***** Lotte Kopecky
**** Grace Brown, Demi Vollering
*** Elisa Longo Borghini, Kasia Niewiadoma, Marianne Vos
** Juliette Labous, Liane Lippert, Lorena Wiebes
* Kim Cadzow, Elise Chabbey, Elizabeth Deignan, Kristen Faulkner
Traditionell ist das olympische Straßenrennen das Highlight im Frauen-Radsport. Anders als bei den Männern gab es in der Vergangenheit keine ausdrückliche Trennung von Amateuren und Profis. Die Premiere im Jahr 1984 in Los Angeles gewann die US-Amerikanerin Connie Carpenter-Phinney. Von den noch aktiven Olympiasiegerinnen stehen die Niederländerin Marianne Vos (2012) und Österreichs Sensations-Olympiasiegerin Anna Kiesenhofer auch diesmal auf der Startliste.
Am Sonntag, 4. August 2024, entscheidet sich am berühmten Paris Platz Trocadéro, wer die Nachfolgerin der Österreicherin Anna Kiesenhofer als Olympiasiegerin wird. Die Strecke bei den Frauen ist auf den letzten 59 Kilometern baugleich mit der, auf der am Vortag die Männer die Medaillengewinner ermitteln. Auf dem Kurs durch die Pariser Innenstadt geht es auf zweieinhalb Runden über fünf Hügel nördlich der Seine – dabei dreimal auf den Montmartre und nach der dritten Auffahrt von der Basilika Sacré Coeur schnurstracks Richtung Ziel am Trocadéro. Der Wettbewerb in Paris ist mit 157,6 Kilometern das bisher längste olympische Frauen-Rennen. Der Anlauf auf den Innenstadtkurs ist bei den Frauen aber deutlich kürzer als bei den Männern.
In der Kürze liegt aber die besondere Würze: Die Chancen auf einen Erfolg aus einer frühen Ausreißergruppe sind gut. Der sensationelle Olympiasieg Kiesenhofers vor drei Jahren auf dem bergigen Kurs rund um den Fuji Speedway zeigte die Besonderheit des olympischen Radrennens: Weil die Teams maximal vier Starterinnen ins Rennen schicken dürfen (bei Weltmeisterschaften sind es bei den Top-Nationen sieben bis acht Starterinnen), ist das Rennen auch für die Top-Nationen kaum zu kontrollieren. Vor drei Jahren blickten alle auf die topfavorisierten Niederländerinnen, als es darum ging, die Verfolgung auf eine Spitzengruppe zu organisieren, die sich bereits kurz nach dem Start um Kiesenhofer gebildet hatte. Weil es offensichtlich keine klare Rollenverteilung im niederländischen Team und dazu zu wenig Kommunikation zum Rennverlauf gab (bei Olympischen Spielen gibt es keine Funkverbindung zwischen den Rennfahrerinnen und den Sportlichen Leitern), war der Parforceritt der Außenseiterin Kiesenhofer erfolgreich. Ähnliches ist bei den Rennen in Paris denkbar – wenn auch seit Tokio alle gewarnt sind.
Ruhig, fast schüchtern wirkt Lotte Kopecky. Aber in ihr schlummern große Energien, großer Ehrgeiz. Die 28-jährige Belgierin bewies das im Vorjahr, als sie mit einem explosiven Antritt zum Solo-Sieg bei der WM in Glasgow fuhr. Die Strecke in Paris, die der WM-Strecke des Vorjahres ähnelt, dürfte der sprintstarken Klassikerspezialisten liegen. Sie könnte die erste Olympiasiegerin im Straßenrennen werden, die aus der Radsportnation Belgien stammt. Ihr Vorteil: Im vierköpfigen belgischen Team ist ihre Führungsrolle unbestritten.
