Vom 21. bis zum 29. September 2024 steigt in Zürich in der Schweiz die Rad-WM. Nach der Mega-Weltmeisterschaft in Glasgow 2023, wo alle Rad-Disziplinen ihre Titel unter einem Dach vergaben, sind die Straßenradsportler und Straßenradsportlerinnen 2024 in Zürich wieder unter sich. Zudem werden erstmals die Para-Cycling-Straßenweltmeisterschaften Teil dieses Events sein.
Der Name des Schauplatzes steht gleichsam für das Programm. Der Sechseläutenplatz in Zürich ist nicht nur die größte Freifläche in der größten Stadt der Schweiz. Er steht mit seinem Namen auch für eine traditionsreiche Zeremonie: Mit dem „Säächse Lüüte“ läuten die Zürcher alljährlich im April den Sommer ein, vertreiben den Winter und verbinden damit ein Volksfest – inklusive der Verbrennung eines Stroh-Schneemanns.
Das Sechs-Uhr-Läuten steht aber auch für eine Art Schweizer Sommerzeit, die ganz zum Image der Eidgenossen passt. Die moderne Sommerzeit mag dazu gut sein, den Menschen mehr Zeit im Biergarten, mehr Sonne für die Work-Life-Balance zu bieten – die Schweizer haben sie schon vor einigen Jahrhunderten eingeführt, um die längeren Tage dazu zu nutzen, die Arbeitszeit zu verlängern. Statt wie im Winterhalbjahr um fünf Uhr nachmittags war ab der Tag-und-Nacht-Gleiche im Frühjahr erst um sechs Uhr Feierabend. Und so passt es sehr gut, dass bei der kommenden Straßenrad-WM alle Strecken ins Ziel auf den Sechseläutenplatz führen. Denn diese Titelkämpfe stehen sinnbildlich für Fleiß und gewissermaßen Überstunden rund um den Radsport.
Der Schauplatz hat Tradition: Zürich ist eine Stadt des Radsports – ohne Zweifel. 1923 fand dort die insgesamt dritte Weltmeisterschaft unter Verantwortung des Weltverbandes UCI statt. Lange Jahre gab es ein Sechstagerennen im Hallenstadion, und bis 2006 auch ein hochkarätiges Eintagesrennen für Profis, die Meisterschaft von Zürich. Nun ist die größte Stadt der Schweiz zum dritten Mal Austragungsort einer Straßenrad-Weltmeisterschaft.
Die Erinnerungen der Schweizer an die vorerst letzte Austragung dürften gut sein. 1946, bei der ersten Auflage nach dem Zweiten Weltkrieg, als man die Schweiz als neutralen und daher von den Kampfhandlungen nicht in Mitleidenschaft gezogenen Schauplatz wählte, siegte der Züricher Hans Knecht. Es war die schöne Geschichte eines Jungen aus einem Zürcher Armenviertel an die Weltspitze des Radsports.
Zürich wollte die völlige Inklusion, Stadt wie Kanton. - Oliver Senn, WM-Sportchef
Zürich ist aber nicht nur für Handicap-Radsportler etwas Besonderes, die sonst nur bei Paralympics eine große Bühne bekommen. „Es ist eine einmalige Gelegenheit, eine WM zu Hause zu haben“, sagt der Schweizer Meister Mauro Schmid. Der 25-jährige Radprofi vom Team Jayco-AlUla ist in Steinmaur vor den Toren Zürichs aufgewachsen, jetzt lebt er in Wollerau am Zürichsee und kann in der Ferne den Höhenzug des Pfannenstiels und den WM-Kurs sehen. Als letztmals eine Straßen-WM auf eidgenössischem Boden stattfand, 2009 in Mendrisio im Tessin, war Schmid neun Jahre alt und interessierte sich noch nicht sehr für Radrennen. Das ist anno 2024 ganz anders. „Die WM in Zürich bedeutet mir sehr viel und ist mein Hauptziel in dieser Saison“, sagt der Spezialist für anspruchsvolle Eintagesrennen. Bei der WM in Australien vor zwei Jahren hatte er bereits eine Medaille vor Augen, bevor das Feld der Verfolger seine Ausreißergruppe wenige Pedaltritte vor der Ziellinie in Wollongong überraschte.
Auch die Olympia-Silbermedaillengewinnerin Marlen Reusser hat die 29,9 Kilometer von Gossau nach Zürich schon lange als geeignete Route angesehen, um endlich die langersehnte Goldmedaille im Kampf gegen die Uhr zu gewinnen – zwei Tage nach ihrem 33. Geburtstag. Wegen Sturzfolgen und einer langwierigen Erkrankung schwebt allerdings ein Fragezeichen über ihrem Start bei der Heim-WM – zuletzt hatte die Ärztin aus dem Emmental deshalb bereits den Olympia-Start in Paris absagen müssen. Doch auch ihre männlichen Teamkollegen, der Vize-Weltmeister von 2022 Stefan Küng und Ex-Europameister Stefan Bissegger, dürfen sich Hoffnungen auf Edelmetall machen. Die 46,1 Kilometer lange Zeitfahrstrecke von Oerlikon ans Ufer des Zürichsees ist kein Terrain für reine Tempobolzer. „Es ist ein kompletter, interessanter Parcours, sicher vielfältiger als derjenige in Schottland“, urteilt der Thurgauer Küng. Maßgeschneidert für Heimsiege? „Wir haben mit den Schweizern gesprochen, was für sie gut wäre“, betont Senn verschmitzt.
