***** Mathieu van der Poel
**** Tom Pidcock, Remco Evenepoel, Wout van Aert
*** Julian Alaphilippe, Jhonatan Narvaez
** Mads Pedersen
* Alberto Bettiol, Michael Matthews, Marc Hirschi, Matteo Jorgenson
Im Jahr 1996 erfuhr Gold eine Wertsteigerung im Radsport. Seit den Olympischen Spielen von Atlanta dürfen Radprofis um das Edelmetall kämpfen – zuvor war der Wettbewerb im Zeichen der Ringe Amateuren vorbehalten. Seither siegten Pascal Richard (Schweiz), Jan Ullrich (Deutschland), Paolo Bettini (Italien), Samuel Sanchez (Spanien), Alexandre Vinokourov (Kasachstan), Greg van Avermaet (Belgien) und Richard Carapaz (Ecuador). Mittlerweile ist der Wettbewerb im olympischen Straßenrennen ein großes Karriereziel für viele Top-Profis.
In Paris wird der Olympiasieger im Straßenrennen am Samstag, 3. August 2024, ermittelt. Maximal 90 Startplätze gibt es – damit ist das Peloton nur etwa halb so groß wie beispielsweise bei der Tour de France. Es wird in Nationalteams gefahren, die aus maximal vier Startern bestehen. Zum Vergleich: Bei der Tour schicken die Rennställe jeweils acht Rennfahrer ins Rennen. Das olympische Straßenrennen ist in dieser Hinsicht einmalig. Einige Rennfahrer gehen ohne Helfer ins Rennen - das gibt es sonst bei Straßenrennen auf Profiniveau nie. Ein Beispiel: Ecuador, das in Richard Carapaz den letzten Olympiasieger stellt, darf nur einen Startplatz besetzen. Und selbst die Topnationen können den Kapitänen maximal drei Wasserträger zur Seite stellen - zu wenig, um die komplette Renndistanz zu kontrollieren. Manche Experten unken, es könnte eine Überraschung durch einen Sieger aus einer frühen Ausreißergruppe geben.
Der vermeintliche Topfavorit und der Titelverteidiger werden fehlen. Tadej Pogacar, der in diesem Jahr Radrennen geradezu nach Belieben gewonnen hatte, hat den Start kurz nach seinem Sieg bei der Tour de France abgesagt. Er sei “zu müde”, so begründete das Nationale Olympische Komitee die kurzfristige Absage. Tatsächlich hatte sich der 25-jährige Bronzemedaillen-Gewinner von Tokio 2021 zuvor verstimmt gezeigt, dass der slowenische Nationalcoach seine Lebensgefährtin Urska Zigart nicht für einen der zwei Startplätze bei den Frauen nominiert hatte. Über die wahren Gründe für die kurzfristige Absage darf man also spekulieren. Aber nicht nur “Pogi” wird fehlen, auch Richard Carapaz, der Olympiasieger von Tokio, wird nicht am Start stehen. Er habe sich den Start verdient, Carapaz ließ die Auswahl für den einzigen Startplatz, der Ecuador zusteht, vom Sportministerium in seiner Heimat prüfen. Vergeblich. In Ecuador hat man sich für Jhonatan Narvaez als Teilnehmer am olympischen Straßenrennen entschieden, der als Argumente anführen kann, dass er kurz vor der Nominierung eine Etappe des Giro d’Italia gewann und vermutlich die bessere Wahl für die kurzen, giftigen Anstiege auf der Olympia-Strecke ist.
Nicht nur in Ecuador – auch andernorts fiel die Auswahl für den Olympia-Start nicht mit Blick auf Verdienste, sondern nach Begutachtung, wem die Strecke in und um Paris am besten liegen dürfte. 273 Kilometer, 2800 Höhenmeter – das sind die reinen Zahlen. Als “Mini-Flandern” bezeichnete die französische Sportzeitung L’Equipe den Parcours. Vom Start am Trocadéro mit Blick auf den Eiffeltrum geht es stadtauswärts am Schloss von Versailles vorbei, hügelig über Vororte im Südwesten der französischen Hauptstadt, bevor es auf den 18 Kilometer langen Innenstadtkurs geht.
Dreimal geht es an der berühmten Basilika Sacré Coeur vorbei auf den Montmartre – hier dürften sich im Rennverlauf zunehmend die Besten vom Rest trennen. Dabei ist ein Kilometer mit durchschnittlich 6,5 Prozent Steigung für Radprofis nicht unbedingt furchteinflößend. “Der Butte Montmartre ist in aller Munde, aber vier Kilometer früher gibt es einen Anstieg, 1600 Meter lang, ziemlich hart mit schlechtem Kopfsteinpflaster”, betont Belgiens Nationalcoach Sven Vanthourenhout bei sportwereld.be. Er meint: Es könnte noch ein zweiter, weniger bekannter Hügel im Pariser Stadtkern eine wichtige Rolle im Rennen spielen.
