Der Titelverteidiger ist der Topfavorit: Tadej Pogačar, der fast immer gewinnt, wenn er am Start steht. Er ist aktuell der stärkste Bergfahrer. Ihm kommt entgegen, dass der Kurs der schwierigste seit der WM 1980 ist, als Bernard Hinault siegte. In jüngerer Vergangenheit wies allenfalls die Strecke rund um Innsbruck im Jahr 2018 vergleichbar viele Höhenmeter auf (siehe Strecken-Vorschau). Bei den Männern wird - anders als bei den Frauen - noch eine Zusatzschleife gefahren. Auf dieser geht es am Mount Kigali (1769 Meter) einen langen Anstieg hinauf: über 5,9 Kilometer müssen die Profis 6,8 Prozent Steigung erklettern. Gut 100 Kilometer vor dem Ziel dürfte hier das Finale eingeläutet werden, ehe es über das Steilstück “Mur de Kigali” wieder auf den Rundkurs zurückgeht.
Das Höhenprofil dürfte einige Ex-Weltmeister von einem Start abgehalten haben. Mathieu van der Poel, Weltmeister von 2023, beendete seine Saison nach der Mountainbike-WM in der Schweiz. Auch der sprintstarke Klassikerspezialist Mads Pedersen (Dänemark), WM-Sieger im Jahr 2019, ist nicht nach Afrika gereist. Für andere dürften neben den Höhenmetern die lange Anreise, das tropische Klima, die Höhenlage von Kigali oder die empfohlenen Impfungen Gründe für eine Absage gewesen sein. So wird auch Pedersens kletterstarker Landsmann, der Vuelta-Sieger Jonas Vingegaard (Dänemark), seinen ewigen Rivalen Pogačar nicht in Kigali herausfordern. Schade für die deutschen Fans: Florian Lipowitz wird ebenfalls nicht am Start stehen - der Dritte der Tour de France hatte frühzeitig abgesagt. Die WM-Favoriten im TOUR-Check.
***** Tadej Pogačar (Slowenien)
**** Remco Evenepoel (Belgien)
*** Isaac del Toro (Mexiko), Juan Ayuso (Spanien), Tom Pidcock (Großbritannien)
** Richard Carapaz (Ecuador), Giulio Ciccone (Italien), Jay Vine (Australien)
* - im erweiterten Kreis: Ben Healy (Irland), Julian Alaphilippe, Paul Seixas (beide Frankreich), Mattias Skjelmose (Dänemark), Quinn Simmons (USA)
* Je mehr Sterne eine Fahrerin erhält, desto höher sind ihre Chancen einzuschätzen
Wer gewinnt bei der Weltmeisterschaft? Gewinnt nicht einer immer alles? Tadej Pogačar war in den vergangenen Jahren kaum zu schlagen, speziell bei Kletterprüfungen, wie sie die Radprofis in Kigali erwartet. Der Titelverteidiger machte nach seinem Sieg bei der Tour de France eine lange rund sechswöchige Wettkampfpause, ehe er bei den beiden World-Tour-Rennen in Kanada Anfang September wieder ins Renngeschehen eingriff.
Seine starke Form bewies er beim Eintagesrennen GP Montreal in Kanada, als er den Sieg seinem Begleiter und Teamkollegen Brandon McNulty schenkte. Bei der jetzigen WM musste er einen Nackenschlag wegstecken, als ihn der spätere Weltmeister Remco Evenepoel, 2:30 Minuten später gestartet, kurz vor dem Ziel des Einzelzeitfahrens überholte. Nach der Tour war der Slowene nur zwei Rennen in Kanada gefahren und hatte nach eigenen Worten keine ausreichende Vorbereitung auf das Zeitfahren. Die Frage: Ob er tatsächlich in absoluter Topform am Start steht? Das slowenische Team kann in der Breite kaum mit den großen Radsportnationen mithalten - allerdings stehen im Aufgebot der kletterstarke Allrounder Primož Roglič und der ehemalige Mailand-San-Remo-Sieger Matej Mohoric. “Wir müssen klug und geduldig sein, aber auch bereit sein, zu attackieren. Tadej ist unser Anführer, aber bei einer WM reicht ein einziger Plan nicht”, sagt Sloweniens Nationalcoach Andrej Hauptman vor dem Rennen.