Der Parcours des Straßenrennens dürfte den besten Schweizer Radsportlern ebenfalls zupasskommen. Die Grundzüge für das Streckendesign seien früh klar gewesen, sagt WM-Sportchef Olivier Senn: „Wir wollten eine Zielgerade am See haben. Und es sollte kein Sprinterrennen sein – und nicht nur für Bergfahrer. Es soll ein offenes, hartes Rennen geben.“ Die Kletterpartie gleich zu Beginn des WM-Rundkurses auf den Zürichberg, bis zu 15 Prozent, dürfte im Lauf des Rennens die Athleten ermüden; weiter bergauf geht es bis Wittikon – insgesamt über rund 300 Höhenmeter, weitgehend am Stück, mit wenig Verschnaufpause. „Die Strecke liegt mir recht gut, für mich hätte sie kaum besser sein können – es ist ein Parcours für Puncheurs“, urteilt Lokalmatador Schmid. Beste Chancen aufs Regenbogentrikot haben explosive und kletterstarke Klassikerspezialisten. „WM sind immer spezielle Rennen, die man kaum mit anderen vergleichen kann“, erläutert Schmid gegenüber TOUR und gibt zu bedenken: „Man fährt ohne Funk, es gibt mehr Chaos und fährt in Nationalteams.“
Landsmann Marc Hirschi, während der Saison Konkurrent als Radprofi bei UAE Team Emirates, ist für den Renntag Teamkollege im Nationaltrikot mit dem Schweizer Kreuz – und vielleicht auch Konkurrent im Kampf um eine Medaille. Der Top-Favorit ist voraussichtlich ein Arbeitskollege Hirschis: „Pogačar hat gesagt, dass die WM ein großes Ziel für ihn ist“, erinnert sich Schmid. Und der 25-jährige Slowene Tadej Pogačar scheint derzeit alles zu gewinnen, was er gewinnen will. Titelverteidiger van der Poel, dessen Vorgänger Remco Evenepoel und Allrounder Wout van Aert sieht Schmid auch mit guten Karten im Kampf um Gold. Bei den Frauen, die 154 Kilometer mit rund 2.400 Höhenmetern absolvieren müssen, dürfte die derzeit weltbeste Allrounderin, die Niederländerin Demi Vollering, Favoritin auf ihren ersten WM-Titel sein und sich mit Titelverteidigerin Lotte Kopecky aus Belgien reiben – beide sind während des restlichen Jahres Teamkolleginnen beim Rennstall SD Worx. Während die Top-Profis jedes Jahr auf ganz großer Bühne um die Titel kämpfen, könnte es sein, dass Zürich eine sehr seltene Gelegenheit für die Radsportler mit Handicap sein wird. Ob das Projekt Inklusion bei Straßenweltmeisterschaften zukunftsträchtig ist? Aus Zürich heißt es, der Weltverband UCI habe die Inklusion bei Straßen-Weltmeisterschaften als dauerhaftes Projekt verkauft. Eine Anfrage, ob die kommenden Titelkämpfe in Ruanda 2025 und in Montreal 2026 ebenfalls Wettbewerbe im Paracycling planen, beantwortet die Pressestelle derart ausweichend, dass man vermuten muss, dass Teuber & Co. künftig wieder eher im Abseits um die Medaillen kämpfen. Auch Senn vermutet bezüglich der Inklusion: „Kann sein, dass Zürich eine Eintagsfliege ist.“ Oder anders gesagt: Zürich bietet eine besondere Chance auf eine WM mit einem im Wortsinn gemeinsamen Ziel, die so viele Radsportler nutzen wollen wie noch nie.
Es ist eine einmalige Gelegenheit, eine WM zu Hause zu haben. - Mauro Schmid, Schweizer Radprofi
Die Ortsangabe Zürich steht für den Sechseläutenplatz in Zürich; Oerlikon ist ein Stadtteil von Zürich.
Samstag, 21.9.24
Sonntag, 22.9.24
Montag, 23.9.2024
Dienstag, 24.9.
Mittwoch, 25.9.24
Donnerstag, 26. September
Freitag, 27. September
Samstag, 28.9.24
Sonntag, 29.9.24
Wie schon erwähnt, eint alle Rennen, dass sie auf dem Sechseläutenplatz im Herzen Zürichs enden werden, am Ufer des gleichnamigen Sees. Gestartet wird in Zürich (Sechseläutenplatz oder Oerlikon open-air Velodrom), Gossau, Uster oder Winterthur.
