Olympia 2024Das waren die Straßenrennen von Paris

Jürgen Löhle

 · 21.09.2024

Mut wird belohnt: Olympiasiegerin Kristen Faulkner am Boden – und dennoch überglücklich
Foto: dpa/pa; Benoit Tessier
Olympia 2024 lockte die Massen – vor allem auch an die Strecken der Radrennen in Paris.

Keine Chance, heute nicht. Der junge Mann mit wehendem Haar, Stirnband und akustischer Retrogitarre mit Peaceaufkleber wollte wohl seinen angestammten Platz auf den Treppen der Basilika Sacre-Cœur einnehmen und für ein paar Münzen im Hut den frühen Dylan geben. Macht man hier gerne so. Die Stufen vor der weltberühmten Kirche mit Blick auf Alt-Paris muss ja seit 50 Jahren jeder Backpacker mit Klampfe besucht haben. Aber heute geht da nichts, überhaupt nichts. Schon morgens um zehn Uhr ist alles dicht. Tausende drängen sich auf der Treppengalerie, weil hier die 90 Starter des olympischen Straßenrennens dreimal vorbeikommen werden – allerdings erst in etwa fünf Stunden. Aber wer dabei sein will, muss Steherqualitäten haben. Auch wenn man jetzt noch ein wenig sitzen kann. Überraschen konnte das nicht; alle Wettbewerbe, vor allem an historischen Orten im Herzen von Paris, zogen von Beginn an trotz hoher Ticketpreise ungeheure Menschenmengen an.

Paris atmet Olympia 2024

Natürlich zum Beachvolleyball direkt vor dem Eiffelturm. Da pilgerte das Volk, und auf der Tribüne konnte man Angst haben, dass die steilen Stahlrohrrampen unter dem Getrampel nach jedem Punkt einfach zusammenkrachen. Aber selbst für, zum Beispiel, Vorrundenspiele im Wasserball, in einer Halle weit draußen im Industrieviertel von Saint-Denis, gab es so gut wie keine Tickets. Die Region Paris atmete ganz tief Olympia. Die Fans strömten, die Stimmung war euphorisch, überaus fair und vor allem friedlich. Alles tres sympathique eben. Und proppenvoll.

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Für Sportsfreunde ohne Karten gab es da eben nur noch Geher, Marathonies oder Triathleten, denen man sich gratis nähern konnte – wenn man früh dran war. Und die Straßenradler, die sich, am Ende des Rennens um die Region Paris, dreimal am Louvre von der Seine weg eine 1,6 Kilometer lange Steigung zum Montmartre hinaufquälen und an Sacre-Cœur vorbei wieder nach unten mussten. Radrennen vor der Kulisse von Plätzen, Schlössern, Parks, Kirchen und Friedhöfen, die fast jeder auf der Welt kennt und an denen eine Stimmung durchbrach, die auch beim Tourfinale auf der Champs-Elysees oder beim legendären Anstieg nach Alpe d’Huez nicht größer ist.

Trio Tricolore: Drei Franzosen, zwei Medaillengewinner: Valentin Madouas, Christophe Laporte (Mitte) und Julian Alaphilippe (rechts)Foto: Getty Images; Jared C. TiltonTrio Tricolore: Drei Franzosen, zwei Medaillengewinner: Valentin Madouas, Christophe Laporte (Mitte) und Julian Alaphilippe (rechts)

Funkstille bei Olympia 2024

Als es bei den Männern losging, durfte das Team Deutschland wegen seiner zuletzt eher mäßigen Resultate (in 2024 nur ein Etappensieg bei Tirreno-Adriatico durch Phil Bauhaus) nur Nils Politt und Maximilian Schachmann auf die mit stolzen 273 Kilometern längste Strecke eines olympischen Straßenrennens schicken. Das entsprach dann exakt der Teamstärke von zum Beispiel Österreich, Irland oder Kasachstan und war damit wenig geeignet, um als Mannschaft Akzente zu setzten. Zumal Teamchef André Greipel sich das Auto hinter dem Feld mit Polen (ein Teilnehmer) teilen musste. Und Funk gibt es bei Olympia ja eh keinen.

