Andreas Kublik
· 26.03.2025
Dieter Stein kennt sich damit aus, wie große Talente im deutschen Radsport in jungen Jahren aussehen. Viele der Besten sind durch seine Hände beziehungsweise sein Nachwuchsteam beim Berliner TSC gegangen. Erik Zabel, Jens Voigt, Andreas Klöden und Simon Geschke hat er betreut und geformt. Auch mit bald 70 Jahren hat der Berliner noch nicht genug von Talentförderung – auch wenn der Job härter oder es schwerer wird, große Talente überhaupt zu finden. Der Zustrom aus dem Nachlass des erfolgreichen DDR-Radsports ist versiegt – der Werdegang führt nicht über frühe Sichtung und die Kinder- und Jugendsportschulen (KJS). Die Talente müssen sich heute eher selbst entdecken. Da brauchen Förderer Geduld. Jüngst hat sich für Dieter Stein die Arbeit mal wieder gelohnt, kann man sagen – auch wenn die wirklich großen Talente bald weiterziehen aus seinem Nachwuchsteam Stevens. Die Lehrzeit wird kürzer, die Nachwuchsarbeit immer professioneller.
Zuletzt war Niklas Behrens im Jahr 2023 auf Durchgangsstation bei Dieter Stein. “Det is ’ne kleene Perle”, berlinert der Teamchef und erinnert an die ersten Eindrücke der damaligen Zusammenarbeit. Mittlerweile schimmert die Perle in den Regenbogenfarben. Im vergangenen Herbst gelang es dem 21-jährigen Bremer Behrens, den WM-Titel in der U23-Klasse zu gewinnen – als erst zweitem Deutschen nach Gerald Ciolek im Jahr 2006. Und klein – das ist so eine Sache: Mit 1,95 Metern Körpergröße ist Behrens ungewöhnlich groß für einen Straßenradsportler. In der World Tour ist keine Handvoll Profis größer. Aber nicht nur wegen seiner Größe fiel der junge Mann auf; Insidern war das Talent bekannt – schon vor dem Titelgewinn in Zürich hatte er ein Vertragsangebot von einem der größten Profi-Rennställe vorliegen: Visma | Lease a Bike aus den Niederlanden.
In der neuen Saison fährt er nun erstmals als richtiger Radprofi und im gleichen Trikot wie Tour-de-France-Sieger Jonas Vingegaard oder der Klassikerspezialist Wout van Aert. “Das ist eine andere Welt als ein Devo-Team. Es ist jetzt ein Job”, berichtet Behrens von einem Zwischenstopp auf dem Weg zu den ersten Renneinsätzen als Profi im Oman. Zuvor war er für das Devo-Team, den Nachwuchsrennstall, von Lidl - Trek gestartet. Mittlerweile leisten sich fast alle Top-Teams einen solchen Unterbau, um Talente früh und professionell zu betreuen. “Ein bisschen nervös” sei er schon, sagt der U23-Weltmeister vor dem ersten Profi-Rennen und nennt bescheidene Ziele: “Im World-Tour-Bunch (’Bunch’ ist ein anderes Wort für Peloton) ankommen, Erfahrung sammeln.” Die große Freiheit der Nachwuchsjahre könnte erst einmal vorbei sein. “In der World-Tour hat man klare Rollen”, das hat er schnell gelernt. Im Oman soll er ein wichtiger Teil des Sprintzugs des sprintstarken niederländischen Teamkollegen Olav Kooij sein. Sein persönliches Ziel liegt jetzt 1500 bis 1000 Meter vor dem Zielstrich – danach wird er nicht mehr gebraucht, er kann ausrollen. Für den zählbaren Erfolg sind jetzt andere zuständig. Vorerst zumindest.
“Im Team wollen sie mich über die Jahre besser machen, langsam heranführen”, erzählt der Profi-Neuling. Doch der Lehrbub Behrens sollte nicht unterschätzt werden – er lernt schnell. Er ist ein Senkrechtstarter im Radsport, in Deutschland, aber auch international. “Das kann mal ein Großer werden”, sagt Stein und meint nicht die Körpergröße. “Er ist ein ungeschliffener Diamant. Er hat Herzblut. Er brennt für den Straßenradsport”, ergänzt Stein – und es klingt wie Schwärmerei. “Ihm ist nichts zu schwer”, hat der langjährige Radsportförderer beobachtet – auch nicht der WM-Kurs in Zürich, der eher für leichtgewichtige Bergfahrer geeignet schien als für den rund 80 Kilogramm schweren Behrens.
