Jens Claussen
· 13.05.2023
Mieke Kröger ist eine Powerfrau – die groß gewachsene Athletin hat wesentlichen Anteil an den Erfolgen der deutschen Bahnrad-Frauen, erst jüngst wieder bei der Europameisterschaft in der Schweiz. TOUR hat sie zu Hause in Köln besucht.
Trübes Wetter, ein Mehrfamilienhaus in einer ganz normalen Wohngegend im Kölner Stadtteil Hürth. Mieke Kröger wirkt entspannt, als sie uns in die Wohnung bittet. “Wir können gleich anfangen”, sagt sie, “ich habe jetzt genug Tee getrunken.”
Was sie meint: Gerade muss sie sich einer offiziellen Dopingkontrolle unterziehen; kaum haben wir die Tür hinter uns geschlossen, verschwindet die Profi-Rennfahrerin mit der Kontrolleurin im Bad. Wir schauen uns ein wenig verstohlen um – die Wohnung ist vom Typ Studenten-WG mit Radsport-Deko. Zwei Zeitfahrräder stehen herum, eine Vielzahl an Schuhen und Helmen, verteilt auf die Fläche des Vorraumes.
Kröger ist auf der Durchreise, zwischen zwei Trainingslagern, fokussiert auf ihren ersten Jahreshöhepunkt, der Bahn-EM Anfang Februar im schweizerischen Grenchen, von der sie mit der Bronzemedaille in der Teamverfolgung zurückkehren wird. Das gemeinsame Wohnen mit Christa Riffel, ebenfalls Radsportlerin, mit der sie im Team Hitec-Products zusammen fuhr, genießt sie in Reise- und Wettkampfpausen. “Köln war in den Anfangsjahren schon mein Olympiastützpunkt, die Idee zur WG mit Christa kam vor eineinhalb Jahren recht spontan”, erzählt sie.
Zum Gespräch bittet Mieke Kröger uns in ihr Zimmer. Es sei, sagt sie etwas verlegen, ein Spiegelbild ihrer selbst: “In manchen Ecken sehr unstrukturiert, in anderen Bereichen dafür gut aufgeräumt. Ich kann verpeilt sein, aber sehr klar und fokussiert, wenn es drauf ankommt.” Ein Weltmeistertrikot und eine olympische Goldmedaille belegen die Fähigkeit zur Fokussierung, beides hängt unweit einer Staffelei.
Mieke Kröger malt gern in ihrer freien Zeit, und sie bemalt nicht nur Leinwände: Auf dem Tisch stehen die Rennradschuhe ihrer WG-Gefährtin Christa, individuell designt. “Habe ich gemacht, shoe painting ist ein großes Hobby von mir. Dabei kann ich sehr gut runterkommen!”, sagt Kröger.
Rennradfahren war einst auch “nur” ein Hobby für die 29-jährige Bielefelderin – und nicht mal im Traum hätte sie daran gedacht, dass daraus eine Leistungssportkarriere erwachsen könnte, die Kröger inzwischen mit dem Olympiasieg in Tokio sowie mehreren Welt- und Europameistertiteln gekrönt hat: “Ich sah auf dem Schulweg einen Rennradfahrer und dachte, so schnell möchte ich auch mal fahren.” Kurze Zeit später trat die damals 15-Jährige in einen Radsportverein ein.
Im RV Teutoburg Brackwede fühlte sie sich schnell wohl; ihre Eltern, Andrea und Thomas, beide Pädagogen, spielten bei der Entscheidung fürs Radfahren keine Rolle, sie hätten sie machen lassen, erzählt Kröger: “Ich komme aus keiner Radsportfamilie, war ein ganz normaler Teenager, nicht sonderlich sportbegeistert. Mit dem Rad in die Schule fahren, ein paar Schwimmkurse, Ju-Jutsu mit den Geschwistern, mehr war da nicht.”
Krögers Jugendtrainer Markus Spiekermann erinnert sich gut an die ersten gemeinsamen Trainingsrunden: “Außer Freude am Radfahren brachte sie in sportlicher Hinsicht nichts mit – nicht mal ein Rennrad. Ich hatte keine großen Erwartungen. Aber sie passte sehr gut in die Gruppe, war sehr umgänglich, gar nicht typisch Teenager. Sie lernte sehr schnell. Was sportlich in ihr steckte, habe ich erst nach einigen Wochen bemerkt.”
In Brackwede holt sie ihren ersten Sieg im ersten Rennen. “Auf dem Podium zu stehen und den Zuspruch zu genießen, das fand ich toll. Davon wollte ich mehr”, erzählt sie. Es dauerte ein wenig, bis die so schnell erfolgreiche Athletin im Radsport noch mehr entdeckte: “Einfach Klamotten packen und mit Freunden losfahren, das ist was ganz Feines! Da lachen wir viel, führen aber auch tief gehende Gespräche. Das sind absolut wertvolle Momente für mich.”