4470 Höhenmeter auf 273,9 Kilometern - es wird eine sehr schwierige Weltmeisterschaft, wohl zu schwierig für Mathieu van der Poel, der 2023 in Glasgow den Titel holte. Viel mehr dürften Fahrer vom Schlage eines Tadej Pogacar oder Remco Evenepoel beim Blick auf das Höhenprofil funkelnde Augen bekommen. Gestartet wird in Winterthur. Richtig schwierig wird es aber erst, wenn das Rennen den Rundkurs in und um Zürich erreicht. Dort werden insgesamt sieben Runden absolviert. Haupthindernisse sind die Zürichbergstrasse - 1,1 Kilometer mit 8 Prozent mittlerer Steigung (in der Spitze 15 Prozent) - und der Anstieg Witikon - 2,3 Kilometer mit 5,7 Prozent im Durchschnitt (in der Spitze 9 Prozent). Dort bietet sich die Gelegenheit zur entscheidenden Attacke.
Bei den Damen wird es kaum minder schwer als bei der Herren-Elite. Auf 154,1 Kilometer kommen 2488 Höhenmeter bei der Rad-WM 2024. Nur ist der Anlauf hin zum Rundkurs in Zürich kürzer und es werden nur vier Runden auf dem zum Männer-Elite-Rennen identischen Circuit gefahren. Auf dem Weg von Uster nach Zürich haben die Streckenplaner zudem mit dem Binz-Anstieg noch einen weiteren Berg ins Programm gepackt: 4,6 Kilometer mit 4,5 Prozent Durchschnittssteigung (maximal 9 Prozent) müssen von den Damen bewältigt werden. Auf dem schweren Parcours dürften Fahrerinnen wie Demi Vollering sehr gute Karten haben.
Das Mixed-Relay-Teamzeitfahren wird über zwei Runden auf dem bereits beschriebenen Circuit stattfinden. Die Elite-Männer starten auf der Bahn im Oerlikon Velodrom. Sie müssen auf 46,1 Kilometer 413 Höhenmeter abspulen - das sollte für die starken Rouleure kein Problem sein. Ähnlich sieht das Damen-Elite-Einzelzeitfahren aus: ein Rollerkurs mit einem welligen Abschnitt kurz vor der Hälfte der Strecke. Das Junioren-Zeitfahren ist dagegen fast tellerflach mit lediglich 40 Höhenmetern auf 24,9 Kilometern, die U23-Männer haben auf rund 30 Kilometern etwas mehr als 300 Höhenmeter zu absolvieren.
Die Strecke der U23 Männer der Rad-WM 2024 in Zürich ist im Prinzip eine Kopie des Damen-Eliterennens, mit dem Unterschied, dass die Männer noch eine zusätzliche Runde nach dem Start um den Greifensee drehen. Dadurch kommen insgesamt rund 20 Kilometer mehr als beim Damenkurs zustande. Die Höhenmeteranzahl ist in ungefähr gleich.
Für die Junioren geht’s ebenfalls in Uster am Greifensee los. Dort ist aber im Gegensatz zu den U23-Fahrern keine Zusatzrunde eingeplant, ehe es auf den Rundkurs in und um Zürich geht. Dieser wird dann lediglich dreimal befahren, wodurch rund 130 Kilometer für den Nachwuchs eingeplant wurden.
Für das Einzelzeitfahren der Juniorinnen und deren Straßenrennen bei der Rad-WM 2024 wurden noch keine detaillierten Profile veröffentlicht.
Wie schon bei der Mega-Rad-WM 2023 in Glasgow finden die Para-Cycling-Wettbewerbe in der Schweiz 2024 ebenfalls auf der großen Bühne des Radsports statt, allerdings erstmals im Rahmen einer Straßenrad-WM.
Gestartet werden alle Straßen-Wettbewerbe in Zürich (Sechseläutenplatz oder Münsterhof) und enden auf dem Sechseläutenplatz. Start der Einzelzeitfahren ist entweder in Zürich (Sechseläutenplatz) oder in Gossau.
Je nach Klasse unterscheiden sich die Para-Cycling-Straßenrennen. Jeweils einer oder mehrere der folgenden Streckenabschnitte sind dabei: Schlussrunde in Zürich, Rundkurse am Zürichsee. Je nach Klasse und Startort unterscheiden sich auch die Para-Einzelzeitfahren. Einige Para-Cycling-Einzelzeitfahren werden auf den schon vorgestellten Strecken ausgetragen, etwa finden die Einzelzeitfahren der Männer und Frauen B und C4-5 auf der Zeitfahrstrecke der Frauen-Elite statt. Zudem finden mehrere Rennen finden auf dem Finalkurs der Straßen-Rennen in Zürich statt.
*Klassen beim Para-Radsport
Die Bereiche C (1-5), T (1-2) und H (1-5) sind in verschiedene Klassen unterteilt, wobei die niedrigere Zahl eine größere Beeinträchtigung anzeigt.