Die Siegerin der Tour de France 2023 wirkt in diesem Jahr nicht so stark wie im Vorjahr. Die kurzen Anstiege auf dem Olympia-Kurs liegen ihr weniger als Topfavoritin Lotte Kopecky, mit der sie gemeinsam im Profi-Rennstall SD Worx fährt. Aber ob die ewig ehrgeizige Marianne Vos und Top-Sprinterin Lorena Wiebes der Teamkollegin zuarbeiten, die aktuell die beste Allrounderin im Frauen-Radsport ist? Die Form scheint zu stimmen, auch wenn Vollering als Fünfte im Einzelzeitfahren eher enttäuschte. “Eigentlich bin ich sehr gute Wattzahlen gefahren”, sagte Vollering nach dem Kampf gegen die Uhr und ergänzte: “Vielleicht war das sogar mein bestes Zeitfahren aller Zeiten. Ich bin vor allem zufrieden, weil die Strecke so flach war.” Vollering mag Berge – aber, ob der Montmartre reicht, um den Unterschied zu machen? Und wird es im niederländischen Team als Lehre aus Tokio diesmal eine klare Rollenverteilung und echtes Teamwork geben?
Es könnte ein letzter großer Kraftakt werden: Ende dieser Saison will Grace Brown mit dem professionellen Radsport Schluss machen. “Ich habe viele Opfer gebracht, um auf höchstem Niveau mitzumischen. Ich möchte mit einem Hoch abschließen. Es ist viel wert, hier Gold zu gewinnen. Es ist Zeit, zu meiner Familie nach Australien zurückzukehren”, sagte die 32-jährige Australierin, nachdem Sie im Einzelzeitfahren alle Konkurrentinnen in Grund und Boden mit rund eineinhalb Minuten Vorsprung gefahren hatte und sogar schneller als einige Männer auf der gleichen Strecke unterwegs war. Vor dem Ruhestand in Australien würde sie natürlich gerne nochmals Gold gewinnen. Gold in beiden Straßenwettbewerben hat noch keine Frau gewonnen. Das Kraftpaket aus Down Under kann auch schwere Eintagesrennen, wie sie bei ihrem Sieg bei Lüttich-Bastogne-Lüttich Ende April bewies.
Der Ausgang des olympischen Radrennens mag ungewiss sein. Worauf man aber fast wetten kann: Im Lauf der knapp 158 Kilometer wird man irgendwann eine Attacke einer Fahrerin in Blau sehen: Elisa Longo Borghini ist die Verkörperung der Angriffslust im Frauenradsport. Das liegt sicher auch daran, dass der Sprint ihre größte, vielleicht einzige Schwäche ist. Fährt die Radsportlerin vom Team Lidl-Trek auffällig defensiv, dürfte dies ein untrügliches Zeichen sein, dass die Squadra Azzurra auf eine Medaille für die sprintstarke Elisa Balsamo hinarbeitet, die 2021 auf einem anspruchsvollen Parcours in Leuven Weltmeisterin wurde. Longo Borghini ist ein Trumpf für Italien, weil sie nämlich nicht nur eine herausragende Individualistin auf dem Rennrad ist, sondern ein Musterbeispiel dafür, wie man im Radsport die eigene Stärke in den Dienst der Mannschaft stellen kann. In diesem Jahr bewies sie mit Siegen bei der Flandern-Rundfahrt und beim Giro d’Italia, dass sie nun mit 32 Jahren auf der Höhe ihrer Leistungsfähigkeit ist.
Die angriffslustige Polin darf im Kreis der Favoritinnen nicht fehlen. Oft wirkt die Fahrweise der 29-Jährigen ungestüm und taktisch nicht durchdacht. Schweres Terrain und lange Solos kann die Dritte der Tour de France 2023 und amtierende Gravel-Weltmeisterin auf jeden Fall. Vermutlich kann Niewiadoma mit ihrer üblichen Kopf-durch-die-Wand-Taktik am ehesten unter den besonderen Umständen des olympischen Straßenrennens erfolgreich sein. Aus ihrem engsten Familien-Kreis kann sie gute Tipps bekommen: Sie lebt mit dem US-amerikanischen Ex-Profi Taylor Phinney zusammen, dessen Mutter Connie Carpenter-Phinney war 1984 in Los Angeles die erste Olympiasiegerin im Straßenrennen.
