Maike Hausberger muss erst einmal tief Luft holen. Es ist ja nur ein kleiner Schritt – und doch ein bedeutender. Und ein bewegender, das sieht man ihr an. Rauf auf die höchste Stufe des Siegerpodiums. Eine Kleinigkeit im Vergleich zur Power, mit der die 28-jährige aus Cottbus zuvor das komplette Feld im Bahnwettbewerb Scratch hinter sich gelassen hat. Sie hat schon fünfmal WM-Gold auf der Straße während ihrer Radsport-Karriere gewonnen. Aber dieser Moment hat mehr Bedeutung, als ihre bisherigen Titel – nicht nur, weil es ihr erstes Gold in einem Bahnwettbewerb ist. “Es war sehr emotional. So etwas habe ich noch nie erlebt. Es war unfassbar schön”, sagt sie etwas später. Und sie meint vor allem die Stimmung auf der WM-Radbahn in Glasgow, im Sir Chris Hoy Velodrome, in dem 4000 Zuschauer tagtäglich den Radsportlern richtig Beine machten. Soviel Publikum, soviel Begeisterung sind Para-Radsportler wie Hausberger bei Weltmeisterschaften nicht gewohnt.
Es ist die erste WM, bei der fast alle Radsportdisziplinen ihre Weltbesten ermitteln, Straßen- und Bahnradsportler, Mountainbiker, BMX- und Trailfahrer, Kunstradfahrer und Radballer, mit Handicap und ohne – teilweise auf engstem Raum. “Biggest cycling event ever” steht auf vielen Plakaten in Glasgow – größte Radsportveranstaltung aller Zeiten. Und nirgendwo wird die neue Gemeinsamkeit der Radsportdisziplinen so sichtbar, wie im Sir Chris Hoy Velodrom, wo olympische und paralympische Radsportler ihre Weltmeisterschaften unter einem Dach austragen. Erstmals gemeinsam. “Wir haben den gleichen Wert wie die olympischen Sportler. Wir wurden integriert”, betont Hausberger, die am Ende erfolgreichste deutsche Radsportlerin bei dieser WM ist – mit zweimal Gold und dreimal Bronze.
Während Hausberger mit feuchten Augen oben auf dem obersten Siegertreppchen dem Deutschlandlied lauscht, erheben sich Lotte Kopecky und Jeffrey Hoogland von den Stühlen unten vor dem Siegerpodium – die belgische Super-Allrounderin und der niederländische Bahnsprinter müssen auf ihre Medaillen warten. Erst sind die Para-Radsportler dran. Das ist neu, dass sich die Besten der beiden Disziplinen die große Rad-WM-Bühne teilen, teilen dürfen, teilen müssen. Je nach Sichtweise. Auch die prominentesten Radsportler müssen warten, während die geehrt werden, die sich bisher meist im Schatten, ein bisschen abseits der ganz großen Radsport-Bühne messen mussten. Kopecky und Hausberger haben ganz unterschiedliche Karrieren – dennoch verbindet sie einiges.
Hausberger hat schon immer mehr kämpfen müssen als andere. Sie ist seit Geburt in der unteren Körperhälfte teilweise gelähmt, nach einem Schlaganfall noch im Mutterleib. Der Startnachteil hat das Mädchen zuhause in Trier nie aufgehalten – Sport war immer wichtiger Teil ihres Lebens. Sie war schon Teilnehmerin an den Paralympics in der Leichtathletik. Später entdeckte sie den Radsport für sich. Ihr Ehrgeiz, ihr Wille, die weltbeste Radsportlerin in ihrer Handicap-Klasse C2 zu werden, verbindet sie mit dem Biss von Lotte Kopecky, die in den Tagen von Glasgow gewissermaßen das prominenteste Gesicht der ersten Multi-Disziplin-WM der Radsportgeschichte wird – mit Weltmeister-Titeln auf der Bahn und im wichtigsten Wettbewerb: Mit dem Biss eines Geparden auf Antilopenjagd jagte sie im Wiegetritt die Montrose Street hinauf – den letzten Anstieg im Straßenrennen. Vor sich nur noch das Ziel, Gold und Regenbogentrikot als Beute, alle Gegnerinnen bereits hinter sich. Es war die Krönung am Schlusstag dieser WM – ein paar Kilometer vom Velodrom entfernt. Und die vorläufige Krönung einer Radsport-Karriere – der erste Titel für Belgien im Straßenrennen der Frauen seit 50 Jahren.
Während andere Allrounder unter den Straßen-Radprofis wie Tom Pidcock oder Mathieu van der Poel dem Titelgewinn auf dem Mountainbike beziehungsweise im Straßenrennen Priorität einräumten, versuchte sich Kopecky als Vielstarterin – erfolgreich. Sie nimmt aus Glasgow dreimal Gold und eine Bronzemedaille mit: Sie darf künftig ein Regenbogentrikot im Straßenrennen sowie auf der Bahn in den Wettbewerben Ausscheidungsfahren und Punkterennen tragen, dazu gab‘s Bronze im Bahn-Vielseitigkeitswettbewerb Omnium. Vier Starts in zwei Disziplinen, vier Medaillen. Viel mehr geht nicht. “Ohne die Bahn wäre ich nicht die Radsportlerin, die ich heute bin”, sagte Kopecky, nachdem sie nach Gold im Punkterennen auch noch in einem packenden Finish Bronze im Omnium gewonnen hatte.