Sein großes Ziel für diese Saison, eine Top-Performance bei der Tour de France zu zeigen, erreichte er nicht. Remco Evenepoel stieg im Juli in Frankreich aus, er kam nicht in Tritt. Doch der Doppel-Olympiasieger 2024 ist zurück in der Erfolgsspur. Das bewies er im WM-Einzelzeitfahren, das er überlegen gewann. Dabei feierte er einen speziellen Triumph, als er im Schlussanstieg Tadej Pogačar überholte. Die Frage ist: Wie kann er den erwartbaren explosiven Antritten des Slowenen im Straßenrennen folgen? Und verträgt er die Höhenmeter besser als zuletzt bei der Tour? Das belgische Team ist weitgehend auf ihn ausgerichtet, in dem er auf seinen langjährigen Teamkollegen und Dritten der Zeitfahr-WM Ilan van Wilder setzen kann. Wout van Aert ist nicht Teil des Teams. Auch Routinier Tiesj Benoot sagte kurzfristig wegen einer Corona-Infektion ab.
Der Spanier machte bei der Vuelta Schlagzeilen: Es gab wieder einmal Ärger um das Klettertalent Juan Ayuso - seine Loyalität im Team ließ zu wünschen übrig. Was er kann, zeigte er bei zwei Etappensiegen aus Ausreißergruppen. Während der Vuelta hätte er Kapitän João Almeida zuarbeiten sollen, dazu verspürte er aber sichtbar keine besonders große Lust. Sein Team UAE trennte sich vorzeitig von ihm - von unterschiedlichen Zielen war die Rede. Zuvor hatte ihn beim Giro Teamkollege Isaac del Toro in der Teamhierarchie überflügelt. Während bei seinem Profi-Rennstall die Konkurrenten um Führungsrollen zahlreich waren, hat Ayuso bei der WM in Ruanda vom neuen spanischen Nationalcoach Alejandro Valverde die Leader-Rolle eindeutig zugesprochen gekriegt. Jetzt kann er zeigen, dass er Leistung so bringt, wie sie erwartet wird. An Selbstbewusstsein fehlt es nicht: “Ich sehe mich im Regenbogen-Trikot. Mit dem zweiten Platz werde ich nicht zufrieden sein”, ließ er vernehmen. Während der WM wurde der Wechsel zum neuen Arbeitgeber Lidl-Trek bekannt (Link). Immerhin: Es gibt im WM-Rennen keine Loyalitätskonflikte bezüglich Topfavorit Pogačar - die beiden erhalten bald ihr Gehalt von unterschiedlichen Teams.
Er ist vermutlich schon jetzt der stärkste Radprofi, den Mexiko je hatte: Isaac del Toro. Im Vergleich zum 21-jährigen Radprofi waren die Landsleute Raul Alcala (Tour-Etappensieger) und Julio Perez Cuapio (Giro-Etappensieger) Inselbegabungen im Hochgebirge. Der Radprofi, der sein Geld bei UAE Team Emirates an der Seite Pogačars verdient, ist der Shootingstar der Saison. Im zarten Profi-Alter hat er bereits 16 Profisiege auf seinem Konto. Beim Giro entriss ihm noch Simon Yates am letzten Anstieg den Gesamtsieg - aber der Mexikaner machte nachhaltig auf sich aufmerksam. Danach ging es weiter aufwärts: Der Schlaks ist kein reiner Rundfahrt- oder Klassikerspezialist. Zuletzt gewann er die Burgos-Rundfahrt, dann bei fünf Starts vier Eintagesrennen in Italien. Die Form stimmt. Der Mexikaner wird aber weitgehend ohne Teamunterstützung fahren müssen. Mexiko bringt nur alle paar Jahrzehnte einen Topfahrer hervor.