Wenn er Chancen auf Erfolg sieht, dann will er ihn sich holen – so wie in Zürich, als wohl niemand den Deutschen für einen der Favoriten gehalten hat. Die Konkurrenten dürften sich sicher gewesen sein, dass sie den Deutschen früher oder später an einem der langen und oft auch steilen Anstiege abhängen würden. Aber Behrens blieb dran. Bis zum Schluss. Und dann fuhr er allen davon, dem Letzten, dem Slowaken Martin Svrček, im Sprint auf der Zielgeraden. Anders als der Rivale vom Team Soudal Quick-Step hatte der Rennfahrer im BDR-Trikot zwar noch keine Erfahrung in der höchsten Rennserie World Tour, aber noch ganz frisch in Erinnerung, wie er kurz zuvor bei der Straßen-EM in einer vergleichbaren Situation dem Niederländer Huub Artz unterlegen war.
Radsport ist jetzt mein Job. Bei Team Visma | Lease a Bike wollen sie mich langsam an die World Tour heranführen und mich über die Jahre besser machen. - Niklas Behrens
“Alle waren grau – und ich habe mich am letzten Anstieg festgebissen. Ich war dann nur noch mit Bergfahrern unterwegs”, berichtete er später vom WM-Rennen. Tief im Laktat hatte der Deutsche in diesem Rennen den besten Durchblick und wohl den größten Biss nach der Enttäuschung als Zweiter bei der EM. “Draufgänger”, hat Mutter Yvonne Mielke-Behrens ihren Niklas im “Weser Kurier” genannt – der zwei Jahre ältere Spross Timo sei zurückhaltender. Der große Bruder versucht sich gerade beim Nachwuchsteam von Alpecin - Deceuninck an einer Profi-Karriere – der kleine Bruder hat ihn quasi rechts überholt. Vermutlich auch wegen seines Wagemuts. Aber das ist nicht alles, was Behrens auszeichnet. Gute Fahrtechnik, feines taktisches Gespür, große Tempohärte, Lernbereitschaft, Kampfgeist und Willen – und auch die nötige Sprintpower, um nicht nur mit den Besten mitzufahren, sondern sie auch abzuhängen. Tatsächlich beeindruckte es, wie Behrens den Titel gewann – auf einer Strecke, die ihm nicht lag, gegen starke Konkurrenz, in einem Moment, in dem ihn die meisten Beobachter abgeschrieben hatten, trat er an und fuhr davon. “Ich habe vom Regenbogentrikot geträumt”, sagt er später im Ziel.
Aber er hat den Traum mit viel Willen wahr werden lassen. Das unterscheidet ihn von anderen Talenten, die zu lange träumen. Seine Physiognomie, seine Art, Rennen zu gestalten, sein Biss – das alles erinnert manchen Beobachter an Mathieu van der Poel. Und der Neuling, der so ungebremst in die Weltspitze vorgestoßen ist, mit ganz wenig Anlauf, wird bald den Ballast solcher Vergleiche spüren. Es wird die nächste Herausforderung seiner Karriere, den Erwartungen standzuhalten. Die Talentscouts von Visma hatten schon vor dem WM-Rennen genug gesehen und ihm ein Vertragsangebot unterbreitet. Das Potenzial ist groß, meint Sportchef Grischa Niermann: “Er fährt noch nicht lange Rennen, das heißt, es gibt noch viel Platz für Entwicklung. Wir wissen, dass er stark ist und sehr lernwillig. Und wir lieben seinen Enthusiasmus, er passt sehr gut zu uns.” Schon im ersten Jahr wollen sie den Neu-Profi in hochkarätige Eintagesrennen wie Gent-Wevelgem und Paris-Roubaix schicken, so der Plan zu Jahresbeginn.
Der junge Mann hat auch schon erlebt, wie dicht Triumph und Tragik beisammen liegen. Als er als U23-Weltmeister ins Ziel kam, bemerkte er die ungewöhnliche Stille am Sechseläutenplatz am Zürichsee. Es gab keine Siegesfanfaren, keine Nationalhymne bei der Siegerehrung. Was er erst im Ziel erfahren sollte: Kurz zuvor hatte die Nachricht die Runde gemacht, dass die 18-jährige Schweizer Rennfahrerin Muriel Furrer an den Folgen der Sturzverletzungen vom Vortag gestorben war – gestürzt auf der gleichen Strecke, auf der Behrens gerade gewonnen hatte. “Es ist scheiße, wenn so etwas passiert – es passiert noch viel zu oft. Man sieht auf den Fotos, dass ich nicht so richtig glücklich war”, sagt er rückblickend. Man wünscht Niklas Behrens bald wieder einen großen Sieg, den er dann auch ausgelassen und glücklich feiern darf.