Die Belgierin liebt das neue WM-Konzept. “Ich mag das wirklich. Jetzt habe ich einen Saisonhöhepunkt, der beides vereint. Sonst würde sich die Saison für die Bahn-WM bis in den Oktober verlängern – das würde es mental für mich schwieriger machen. Und es hat mich nicht gestört, dass die Para-Athleten auch da waren”, sagt sie. Andere fanden die neue Gemeinsamkeit schon etwas beengend – nach dem Motto: Die Halle ist voll - auch ohne Para-Radsportler. Aber wenn es nach dem Radsport-Weltverband UCI geht, sind das Ewiggestrige. Denn es wird kein Zurück geben. Das Format der Super-WM soll es künftig alle vier Jahre geben. Auch wenn das Gedränge, der dichte Zeitplan im Velodrom Vor- und Nachteile hatte. Weniger Platz, dafür mehr Aufmerksamkeit für alle, mehr Gemeinsamkeiten. “Man hat sich viel besser kennengelernt”, sagt Hausberger, die zu ihren Medaillen auch mit einem von einem BDR-Mechaniker geliehenen Kettenblatt gefahren war. Anders als international sind die Bahnradsportler in Deutschland in getrennten Verbänden organisiert: Die olympischen Radsportler im Radsportverband BDR, die paralympischen im Deutschen Behindertensportverband DBS.
Die Sportler feiern also gemeinsam, aber bei der Medaillenübergabe ohne Fans. “Es ist schade, dass die Siegerehrungen ohne Publikum in der Halle nebenan stattfinden”, sagt Chris Hoy, der sechsmalige Olympiasieger und britische Radsport-Nationalheld, nach dem die Radbahn in Glasgow benannt ist und der die Bahnwettbewerbe für den britischen TV-Sender BBC kommentierte. “Sporthalle 1 & 2” steht auf dem Schild am Eingang – eine Turnhalle, in der die Boxen der Nationalteams mit dem ganzen Bahn-Material stehen – davor die Bühne für die Siegerehrung. Es hat den Flair einer Garage. Aber das sehen die Zuschauer im TV nicht, auch nicht die Platzanweiserin, die die Sportler im Akkord auf die Bühne bietet – Bronze, Silber, Gold, ein Regenbogentrikot, ein Plüschtier, Nationalhymne. Emotionen am Fließband – fast ohne Pause. Die Siegerehrungen finden weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Es applaudieren Freunde, Familie, Teambetreuer. Während für viele Bahnradsportler im Velodrom von Glasgow nur eine Zwischenstation auf dem Weg zu den Olympischen Spielen 2024 in Paris liegt, bleibt die Tür zu Olympia für manche verschlossen. Denn die Inklusion ist begrenzt – gerade bei Olympischen Spielen.
Trotz WM-Titeln blieb Maike Hausberger das Ticket nach Tokio vor zwei Jahren verwehrt. Der Grund: Hausberger startet in der Handicap-Klasse C2. Bei den Paralympics werden Handicap-Klassen zusammengelegt – die man für die Schadensgleichheit eigentlich getrennt hatte. Widersinnig. Hausberger muss hinter Sportlern mit niedrigerer Beeinträchtigung zurückstehen – die naturgemäß leistungsfähiger sind. Die Bühne bei Olympia ist wohl nicht groß genug für alle. Beim Internationalen Olympischen Komittee will man die Handicap-Sportler dabei haben - irgendwie, irgendwie aber auch nicht.
Umso mehr feiern gerade die Sportler aus den Nischen-Disziplinen den Auftritt bei der ersten großen, gemeinsamen Rad-WM. Michael Teuber hat viel erlebt – hat als Para-Radsportler 16 Weltmeisterschaften auf der Straße, zehn auf der Bahn bestritten. In Schottland konzentrierte er sich ganz auf die Straßendisziplinen, erfolgreich: er gewann seine WM-Medaillen Nummer 37 und 38. Auch wenn während der Para-Straßenwettbewerbe weit draußen im südschottischen Dumfries die ganz große Atmosphäre wie im Velodrom in Glasgow fehlte – Routinier Teuber war sehr zufrieden: “Super Rennstrecken auf der Straße. Komplette Integration der Wettkämpfe auf der Bahn. Die UCI ist ein Verband, der das vorbildlich macht.” Die Inklusion funktioniert im Radsport. Und sie hat Zukunft.
Im kommenden Jahr gibt es die Straßen-WM in Zürich – gemeinsam mit Elite-Profis und Para-Radsportlern. “2023 und 2024 – das sind zwei Meilensteine für den Para-Radsport”, betont Teuber. Es läuft gut im Para-Radsport. Teuber macht weiter mit dem Medaillensammeln. Er ist ja erst 55. In den anderen Disziplinen müssen sie länger warten: Die nächste ganze große UCI-Weltmeisterschaft mit fast allen Wettbewerben findet erst 2027 wieder statt – dann im französischen Departement Hochsavoyen.