Nach der dritten Fahrt auf die Anhöhe am Montmartre geht es noch 9,4 Kilometer bergab, am Seine-Ufer entlang Richtung Eiffelturm und über die Pont d’Iéna zum Ziel am Trocadéro.
Der amtierende Straßen-Weltmeister gilt in Paris als der Top-Favorit. Der 29-jährige Niederländer blieb zuletzt bei der Tour de France weitgehend unauffällig und stellte sich in den Dienst des Teamkollegen Jasper Philipsen, dessen drei Etappensiege er vorbereitete. Für den Traum vom Gold im Straßenrennen verzichtete der Profi vom Team Alpecin-Deceuninck auch auf den Start im Mountainbike-Rennen. Vor drei Jahren in Tokio war er beim Geländeritt bei einem Sprung schwer gestürzt und litt lange unter den Folgen. Wie er sich auf den olympischen Auftritt vorbereitet? “Es wird eine Art Kopie des letzten Jahres im Hinblick auf die Weltmeisterschaft sein”, sagt der angriffslustige Klassikerspezialist. Die Konkurrenz darf den Verweis auf das Vorjahr als Drohung verstehen. Nachteil: Der Sieger von Paris-Roubaix hat nur zwei Helfer im Nationalteam: Dylan van Baarle und Daan Hoole.
Die Fahrt zu Olympia-Gold in Paris war extrem spektakulär, kräfteraubend – und auch umstritten. Als Pidcock als Erster jubelnd ins Ziel des Mountainbike-Rennens am Fuße des Müllbergs Colline d’Élancourt fuhr, buhte ihn das Publikum aus. Zuvor hatte Pidcock an einem Streckenteiler mit einem Sprint sein Vorderrad gerade soeeben vor seinen französischen Konkurrenten Victor Koretzky gebracht – die Räder verhakten sich, der Rivale kam ins Schleudern, der Kampf um den Olympiasieg war entschieden. Aber die Aufholjagd, die Pidcock im Mountainbike-Wettbewerb nach einem Reifendefekt hinlegte, der Ehrgeiz im Finale und seine Power zeigen: mit dem Briten ist auch im Straßenrennen zu rechnen. Anders als Konkurrent van der Poel plant er einen Doppelstart auf Mountainbike und Straßenrad – zwischendrin feierte er seinen 25. Geburtstag am 30. Juli. “Alles, was jetzt noch kommt, ist ein schönes Extra. Die Strecke des Straßenrennens ist nicht ideal für ihn, aber er kann um eine Medaille kämpfen”, sagt sein Trainer Kurt Bogaerts. Im Rennen hat er drei britische Teamkollegen, also die volle Mannschaftsstärke: Josh Tarling, Stephen Williams und Fred Wright.
Das Problem: Evenepoel ist nicht besonders explosiv und sprintstark. Er muss sein Heil in einer frühen Flucht suchen – wie bei seinem WM-Titelgewinn 2022 in Australien. Hat der 24-jährige Belgier aber erst einmal eine Lücke gerissen, ist der Zeitfahr-Olympiasieger kaum für die Konkurrenz einzuholen. Das vierköpfige belgische Team ist Stärke und Schwäche zugleich: Er muss sich voraussichtlich die Führungsrolle mit Wout van Aert teilen, der im Vorjahr auf einer ähnlichen Strecke Vize-Weltmeister wurde. Die Rollenteilung zwischen den beiden im Nationalteam hat in der Vergangenheit eher nicht geklappt. Der Vorteil: Das Duo wird von Tiesj Benoot und Jasper Stuyven begleitet – kein Team ist bei diesen Spielen stärker besetzt.
Der Belgier ist mittlerweile 30 Jahre alt – aber anders als seinem Dauerrivalen Mathieu van der Poel fehlt ihm auf der Straße noch der ganz große Einzelsieg bei WM, Olympia oder einem der Monumente. Der mehrmalige Cross-Weltmeister müsste aufgrund der Streckenbeschaffenheit die Leader-Rolle in der belgischen Auswahl haben – wenn der sechs Jahre jüngere Teamkollege Remco Evenepoel diese anerkennt und mannschaftsdienlich fährt. Eine Rollenteilung ist ebenfalls denkbar: Evenepoel für eine frühe Attacke, van Aert als “Manndecker” von Topfavorit van der Poel, mit dem er sich in Sachen Sprintstärke messen kann.