Ihr sportliches Potenzial für größere Aufgaben offenbarte sich bald. Die Deutschen Meisterschaften der U17 im Einzelzeitfahren könnten nach Einschätzung von Markus Spiekermann ein Schlüsselerlebnis gewesen sein. Kröger wurde Fünfte – als einzige Starterin unter den 20 Besten war sie mit einem normalen Straßenrad und ohne Begleitfahrzeug auf die Strecke gegangen: “An diesem Tag spürte sie selbst vielleicht zum ersten Mal, was wirklich in ihr steckt!”
Schnell stellten sich in der Juniorinnenklasse nationale sowie internationale Top-Ergebnisse ein. So wurde Kröger 2011 Deutsche Meisterin auf der Straße und im selben Jahr Bahnweltmeisterin in der Einerverfolgung. Sogar eine Nominierung für die Olympischen Spiele in London 2012 auf der Bahn stand im Raum. “Als es mit Olympia damals nicht geklappt hat, war ich nicht enttäuscht. Ich war ja erst 18 Jahre alt und habe nicht wirklich damit gerechnet, dabei zu sein”, sagt sie.
Was Kröger dann bei ihrer ersten Olympiateilnahme 2016 in Rio de Janeiro mit Platz 9 in der Mannschaftsverfolgung auf der Bahn noch nicht ganz gelang, erreichte sie als bisherige Krönung ihrer Karriere mit dem Bahnvierer in Tokio 2021. Olympiagold in der Mannschaftsverfolgung über 4000 Meter mit neuem Weltrekord im Finallauf gegen Großbritannien. Dabei pulverisierte das deutsche Quartett, bestehend aus Mieke Kröger, Lisa Brennauer, Franziska Brauße und Lisa Klein, den seit 2016 bestehenden Weltrekord der Britinnen um satte sechs Sekunden – im Bahnradsport Welten!
Eine taktische Umstellung, nur wenige Wochen vor Tokio, war dabei ein Schlüssel zum Erfolg, erzählt Kröger. Als sie bei der DM im Straßen-Zeitfahren Ende Juni 2021 nicht wie gewohnt ihre Leistung gebracht hatte, fragte Bahnnationaltrainer Andre Korff sie, was los sei. “Ich sagte dem Bundestrainer damals, dass der mentale Druck, den ich mir in dieser Phase selbst gemacht habe, unbedingt rausmuss”, erinnert sie sich.
Die meisten Bahnvierer teilen sich die 4000-Meter-Distanz einigermaßen gleichmäßig auf und wechseln mehrmals durch – was zu Mieke Krögers speziellen Fähigkeiten nicht optimal passt. “Ich fühlte mich nicht gut damit, zwei Führungen zu fahren, empfand das gleichzeitig als eigene Schwäche.” Korff reagierte mit viel Verständnis.
Kurz darauf nahm Kröger all ihren Mut zusammen und schlug dem Trainer eine taktische Änderung für die Führungswechsel vor. Das Team probierte die andere Variante, ließ Kröger längere Führungen fahren: “Ich wusste, dass ich die 1000 Meter fliegend richtig schnell fahren kann und damit dann in Summe vielleicht wertvoller für das Team bin.” Krögers Mut, ihre Schwäche anzusprechen, war nach Ansicht der inzwischen zurückgetretenen Lisa Brennauer vielleicht sogar der eigentliche Schlüssel zum Olympiasieg.
Viererkollegin Franziska Brauße jedenfalls attestiert Mieke Kröger nicht erst seit dem Olympiasieg und nach dem Rücktritt von Lisa Brennauer eine entscheidende Rolle in der Mannschaft: “Sie ist der Motor des Vierers. Durch ihre lange Führung können wir uns für den letzten Kilometer erholen und dann da noch mal alles geben.”
Mit ihren internationalen Erfolgen und der bei vielen Gelegenheiten geäußerten Anerkennung durch ihre Teamkolleginnen hätte Mieke Kröger eigentlich relativ gelassen in die Zukunft als Profi-Radsportlerin blicken können. Doch nach dem Olympiasieg stellte sie die Vorzeichen auf Veränderung. Um sich beruflich abzusichern, trat sie als Sportsoldatin der Bundeswehr bei.
Zudem arbeitet sie inzwischen mit Manager Christian Baumer zusammen: “Mein Vertrag bei Hitec-Products lief aus, ich wollte noch mal in ein größeres Straßenteam. Ich hatte schon losen Kontakt zu Human Powered Health. Christian half mir bei den Feinheiten, unterstützt mich rund um meinen Job.”
Der Wechsel zu Human Powered Health bahnte sich bei der WM 2021 in Flandern an. Joanne Kiesanowski, ehemalige Bahnfahrerin und Sportliche Leiterin des Teams, traf sich zu ersten Gesprächen mit Mieke Kröger: “Wir waren mit unserem Frauenteam neu in der Women’s World-Tour und auf der Suche nach einem großen Namen, jemandem, der viel Erfahrung hat und die junge Mannschaft in den und außerhalb der Rennen führen kann.”