Mini-Team: Nils Politt (vorne) und Max Schachmann hatten wenig Gestaltungsspielraum in diesem RennenFoto: Getty Images; Maja HitijMini-Team: Nils Politt (vorne) und Max Schachmann hatten wenig Gestaltungsspielraum in diesem Rennen

Renninitiative musste man also von Top-Nationen wie Belgien, Dänemark, Frankreich, Slowenien oder England erwarten, die jeweils vier Fahrer aufbieten durften. Insgesamt waren es eh nur jeweils 90 Fahrer bei den Männern und Frauen im Feld, die aber alle gefeiert wurden wie Sieger. So säumten schon am Morgen Zehntausende die ersten noch neutralisierten Kilometer von Trocadero am Eiffelturm vorbei. Ein akustischer Orkan, garniert mit bunten Fahnen vieler Länder und einem tausendfachen “Allez les Bleus!”, das vor allem Julian Alaphilippe galt, Frankreichs Liebling und Doppelweltmeister 2020/2021. Durch ganz Paris drückten sich die Massen an die Streckenbegrenzungen, vorne attackierten fünf Athleten aus Uganda, Ruanda, Marokko, Mauritius und Thailand und wurden gefeiert wie die Granden des Radsports – die sich erst einmal brav zurückhielten und wahrscheinlich das Defilee vorbei an ihren Fans einfach nur genossen. Es war schon erstaunlich, wie entspannt auch die Sicherheitskräfte trotz der Angst vor Anschlägen im Vorfeld von Olympia 2024 die Masseneuphorie gewähren ließen. Laissez-faire, auch später dann am Montmartre.

An der Cote de la Butte Montmatre: Evenepoels entscheidender Antritt im Herzen von Paris, frenetisch bejubeltFoto: Getty Images; David RamosAn der Cote de la Butte Montmatre: Evenepoels entscheidender Antritt im Herzen von Paris, frenetisch bejubelt

Bis zu den finalen Runden in Paris lief das Rennen, wie man es erwarten konnte. Die großen Teams ließen bei Männern und Frauen zunächst die olympischen Exoten gewähren, bis zu 15 Minuten Vorsprung hatten die, aber nie eine Chance. Das Feld der Männer rollte an Versailles vorbei über das hügelige westliche Hinterland von Paris und sammelte an Ende dann doch knapp 3000 Höhenmeter. Auch außerhalb des Pariser Zentrums feierten die Menschen in den Dörfern, wie sonst wohl nur am 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag.

Remco Evenepoel holt Gold im Olympischen Straßenrennen

Sportlich so richtig los ging es dann erst nach stolzen 240 Rennkilometern. Remco Evenepoel, zwei Wochen vorher Dritter der Tour de France, ein paar Tage vorher Olympiasieger im Zeitfahren auf dem regennassen Pariser Kurs, sprang an eine Führungsgruppe heran und fuhr die auch gleich auseinander. Am Ende konnte nur der Franzose Valentin Madouas hinterherknautschen, 15 Kilometer vor dem Ziel aber auch das nicht mehr. Der 24-jährige belgische Superstar, der für 2025 als Neuzugang bei Red Bull-Bora-Hansgrohe gehandelt wird, zog locker weg und hatte nach einem Platten auf dem Kopfsteinpflaster kurz vor dem Ziel noch alle Zeit der Welt, in Ruhe sein Rad zu wechseln. Währenddessen holte seine Freundin noch rasch das erste Gold an die Strecke, damit Remco später mit zwei Medaillen als erster Doppel-Olympiasieger im Straßenradsport in die Kameras lächeln konnte.

