Die Euphorie war groß, als der UCI-Kongress im September 2021 Ruanda zum Ausrichterland der Straßenrad-Weltmeisterschaften 2025 erklärte. UCI-Präsident David Lappartient sprach von einem historischen Ereignis, der ersten Rad-WM auf dem afrikanischen Kontinent in der mehr als hundertjährigen Geschichte des Weltverbands. Und auch jetzt noch sind viele Kenner des afrikanischen Radsports voller Vorfreude auf das Event. „Ich glaube, das wird einfach einmalig, gerade mit den Menschenmassen und der Begeisterung. Ein Sportevent in so einem Land. Ich meine, wann gibt es denn so was?“, ruft Jens Zemke aus, Nationaltrainer von German Cycling im Gespräch mit TOUR. Zemke war einige Jahre lang Sportlicher Leiter beim afrikanischen Rennstall MTN-Qhubeka und hat viel mit Profis aus Afrika gearbeitet.
Zum Kader gehörte damals auch Adrien Niyonshuti. Er war der erste Radprofi aus Ruanda, nahm auch an Olympischen Spielen teil. Nach seiner aktiven Karriere baute er eine Radsportakademie in Ruanda auf. Wegen Querelen mit dem dortigen Verband verlegte er ausgerechnet nach der WM-Vergabe sein Ausbildungszentrum allerdings nach Benin. Dennoch kehrt er nun voller Erwartungen mit Benins Nationalteam in sein Heimatland zurück. „Es ist einfach eine großartige Gelegenheit für den afrikanischen Kontinent“, schwärmt er. „Ich denke auch, Ruanda wird zeigen, dass es so ein Sportereignis ausrichten kann. Und vielleicht komme später noch andere Länder aus Afrika an die Reihe, Marokko oder Algerien zum Beispiel, oder auch Benin“, blickt er in die Zukunft.
Rein sportlich und wirtschaftlich gesehen stellt Ruanda tatsächlich eine interessante Wahl dar. Das Land hat sich nach dem Genozid 1994 wirtschaftlich und infrastrukturell gut entwickelt. Die Wirtschaft wächst robust, mit 8,4 Prozent im vergangenen Jahr laut Weltbank. Und Paul Kagame, der einst als Milizenführer den Genozid beendete und seit nunmehr 25 Jahren als Präsident regiert, nutzt länger schon den Sport als Vehikel für internationale Anerkennung. Im Fußball mit dem Sponsoring unter anderem von FC Arsenal, Paris St. Germain und Bayern München. 2023 war Ruanda Gastgeber des FIFA-Kongresses, inklusive Händeschütteln zwischen Kagame und FIFA-Boss Gianni Infantino. Kagame bemühte sich zuletzt auch darum, ein Formel-1-Rennen auf einem Parcours gleich neben dem Flughafen von Kigali ausrichten zu können. Und ein Sprecher des Sportministeriums erklärte im vergangenen Jahr, dass Ruanda perspektivisch anstrebe, Olympische Spiele und Weltmeisterschaften im Fußball ausrichten zu wollen.
Radsport hat in Ruanda besondere Tradition. Man trifft immer wieder auf junge Männer, die auf schweren Eingangrädern als Fahrradtaxifahrer Menschen und Güter transportieren. Die Tour de Rwanda, seit 2001 jährlich ausgetragen, ist ein Zuschauermagnet. Und bei der internationalen Bikepacking-Szene ist das 1.000 Kilometer lange Race Around Rwanda sehr beliebt.
Dennoch bleibt der Weg in den Radsport als Leistungssport schwierig. Aus Fahrradtaxifahrern werden nicht sofort Leistungssportler. „Die Muskulatur ist durch die Arbeit mit den schweren Lastenrädern ganz anders ausgeprägt. Man muss den jungen Fahrern auch erst beibringen, wie sie mit den Gangschaltungen umgehen, wie sie essen und wie sie trainieren sollen. Oft bringen sie die Geduld dafür nicht auf und steigen früh wieder aus“, hat Niyonshuti beobachtet.