Das Team ist aus der früheren Mannschaft Rally Cycling hervorgegangen; nennenswerte Erfolge schlugen bisher nicht zu Buche, aber die Mannschaft gibt sich innovativ. Die Belgierin Ro De Ronckere, die in der World-Tour der Männer schon für Teams wie Quick-Step und Qhubeka gearbeitet hat, führt die Frauen-Equipe als einzige Teammanagerin im gesamten World-Tour-Zirkus.
Die Sportliche Leiterin Joanne Kiesanowski traut dem Team in der Saison 2023 einiges zu, auch dank der kürzlich erfolgten Neuverpflichtung von Alice Barnes, die von Canyon/SRAM Racing wechselt. Kröger sieht sie innerhalb der sehr jungen Mannschaft in der Rolle des Road Captains.
Viele der Fahrerinnen, so Kiesanowski, hätten kaum Erfahrung auf europäischen Straßen; die routinierte Deutsche soll sie während der Rennen lenken und dabei direkte Ansprechpartnerin für die Teamkolleginnen sein: “Mieke ist mit ihren herausragenden körperlichen Voraussetzungen und Zeitfahrqualitäten prädestiniert für die Frühjahrsrennen.”
Kröger gehört mit 1,83 Metern zu den Größten im Frauenpeloton, ihre Athletik erlaubt lange Führungen mit hohem Tempo. “Das ist auch sehr, sehr wertvoll, um unsere Bergfahrerinnen in Anstiege hineinzufahren”, fügt Kiesanowski hinzu.
“A lot of fun vibes”, attestiert Kiesanowski der lebhaften und vielseitigen Deutschen. “Die jungen Fahrerinnen schauen im wahrsten Sinne des Wortes zu ihr auf und sind dankbar für jeden Ratschlag.”
Dass Kröger auf der Straße auch eigene Erfolge erringen kann, hat sie mit dem Deutschen Meistertitel 2016 und dem Gesamtsieg der Lotto Belgium Tour 2019 schon bewiesen. Trotzdem sieht sie ihre Hauptaufgabe darin, den Spezialistinnen im Team zum Erfolg zu verhelfen. “Ich glaube, wir können in diesem Jahr das eine oder andere Ergebnis bei Sprintetappen holen. Da bin ich sicherlich ein wertvoller Part beim Lead Out”, erläutert sie ihre Fähigkeiten, die endschnellen Teamkolleginnen für den Sprint in die optimale Position zu bringen. Auf eigene Ziele angesprochen, steht ein gutes Abschneiden bei Paris-Roubaix ganz oben auf ihrer Liste. “Da war ich schon im letzten Jahr in der Spitzengruppe, hatte dann leider Pech mit einem Platten”, erzählt sie. “Aber wenn alles passt, kann ich vorne reinfahren.”
Neben dem Profisport ist die Bielefelderin vielseitig interessiert – auch wenn das Fahrrad in vielen Belangen eine zentrale Rolle spielt. Unlängst war sie gemeinsam mit ihrem Bruder Hauke, einem Wirtschaftsingenieur, zu Besuch bei Christian Pyttel in Rastatt. Dort bauten sich die Geschwister unter dessen Anleitung einen Stahlrahmen; Christian Pyttel ist renommierter Rahmenbauer aus der ehemaligen DDR, der schon die Räder von Olaf Ludwig konstruierte.
Derzeit steht das selbst gebaute Stahlrad bei den Eltern in Bielefeld, könnte aber eine im Wortsinn tragende Rolle bei der Verwirklichung eines Traums spielen, den Mieke Kröger schon länger hegt: Ihr nächstes sportliches Großziel sind die Olympischen Spiele in Paris 2024; wenn es die politische Situation bis dahin zulassen sollte, will sie anschließend mit einer Freundin nach Teheran radeln: “Ich kann mir gut vorstellen, für diese Tour das Stahlrad zum Gravelbike umzubauen.” Sie strahlt bei diesem Gedanken.
Eine berufliche Perspektive nach dem Leistungssport hat Kröger noch nicht. Derzeit studiert sie Ernährungswissenschaften an der Uni in Bonn, lässt aber offen, ob das schon auf einen konkreten Beruf zusteuert; ein Job im Sport sei aktuell aber keine Option. “Ich lasse mich da gerade treiben”, meint sie. “Ein Kunststudium fände ich auch sehr interessant.” Ihre Schwester Ilka sowie ihre ehemalige Profikollegin und gute Freundin Tanja Erath sind Medizinerinnen, doch die Einblicke in den Arztberuf, die sie dadurch erhält, locken sie nicht. “Da sehe ich mich nicht”, sagt sie und lacht: “Außerdem habe ich schon einen Doktor. Im Radfahren!”