives Training, schlicht zu wenig Energie, sprich Nahrung, aufnehmen. In vielen Sportarten ist das Gewicht ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg: beim Sportklettern, beim Skispringen, beim Bergauffahren im Radsport. Trotz Warnungen des eigenen Vaters Andreas Gösele-Koppenburg, der als Sportarzt die Schweizer Olympiamannschaft und mehrere Profi-Teams betreut hat: Clara Koppenburg trainierte hart und aß im Verhältnis zu wenig. Sie achtete zuhause am elterlichen Esstisch auf vergleichsweise kleine Portionen, aß während des Trainings absichtlich nichts und nahm alles an Bewegung und körperlicher Belastung mit, was ging – sie fuhr eben die 20 Kilometer zur Massage auch noch mit dem Rad. Und nahm so Kilo für Kilo ab. Mit spürbaren Folgen. Die Zahlen in den Ergebnislisten waren eine Weile lang super, ihre Verfassung war es bald nicht mehr. Sechs Jahre lang hatte die junge Frau keine Periode. Die Sportlerin erinnert sich ungerne an die Folgen ihres Raubbaus am Körper: Zwei Beckenbrüche in zwei aufeinanderfolgenden Jahren (2021 und 2022) beim Giro d’Italia, viele Krankenhaus- und Reha-Aufenthalte, extreme Schlafstörungen, die Sorgen der Eltern angesichts der abgemagerten Tochter, die kritischen Blicke und Bemerkungen der Rennfahrerkolleginnen, der Kampf mit den eigenen Zweifeln und Ängsten – auch davor, keine Kinder kriegen zu können.
Vier Jahre lang, von 2019 bis 2022, fand Koppenburg keinen Ausweg aus ihrer Krise. Nun glaubt sie erfolgreich gewesen zu sein, sie hat eine Art Wohlfühlgewicht, sie hat wieder ihre Tage. Sie ist auf dem Weg, den sie für den richtigen hält – aber sie weiß nicht, wo er hinführen wird. Die Diskussionen um das sichtbar stark reduzierte Gewicht von Berufskolleginnen wie der Tour-de-France-Siegerin Pauline Ferrand-Prévot brachten das Thema jüngst weltweit und vernehmbar auf die Agenda. Und machten Koppenburg Mut, an die Öffentlichkeit zu gehen. Es war höchste Zeit, glaubt sie. „Es liegt seit Jahren wie ein Schatten über unserem Sport“ – so formulierte es Koppenburg, die das Problem mit dem ungesunden Gewichtstuning öffentlich gemacht hat. Auch um junge Sportlerinnen und Sportler aufmerksam zu machen und zu warnen. “Es war für mich einfach wichtig, mir das von der Seele zu reden”, sagt sie rückblickend über ihren Post und betont, wie erfreut sie war, wieviel Zuspruch sie auf ihr Outing erhalten hat.
Koppenburg ist nicht allein mit ihrem Problem. Irgendwo zwischen 25 und 50 Prozent, so schätzen Insider, liegt die Quote von Frauen im Spitzenradsport, die keine Regelblutung haben – mutmaßlich aufgrund von zu wenig Energie oder niedriger Energieverfügbarkeit „Das kann ein Frühwarnzeichen für einen Energiemangel sein, der sich in REDs manifestieren kann”, sagt Katharina Fischer, die am IAT in Leipzig in einer Forschungsgruppe rund um das Themengebiet Frauen im Leistungssport arbeitet und selbst Bundestrainerin für die Radsport-Juniorinnen war. Jüngst dominierte die 20-jährige Kanadierin Isabella Holmgren die Tour de l’Avenir, die Tour de France der Nachwuchsfahrerinnen unter 23 Jahren. Ein rasanter Aufstieg der U23-Weltmeisterin auf dem Mountainbike. Unter dem Gelben Trikot sah man ihren abgemagerten Körper. Bilder, die Koppenburg Sorge machen und diese an ihr eigenes Aussehen vor wenigen Jahren erinnern. „Es ist problematisch, wenn eine extreme dünne Sportlerin gewinnt. Das sind keine guten Vorbilder“, sagt Fischer beim Blick auf Fotos von Holmgren. Sie betont, dass das Problem bei den Männern gleichermaßen existiert. Wenn auch mit anderen Symptomen.
„Wichtig ist, dass wir in diesem Bereich weiter sensibilisieren und enttabuisieren, Fachpersonal und Funktionäre geschult werden, Expert*innen unterstützen und all diese Maßnahmen dazu führen, dass Athlet*innen Signale früher erkennen und den Mut fassen, offen darüber zu sprechen“, schreibt die Pressestelle von Athleten Deutschland (unabhängige Vertretung der Kaderathlet*innen in Deutschland; Anm. de. Red.) auf Anfrage. Koppenburg hat vieles davon getan - man sollte meinen, sie habe alles richtig gemacht. „Ich bin sehr frustriert“, sagt die Athletin selbst zu ihrer aktuellen Situation. Ihr Vertrag beim Team Cofidis läuft zum Jahresende aus, ihre Bewerbungen bei anderen Rennställen blieben ergebnislos.
Clara Koppenburg ist ihren Weg gegangen, sie hat Lob bekommen, weil sie jetzt wieder gesund aussieht. Aber rund um ihren 30. Geburtstag Anfang August flog sie nicht die Berge hoch, sondern kämpfte bei der Tour de France Femmes in den Bergen mit der Angst vor dem Zeitlimit. „Es fühlt sich an, als wäre ich mit 16 Wasserflaschen im Trikot unterwegs“ – so beschreibt sie das Mehrgewicht, das sie nun bergauf schleppt. Ihr Körper muss noch vieles verarbeiten. Als es zuletzt um neue Verträge ging, habe sie vom Arbeitgeber Zuspruch bekommen, der ihr irgendwie nicht weiterhilft. “Wir sind super stolz auf dich, du gehst den richtigen Weg, mach’ genau weiter so. Du brauchst mindestens zwei bis drei Jahre Zeit, aber wir haben diese Zeit nicht”, so zitiert sie aus den Gesprächen. Zusammengefasst: Sie steht vor der Arbeitslosigkeit als Radprofi. Es klingt nach einem Teufelskreis.
Clara Koppenburg sucht jetzt erst einmal als Individualistin neue Herausforderungen, will sich bei beim Sea-Otter-Festival in Girona und dem Gravel Burn in Südafrika erstmals in Gravel-Wettkämpfen versuchen. “Ich habe mit dem Radsport auf gar keinen Fall abgeschlossen, dafür liebe ich ihn zu sehr”, betont Koppenburg. Was ist ihr Ziel? “Ich möchte es sowohl mir als auch der ganzen Radszene beweisen, dass ich nicht nur gut war, weil ich so dünn war, und jetzt schlecht bin, weil ich zu viel auf den Rippen habe oder normal bin. Sondern weil ich hart dafür arbeite, Talent habe und mental stark genug bin.” Der Kampf geht weiter.