Auch insgesamt stagniert Afrikas Radsport im internationalen Vergleich. Neben Superstar Biniam Girmay, der im vergangenen Jahr das Grüne Trikot der Tour de France gewann, kam niemand so richtig hoch, trotz eines großen Talentereservoirs. Niyonshuti macht dafür infrastrukturelle Mängel verantwortlich, fehlendes Geld und vor allem einen eher kargen Wettkampfkalender. Afrikakenner Jens Zemke sieht zusätzlich den seit einigen Jahren grassierenden Jugendwahn als Ursache: „Jetzt ist es eine Modeerscheinung, dass schon die 14- bis 16-Jährigen gescoutet werden. Die werden dann in den verschiedenen Juniorenteams beobachtet und gefördert, steigen mit 19 in die Development-Teams ein mit der Aussicht, zwei Jahre später Profi zu werden oder auch schon mit 19 oder 20 Jahren ein Profiprogramm zu fahren.“ In diesen Genuss kommen dann aber vornehmlich europäische Fahrer. Nach Afrika kommen die meisten Talent-Scouts wegen des größeren Aufwands nicht, hat Zemke beobachtet. Ob die in diesem Jahr in Ruanda eröffnete Filiale des World Cycling Centers der UCI daran etwas ändern kann, wird die Zukunft zeigen.
Der Qualifikationsmodus der UCI trägt auch dazu bei, dass zumindest im Straßenrennen der Männer nur wenige Teilnehmer aus afrikanischen Ländern an den Start gehen können. Gastgeber Ruanda hat immerhin sechs Startplätze zugesprochen bekommen, wie auch Eritrea als 19. der Nationenwertung. Weil Afrika-Meister Henok Mulubrhan ebenfalls aus Eritrea stammt, kann Afrikas Radsportnation Nummer eins sogar sieben Fahrer an den Start bringen. Ansonsten haben nur noch Algerien, Südafrika und Mauritius je einen Startplatz über das Nationenranking ergattert.
Bei Eritrea ist ungewiss, ob Superstar Biniam Girmay überhaupt zum Rennen kommt. „Natürlich ist die WM ein Meilenstein für den afrikanischen Radsport. Aber der Kurs ist für afrikanische Fahrer nicht sonderlich gut geeignet. Und ich selbst weiß auch nicht, ob ich überhaupt daran teilnehmen werde, denn die Strecke liegt jenseits meiner Möglichkeiten“, meinte der Eritreer. Niyonshuti sieht bestenfalls Altmeister Merhawi Kudus in der Lage, in die Top Ten zu kommen.
Allerdings scheinen auch die europäischen Fahrer nicht sonderlich erpicht auf die WM. Der Tour-Zweite Jonas Vingegaard und der Tour-Dritte Florian Lipowitz erklärten bereits ihren Verzicht. Dänemark und auch die Niederlande kommen nur mit einem Rumpfteam, lassen die Nachwuchsfahrer zu Hause. „Wir kommen ohne unsere U19- und U23-Aufgebote. Es macht finanziell einfach keinen Sinn, es würde uns 200.000 Euro extra kosten“, teilte Morten Bennekou, Head of Performance des dänischen Verbandes, TOUR auf Anfrage mit. Auch logistische Herausforderungen wie das Mieten von Fahrzeugen sowie die notwendigen Impfungen tragen zum Verzicht bei.
Aus politischen Gründen scheint indes niemand fernbleiben zu wollen. Dabei hatte noch im Februar das Europaparlament eine Rücknahme der WM-Vergabe gefordert, wenn Ruanda nicht seine Beteiligung am Krieg in der benachbarten Demokratischen Republik Kongo einstellt. Kagame bequemte sich danach immerhin an den Verhandlungstisch. „Der Friedensprozess in Doha stockt aber. Die Kämpfe gehen weiter, auch von Seiten der von Ruanda unterstützten Miliz M23. Zuletzt meldete die UN ein Massaker an 319 Menschen im Ost-Kongo“, berichtet die britische Afrika-Spezialistin Michela Wrong. Auf dem Militärfriedhof Kanombe, unweit der WM-Rennstrecke, könne man sehen, wie in den vergangenen Monaten die Anzahl der Gräber drastisch zunahm. „Es handelt sich dabei um ruandische Soldaten, die im Kongo umgekommen sind“, erklärt Wrong. Ein Gastgeber auf Friedenskurs ist Ruanda also nicht. Und auch im eigenen Land nimmt die Verfolgung weiter zu. Kagames langjährige politische Rivalin Victoire Ingabire wurde rechtzeitig zur WM mal wieder ins Gefängnis gesteckt. Der Vorwurf: Vorbereitung eines Aufstands. Wichtigstes Argument für die Festnahme: Ingabire soll mit Unterstützern das Buch „Blueprint for Revolution“ gelesen haben. Autor Srda Popovic stellt darin allerdings Methoden friedlichen Widerstands vor. Wer nach Ruanda fährt, sollte also aufpassen, welche Bücher im eigenen Gepäck stecken.