Sie wird einfach nicht müde: Die mittlerweile 37-jährige Niederländerin war erstmals im Jahr 2006 Straßen-Weltmeisterin, 2012 in London Olympiasiegerin. Aber wie sie mit viel Biss ihrer jungen Landsfrau Lorena Wiebes beim Amstel Gold Race im vergangenen April den Sieg im Zielsprint wegschnappte, zeigte: Mit Marianne Vos ist auch in diesem Jahr zu rechnen, in dem die sprintstarke und taktisch kluge Rennfahrerin bereits sieben Saisonsieg auf dem Konto hat.
Sie trägt die Hoffnungen ihrer Landsleute auf den Schultern. Die 25-jährige Französin, die ihr Geld beim Team dsm-firmenich PostNL verdient, ist aber eher eine Kandidatin für lange Berge, weniger für das wellige Terrain in der Pariser Innenstadt. Aber verleihen ihr die Anfeuerungsrufe der Fans am Streckenrand ein paar Extra-Watt?
Sie wird die Frau sein, für die die Kolleginnen im deutschen Nationalteam fahren werden: Liane Lippert hat allerdings eine schwere Zeit hinter sich. Im Winter erlitt sie einen Ermüdungsbruch, dessen Ausheilung lange dauerte. Beim Giro d’Italia bewies sie allerdings vor wenigen Wochen mit einem Etappensieg, dass sie auf gutem Weg zurück zur Topform ist. Sie ist bei mittelschweren Eintagesrennen Deutschlands Stärkste. Mit der tempofesten Deutschen Meisterin Franziska Koch und der ausdauernden ehemaligen Skibergsteigerin Antonia Niedermaier hat sie zwei starke Helferinnen an ihrer Seite.
Angeblich, so ist zu hören, gebe es im niederländischen Team einen “Plan Wiebes”. Aber: Es sei keine Olympia-Strecke für reine Sprinter, so heißt es von den meisten Experten. Das spricht gegen Lorena Wiebes, die unbestritten die schnellste Frau im Straßenradsport ist, aber nicht unbedingt eine Siegfahrerin bei schweren Eintagesrennen ist. Die kräftigsten und schnellsten im Peloton haben in Paris vermutlich nur eine Chance, wenn sie von einem großen Team bedingungslos unterstützt werden. Das Problem: Bei Olympia sind die Teams nur halb so groß wie bei einer WM – und bedingungslose gegenseitige Unterstützung war im Team der Niederländerinnen in den vergangenen Jahren eher nicht zu sehen.
Der Sieg von Anna Kiesenhofer war eine Überraschung, die sich vielleicht nie mehr vergleichbar wiederholt. Aber das olympische Straßenrennen, das über große Distanz mit ungewöhnlich kleinen Teams absolviert werden muss, begünstigte Einzelkämpfer und Erfolge aus sehr frühen Attacken. Weil die Schweizerin Marlen Reusser krankheitsbedingt ihre Olympia-Starts in Paris absagte, bekommt Landsfrau Elise Chabbey noch mehr Freiheiten, als sie sich ohnehin in fast jedem Rennen mit ihren Attacken nimmt. Die Ärztin braucht nur ein bisschen mehr Glück, damit eine ihrer zahllosen Attacken endlich zu einem ganz großen Erfolg führt. Auch Elizabeth Deignan kann so etwas, wie sie bei ihrem Extrem-Solo zum Sieg bei Paris-Roubaix 2021 zeigte; die US-Amerikanerin Kristen Faulkner ebenfalls, die von den Konkurrentinnen schon öfter mühsam wieder eingefangen werden musste. Und schließlich sollte man auch ein Auge auf die aufstrebende Neuseeländerin Kim Cadzow (22) haben, der wohl nur die Explosivität fehlt, um im Ranking der Favoritinnen weiter oben zu landen.