18 Jahre lang ist Michael Schär Radprofi. Auffallend kurz ist beim 1,98-Meter-Mann aus der Schweiz lediglich die Liste an Siegen. Nur zweimal kann er sich selbst für einen Sieg feiern. 2013 wird er Landesmeister im Straßenrennen, ein Jahr darauf gewinnt er eine Etappe der Tour of Utah. Der Respekt im Feld für Schär ist trotzdem riesig.
Anders ist es nicht zu erklären, dass sich am 12. Juni 2023 im Schweizer Örtchen Beromünster fast ein ganzes Fahrerfeld in zwei Reihen gegenüberstellt, die Rennmaschinen aufs Hinterrad packt und eine Gasse bildet. Das Peloton steht Spalier - für Michael Schär. Es zollt ihm Respekt für eine große Karriere, die er von Anfang bis Ende komplett als Helfer absolviert. Statt eigene Siege zu bejubeln, reißt Schär die Arme nach oben, wenn sein Kapitän als Sieger die Ziellinie überquert.
Dabei, dieses Gerücht hält sich hartnäckig, hätte Schär auch selbst auf Sieg fahren können. Sicher nicht bei Grand Tours, doch möglicherweise bei dem einen oder anderen Klassiker. Oder auch im Zeitfahren. In die Tat setzt er das nie um. Viel lieber fährt er an der Seite seines heutigen Freundes Greg van Avermaet. Oder viel mehr: vor ihm im Wind.
Der Schweizer und der Belgier lernen sich 2011 bei BMC kennen. Der spätere Olympiasieger kommt zu Beginn der Saison ins Team, Schär ist schon ein Jahr länger da. Zuvor fuhr er drei Saisons im Team Astana, davor stand er ein halbes Jahr im Dienste von Phonak. Schär und van Avermaet verbringen den Rest ihrer Karriere im gleichen Team. Nach dem Aus von BMC 2018 gehen beide zum Nachfolgeteam CCC, dann zwei Jahre später zu AG2R.
Van Avermaet beendet 2023 seine Karriere. Reiner Zufall, dass auch Schär nach der Saison einen Schlussstrich zieht? Nicht unbedingt. Der Luzerner Zeitung sagt Schär im Mai, als er sein Karriereende im Alter von 36 Jahren verkündet, seine Wattwerte seien besser als vor fünf Jahren. Doch der Job ist erledigt. Treu ergeben hat er seinen Kapitän bis zu seinem letzten Rennen begleitet. Bei Paris-Tours im Herbst sind beide letztmals im Einsatz. Auch das ist nicht nur Zufall. Hier feierten sie 2011 ihren ersten großen gemeinsamen Sieg.
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen und wieder ausblenden.
“Mein primäres Ziel war es immer, zum Erfolg des Teams beizutragen und unsere Leader zu unterstützen”, schreibt Schär in einem Statement auf Instagram. “Und ich bin stolz auf das, was wir zusammen erreicht haben.” Erreicht hat er mit van Avermaet zusammen viele Siege bei Eintagesrennen. Bei den allergrößten Erfolgen des Belgiers fehlt er aber. Beim Olympiasieg 2016 war Schär nicht am Start und auch die Herkunft hätte eine Zusammenarbeit nicht im gewohnten Maß zugelassen. Ein Jahr später bei Paris-Roubaix fehlt der Schweizer, weil er sich zuvor in der Saison das Schlüsselbein bricht.
“Es gibt im Radsport viele Helfer, die nebenbei auch selbst nach guten Resultaten streben. Bei ihm war das nie so”, sagt van Avermaet der Neuen Zürcher Zeitung. “Er hat sich zu 100 Prozent für mich geopfert. Das machte ihn so grossartig. Er war immer verfügbar, er kümmerte sich um andere, er hatte gute Ratschläge.”
2021 hat Schär sogar einen guten Rat für die UCI. Die hat am 1. April des Jahres eine neue Regel eingeführt, die es verbietet, unter anderem auch Trinkflaschen außerhalb der eingeführten “Litter Zones” wegzuwerfen - obwohl die als beliebtes Souvenir bei den Fans am Straßenrand ohnehin nie liegenbleiben.
Vier Tage später ist Flandern-Rundfahrt. Schär hat die Regel noch nicht verinnerlicht oder ignoriert sie bewusst, als er seine Trinkflasche in einer Kurve vor die Füße einiger Fans wirft. Dafür wird er sofort disqualifiziert, als einer der ersten Fahrer überhaupt durch Anwendung dieser Regel. Aber auch als einer der letzten. Nach dem Rennen schreibt er einen emotionales Statement auf Instagram. “Ich weiß es noch, als wäre es gestern. Meine Eltern fuhren meine Schwester und mich 1997 zur Tour de France in den Jura. Wir fuhren an die Strecke und warteten inmitten der Menschenmasse”, beginnt er den Eintrag, der verrät, wir er selbst zum Radsport kommt.