Souverän: Stärke, Klasse, Willenskraft: Doppel-Olympia­sieger Remco EvenepoelFoto: dpa/pa; Jasper JacobsSouverän: Stärke, Klasse, Willenskraft: Doppel-Olympia­sieger Remco Evenepoel

Da war Nils Politt noch lange unterwegs. Als Evenepoel nach vorne kam, war der 30-Jährige noch in der Spitze dabei. Politt hatte noch zwei Wochen zuvor bei der Tour de France Tadej Pogacar perfekt über die Berge geführt – “und immer noch sehr gute Beine”, wie er sagte. Aber dann aus dem Nichts massive Bauchprobleme. “Zu wenig Wasser, zu viel Gel”, vermutete er. Das war’s dann, Politt benötigte ein stilles Örtchen und fand es im berühmten “Café des 2 Moulins” aus dem Film “Die fabelhafte Welt der Amélie”. Auch so was geht nur in Paris. Danach schwang er sich wieder in den Sattel und kam mit 20 Minuten Rückstand ins Ziel. Erleichtert, aber enttäuscht. Maximilian Schachmann wurde 29. Natürlich hatten die beiden als Zweierteam nicht viele Optionen, taktisch zu agieren, aber bei Olympia ist das offensichtlich auch gar nicht so wichtig. Die Einzelstarter Attila Valter (Ungarn) und der Lette Toms Skujins kamen auf den Plätzen vier und fünf ins Ziel, nur knapp vom Franzosen Christophe Laporte im Sprint um Bronze geschlagen.



Ungläubig im Ziel

Radsport-Fest bei Olympia 2024. Liane Lippert gehörte lange zur Spitze, musste aber abreißen lassenFoto: Imago Images; Ed SykesRadsport-Fest bei Olympia 2024. Liane Lippert gehörte lange zur Spitze, musste aber abreißen lassen

Bei den Frauen durfte Deutschland ein Dreierteam stellen, wird also international stärker bewertet als die Männer. Das nützte aber am Ende auch nicht viel. Liane Lippert hielt sich lange in einer Spitzengruppe, wurde aber auf der letzten Runde am Montmartre abgehängt, “nachdem mir dreimal auf dem Kopfsteinpflaster die Kette runtergesprungen ist”, und kam als beste Deutsche auf Platz 16. Aber auch hier war das Rennen wieder eine Demonstration des olympischen Geistes. Auch am “Frauentag” spuckten die Metro-Stationen rund ums Montmartre schon kurz vor dem Start Menschenmassen aus der ganzen Welt aus. Auch sie mussten stundenlang auf die Frauen warten, sahen davor aber auf den Leinwänden olympischen Spirit, als ähnlich wie bei den Männern in einer Spitzengruppe von Außenseiterinnen einer Afghanin geholfen wurde, der die Kette runtergesprungen war. Dass überhaupt zwei Afghaninnen in Paris am Start waren, liegt daran, dass die beiden aus dem Land des Taliban-Regimes geflohen sind und im Exil leben.

Unauffällig: Die US-Amerikanerin Kristen Faulkner (vorne) galt nicht als Favoritin. Sie nutzte die Unentschlossenheit der StarsFoto: Getty Images; Alex BroadwayUnauffällig: Die US-Amerikanerin Kristen Faulkner (vorne) galt nicht als Favoritin. Sie nutzte die Unentschlossenheit der Stars

Im Finale zeigte sich dann der olympische Gedanke noch einmal – aber eher kurios. Dabei sein soll ja alles sein, heißt es. Aber wenn dann Weltstars wie die Holländerin Marianne Vos und Lotte Kopecky aus Belgien sich so lange anschauen, bis die nur als Ersatz nominierte US-Amerikanerin Kristen Faulkner einfach davonfahren kann, auf den letzten drei Kilometern fast ein Minute Vorsprung erzielt und dann Gold gewinnt, ist das doch eine sehr eigene Interpretation von olympischem Geist. Faulkner war das Ganze wohl selbst ein wenig unheimlich, sie fuhr durchs Ziel ohne jeden Jubel. Wahrscheinlich die reine Ungläubigkeit, so einfach gewonnen zu haben. Das gibt es wohl nur bei Olympischen Spielen.



Olympia-2024-Radsport-ErgebnisseFoto: Getty Images; Jared C. Tilton & dpa/pa; Benoit Tessier

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