Der WM-Titel auf der Straße fehlt dem Mann aus Yorkshire noch. Im Cyclocross und als Mountainbiker durfte er schon das Regenbogentrikot tragen. Klettern kann er wie er mit seinem Tour-Etappensieg in Alpe d’Huez und zuletzt dem dritten Gesamtrang bei der Vuelta a España bewies. Die steilen Rampen in Kigali dürften dem britischen Radsportstar zupass kommen - Explosivität und Bergsprints sind seine Stärke. Die Strecke liege ihm, sagte der Brite nach einer ersten Besichtigung. Die Schlüsselstelle, die mit Kopfsteinpflaster versehene Cote de Kimihurura, nannte er “den perfekten Tadej-Berg”, er sei mit dem Oude Kwaremont bei der Flandern-Rundfahrt vergleichbar. Vorteil Tadej Pogačar? Was Pidcock nicht sagte: Solche Anstiege liegen auch ihm. Im britischen Team hat er starke Begleiter wie Fred Wright und den Tour-Vierten Oscar Onley.
Offiziell geht Jai Hindley als Kapitän der australischen Mannschaft ins WM-Rennen, der sich zuletzt im Trikot von Red Bull - BORA - hansgrohe als Vierter der Vuelta a España in guter Form zeigte. Aber aktuell scheint sein Landsmann Jay Vine noch stärker, wenn es um die Anforderungen auf dem WM-Parcours geht. Der 29-Jährige aus dem Team UAE von Pogačar gewann Silber im Einzelzeitfahren, das auf einem Teil des Straßenrenn-Kurses ausgetragen wurde, inklusive des vermutlich entscheidenden Anstiegs Richtung Ziel. Der Aussie hat sich mittlerweile im Straßenradsport gut zurechtgefunden. Seinen ersten Profivertrag holte er sich als Sieger der Zwift Academy - sein Radsport-Talent wurde also über eine Internet-Plattform entdeckt. Aus dem E-Sports-Radweltmeister 2020 ist fünf Jahre später ein ernstzunehmender WM-Kandidat auf der Straße geworden.
In seiner Heimat Ecuador ist er ein Volksheld. Richard Carapaz gewann 2019 den Giro d’Italia und setzte damit sein Heimatland auf die Weltkarte des Radsports. Zwei Jahre später feierte er den Olympiasieg in Tokio - das brachte ihm einen Empfang beim Staatspräsidenten ein. Der Dritte des Giro d’Italia 2025 ist kletterstark und angriffslustig und darf zu “Pogis” Herausforderern gezählt werden. Er startet nicht ganz als Einzelkämpfer, aber fast: Ecuador schickt nur insgesamt drei Starter ins Rennen. Der stärkste Landsmann Jhonatan Narvaez ist nicht Teil der Auswahl.
Er ist aktuell der beste Kletterer Italiens: Giulio Ciccone. Er ist bei der WM Anführer der Radsportnation Italien, die schon lange auf einen Weltmeister wartet. Der letzte Titelträger war Alessandro Ballan im Jahr 2008. Der angriffslustige Kletterer aus dem Süden Italiens dürfte bei dieser WM die Chance seines Lebens sehen. Zuletzt bei der Vuelta wirkte er formstark, der 30-Jährige vom Team Lidl-Trek kann auch schwere Eintagesrennen: Zuletzt siegte er bei der Clásica San Sebastián, im Vorjahr kam er bei der Lombardei-Rundfahrt als Dritter ins Ziel, im diesem Frühjahr wurde er bei Lüttich-Bastogne-Lüttich Zweiter hinter Pogačar. Zweite Option in der Squadra Azzurra dürfte Andrea Bagioli sein. Die italienische Mannschaft und ihre Fahrer sollte man insgesamt nie unterschätzen, in Sachen und Teamwork und taktischer Finesse setzt sie immer wieder Maßstäbe.