Vielleicht ist niemand im Feld derart motiviert, wie der Straßen-Weltmeister der Jahre 2020 und 2021. Der 32-jährige Franzose hat eine Durststrecke hinter sich – durfte zuletzt für sein langjähriges Team Soudal - Quick Step auch nicht die Tour de France bestreiten. Er bereitetet sich unauffällig mit einem Etappensieg bei der Tschechien-Rundfahrt vor. In den Pariser Straßen dürfte “Loulou” ein Heimspiel haben, die Begeisterung der Franzosen für ihre Lieblinge war bei den Mountainbikerennen bereits beeindruckend. Mit Europameister Christophe Laporte, Tour-Etappensieger Kévin Vauquelin und Valentin Madous hat die Equipe tricolore zudem ein vielseitiges Ensemble an seiner Seite.
Ecuador verzichtet auf den Olympiasieger Richard Carapaz und stellt doch einen der Kandidaten auf einen Medaillengewinn: Der 27-jährige Jhonatan Narvaez, Profi vom Team Ineos Grenadiers, muss zum engsten Kreis der Anwärter gerechnet werden – er fährt aktuell die beste Saison seiner Karriere. Explosiv und kletterstark sollte man auf dem Pariser Parcours sein. Dass Narvaez das auch gegen die Weltbesten kann, bewies er spätestens mit seinem Sieg auf der 1. Etappe des Giro d’Italia, als er nach der Fahrt über einen anspruchsvollen, bergigen Parcours rund um Turin im Zielsprint Maximilian Schachmann und Tadej Pogacar besiegte.
In seiner radsportverrückten Heimat Eritrea ist der Radprofi vom Team Intermarche-Wanty ein Volksheld: Zuletzt gewann er als erster Afrikaner mit schwarzer Hautfarbe drei Etappen bei der Tour de France und schließlich auch das Grüne Trikot des Punktbesten. Der 24-Jährige, der sein Geld beim belgischen Rennstall Intermarche verdient, kann aber auch Eintagesrennen, wie er mit seinem Sieg bei Gent-Wevelgem im Jahr 2022 bewies. “Wenn ich meine Form von der Tour halten kann und ein gutes Rennen fahre, ist alles möglich. Ich strebe eine Medaille an”, sagte der Eritreer nach der Tour zu L’Equipe. Sein Nachteil: Er startet wie Narvaez ohne Teamkollegen ins Rennen. Eritrea hat lediglich einen Startplatz.
Der Weltmeister von 2019 zeigte im Vorjahr auf dem vergleichbaren Parcours in Glasgow, dass er im Kampf Mann gegen Mann mit den Weltbesten mithalten kann. Die nötige Explosivität hat er – in einem Sprint wäre er neben Girmay der Schnellste. Und der Däne kommt auch gut über die Berge – die 2800 Höhenmeter könnte er gut verkraften, anders als reine Sprinter, von denen in Paris keiner am Start stehen wird. Pedersens Problem: Die Tour musste er nach der 8. Etappe aufgeben, nachdem er im Massensprint schwer gestürzt war. Die Frage ist: Wie hat er die Sturzfolgen verkraftet? Fühlt er sich nicht topfit, könnte Landsmann Mattias Skjelmose in die Bresche springen – der nicht ganz so schnell im bergigen Terrain aber durchaus explosiv ist.
Neben den Topfavoriten gibt es noch einige aussichtsreiche Außenseiter. Dazu zählen der angriffslustige Italiener Alberto Bettiol, der sprintstarke Klassikerspezialist Michael Matthews aus Australien, der mittlerweile routinierte eidgenössische Eintagesspezialist Marc Hirschi und der aufstrebende Super-Allrounder aus den USA, Matteo Jorgenson.
Zwei Startplätze durfte Bundestrainer André Greipel besetzen. Zur eigenen Enttäuschung fand John Degenkolb keine Berücksichtigung. Die zwei Startplätze gingen an unterschiedlich veranlagte Klassikerspezialisten: Nils Politt und Maximilian Schachmann. Politt, Spezialist für die eher flacheren Eintagesklassiker auf Kopfsteinpflaster, zeigte sich zuletzt bei der Tour de France in Topform, als er das Feld mit allen Favoriten als Schlepper an der Spitze über den Tourmalet zog – so stark hat man den Hürther noch nie im Hochgebirge gesehen.
Auch Schachmann ist zurück in der erweiterten Weltspitze. Nach Olympia-Rang zehn vor drei Jahren stürzte er in eine langanhaltende Formkrise, durch gesundheitliche Probleme bedingt. Zuletzt ging die Formkurve sichtbar nach oben. Beim Giro verpasste er knapp einen Sieg auf der ersten Etappe, es folgte dort Platz fünf im Einzelzeitfahren. Nach eigenen Angaben trat er auf dem Weg zu Platz neun im olympischen Einzelzeitfahren Bestwerte. Bei kluger Renneinteilung könnten die beiden Deutschen im Finale auf dem Rundkurs rund ums Moulin Rouge noch mitmischen.