Der junge “Michi” zeigt sich begeistert von der Atmosphäre am Streckenrand. “Ich bekam außerdem noch eine Trinkflasche von einem Profi. Dieses kleine Stück Plastik machte meine Radsportsucht komplett. Ich fuhr jeden Tag mit meiner gelben Team Polti-Flasche. Jeden Tag.” Nun sei er selbst Profi und fahre durch die jubelnden Zuschauer. “In ruhigen Rennmomenten bewahre ich meine leeren Flaschen immer, bis ich Kinder am Wegesrand sehe. Das sind die Momente, für die ich unseren Sport liebe. Niemand kann uns das nehmen. Wir sind der zugänglichste Sport, der zwischendurch Flaschen weggibt. So einfach ist das. So einfach ist Radsport”, schreibt er.
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen und wieder ausblenden.
Der Post geht durch die Kanäle, wird tausendfach geliked und immer weiter verbreitet. In den sozialen Medien regt sich große Kritik am Ausschluss Schärs für das Abgeben einer Flasche. Weitere Fahrer und die Medien steigen mit ein. Und schließlich lässt sich die UCI erweichen.
Nur zehn Tage nach Schärs Disqualifikation korrigiert der Weltverband sein Strafmaß. Kleinere Geldstrafen und Punktabzug sollen fortan Anwendung finden, wenn Fahrer Flaschen außerhalb der vorgesehenen Zonen entsorgen. Disqualifikationen soll es erst nach wiederholtem Verstoß gegen die Regel geben.
Ansonsten macht Schär selbst wenig Schlagzeilen. Es sind seine Kapitäne. Cadel Evans zum Beispiel, der 2011 mit dem Schweizer an seiner Seite die Tour de France gewinnt. Schär ist damals 25 Jahre alt. Er bezeichnet den Sieg des Australiers als einen seiner größten Erfolge im Radsport. Und auch die Siege in den Teamzeitfahren bei der Tour 2015 und 2018 mit BMC nehmen einen hohen Stellenwert ein.
Ohnehin spielt die Große Schleife in Schärs Karriere eine tragende Rolle, was einmal mehr seine Bedeutung im Peloton wiederspiegelt. Elfmal die Tour fährt nicht jeder, schon gar nicht am Stück. Zwischen 2011 und 2021 verbringt Schär jeden Juli in Frankreich. Nach seiner Zeit bei BMC, in der er sich zunächst um Evans kümmert, dann um Tejay van Garderen und zuletzt auch um Richie Porte, erweitert sich seine Helferrolle bei CCC und AG2R.
Er hilft seinen Teams, die ohne Hoffnung auf vordere Plätze in der Gesamtwertung an den Start gehen, in dem er die Sponsoren in Ausreißergruppen zur Schau stellt. In seinen beiden CCC-Jahren 2019 und 2020 ist er jeweils zu Beginn der Tour in Ausreißergruppen vertreten und sichert sich dazu die Rote Startnummer, beim zweiten Mal sogar auf der 1. Etappe. Das nimmt Druck vom Team. Auch bei seiner einzigen Tour im AG2R-Trikot 2021 und sogar in seinem letzten BMC-Jahr fährt wird er einmal zum kämpferischsten Fahrer einer Etappe gewählt.
Zurück in Beromünster. Für den Mann aus Geuensee im Kanton Luzern liegt der kleine Ort nahezu vor der Haustür. Die 2. Etappe der Tour de Suisse, die dort startet, ist quasi seine. Von dem Spalier, das Stefan Küng, ein weiterer Freund aus BMC-Zeiten, durch viele Nachrichten per Whats App oder Instagram arrangiert, weiß er nichts. “Ich hatte Gänsehaut dabei. Stefan hatte das still und heimlich organisiert und ich wusste nichts von der Aktion. Es war sehr emotional”, schildert er die Szene nach der Etappe, bei der er sich nochmal als Ausreißer über 150 Kilometer präsentierte.
Das Kinderfahrrad, das er bekommt, um durch die Gasse aus Radprofis zu fahren, ist ein Zeichen für den jungen Familienvater, der seit nicht allzu langer Zeit zwei Kinder hat. Um die will er sich künftig besser kümmern, mehr Zeit mit ihnen verbringen, helfen nicht nur in einem Feld voller Radprofis, sondern auch zu Hause. “Mit den Geburten meiner zwei Söhne hat sich mein Leben schon in den letzten zwei Jahren geändert, rückte die Familie mehr ins Zentrum. Doch als Radprofi bist du mehr als 200 Tage im Jahr im Ausland. Das ist nicht wirklich kompatibel mit einer jungen Familie”, sagt Schär in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.
Dem Radsport bleibt er trotzdem verbunden, das hat er bereits bekanntgegeben. Als Sportlicher Leiter wird er ab der neuen Saison für Lidl-Trek, hauptsächlich im Männerteam, arbeiten.