Andreas Kublik
· 11.04.2025
TOUR: Maximilian, wenn man Ihren Namen googelt, findet man ganz oben in der Trefferliste Fotos und ein Video zu einem inoffiziellen “Weltrekord”. Sie sind bei der Tour de France 2021 an einem Pyrenäen-Pass das längste Wheelie gefahren. Ist das Pässefahren bei der Tour bei knapp zwei Metern Körpergröße und rund 90 Kilo Gewicht nicht schon schwer genug auf zwei Rädern?
Maximilian Walscheid: Die Initiatoren des Youtube-Kanals Tour de Tietema hatten damals die Aktion über Social Media publik gemacht. Jemand, der wusste, dass ich gut auf dem Hinterrad fahren kann, hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass diese Challenge an einem bestimmten Berg stattfinden wird.
TOUR: Es war am letzten Anstieg des Tages, dem Col de Beixalis, auf der 15. Etappe nach Andorra – nach 4500 Höhenmetern. Sie hatten noch die nötige Kraft und Muskelkoordination?
Maximilian Walscheid: Ich befand mich im Gruppetto, das sich rund um Mark Cavendish gebildet hatte, der damals im Grünen Trikot fuhr. Es war auf jeden Fall eine sehr harte Etappe, aber ich habe mich noch okay gefühlt, um solide im Zeitlimit ins Ziel zu kommen. Deshalb habe ich es einfach probiert.
TOUR: Sie haben 174 Meter auf dem Hinterrad absolviert – kein anderer Tour-Teilnehmer schaffte mehr. Im Jahr darauf haben Sie für die niederländischen Youtuber den Wheelie-Rekord am Ruhetag in Morzine auf 1420 Meter verbessert. Was war die Motivation?
Maximilian Walscheid: In erster Linie war es tatsächlich der Spaß. Die Macher von Tour de Tietema erzeugen echt immer eine schöne Stimmung an der Strecke.
TOUR: Wir haben jetzt von hinten angefangen – mit dem Gruppetto. Blicken wir nach vorne: Wie sehen Ihre Ziele für 2025 aus? Wollen Sie auch mal ganz vorne sein und mit guten Ergebnissen Schlagzeilen machen?
Maximilian Walscheid: Was gute Ergebnisse angeht, ist definitiv Paris-Roubaix mein Fokus. Zudem würde ich gerne wieder ein Rennen gewinnen und einfach hochklassige Rennen fahren. Ich habe vom Team einen sehr guten Rennkalender bekommen. Ich mache mir auch berechtigte Hoffnung, wieder bei der Tour de France dabei zu sein.
TOUR: Was macht Paris-Roubaix für Sie so wertvoll, so faszinierend?
Maximilian Walscheid: Ich würde einfach sagen, es ist ein unmenschlich hartes Rennen und führt über eine Strecke, die eigentlich nicht vorstellbar ist. Also ich kann wirklich jedem Radsport-Fan nur empfehlen, hinzugehen und sich das anzugucken. Im besten Fall sollte man mal selbst mit dem Rad über die Fünf-Sterne-Sektoren (die schwersten Kopfsteinpflaster-Passagen; Anm. d. Red.) fahren. Dann bekommt man halbwegs einen Eindruck davon, was im Rennen eigentlich passiert. Und natürlich fasziniert mich auch die Wichtigkeit dieses Rennens in unserem Sport, das Prestige.
TOUR: Groß, schwer, starker Antritt, viel Power, gute Zeitfahrqualitäten – man könnte sagen, Sie waren stets prädestiniert für dieses Rennen. Tatsächlich sind Sie erst spät in Ihrer Karriere vorne in den Ergebnislisten aufgetaucht. Gibt es eine Erklärung?
Maximilian Walscheid: Ich war schon als Neoprofi für Roubaix eingeplant. Aber vieles lief unglücklich. Gleich im ersten Jahr meiner Karriere hatten wir den schweren Unfall im Trainingslager von Giant-Alpecin, bei dem ich mir das Bein gebrochen habe (im Jahr 2016 wurden sechs Rennfahrer, darunter Walscheid und John Degenkolb, von einer Autofahrerin in Spanien angefahren und teilweise schwer verletzt; Anm. d. Red.). Ein Jahr später folgte der Rennunfall beim Scheldepreis. Aber ich muss auch sagen: Ich wäre damals nicht gut genug gewesen, um bei einem so harten, 260 Kilometer langen Rennen nennenswert dabei sein zu können. Zu Beginn meiner Karriere hat meine Performance nicht ausgereicht. Ich habe ein paar Jahre gebraucht, um so gut zu werden. Und für mich ist das Rennen natürlich toll, weil es das einzige Monument ist, bei dem ich um die Musik mitfahren kann.
TOUR: Sie sprechen vom Fokus bezüglich eigener Ergebnisse. Wie wichtig ist das für Sie, der oft Helferaufgaben erfüllen muss? In Ihrer Saisonbilanz 2024 haben Sie betont, wie schön und wichtig Ihr einziger Saisonsieg beim Omloop van het Houtland in Belgien war.
Maximilian Walscheid: Es ist mein Ziel, jedes Jahr mindestens ein Rennen zu gewinnen. Für mich ist es wichtig, den Riecher für den Sieg zu behalten und auch dem Umfeld zu zeigen, dass ich noch gewinnen kann. Grundsätzlich teilt sich meine Arbeit in zwei Bereiche: In die eigenen Ergebnisse auf der einen Seite, aber inzwischen auch vermehrt in Helferaufgaben.
TOUR: Ist es für einen großen und schweren Fahrer wie Sie im modernen Radsport, mit extrem offensiver Fahrweise und sehr frühen Attacken der Favoriten, schwieriger, anstrengender, komplizierter geworden?
Maximilian Walscheid: Es wird auf jeden Fall schwerer – ganz objektiv messbar. Ich habe mich in vielerlei Hinsicht angepasst. Was Werte wie Watt pro Kilogramm am Berg angeht, muss man einfach heute deutlich mehr fahren als noch vor zehn Jahren. Ich habe früher gute Ergebnisse eingefahren, aber das wäre heute, bei den gleichen Rennen mit den gleichen Werten, nicht mehr möglich, weil eben alle besser sind.
TOUR: Haben Sie sich eher bei den Watt oder bei den Kilogramm angepasst?
Maximilian Walscheid: Verbessert habe ich mich bei der Leistung. Von der absoluten Zahl, die auf der Waage steht, habe ich mich definitiv nicht verbessert. Aber meine Körperkomposition hat sich schon ein bisschen verändert, indem ich Muskulatur aufgebaut und Fett abgebaut habe. Bei sechs Prozent Körperfett kann man vielleicht noch mal ein Kilogramm Gewicht reduzieren, aber ob das dann so sinnvoll ist, was das Privatleben angeht, muss man bezweifeln. Ich würde es immer bevorzugen, einmal früher abgehängt zu werden, als ein 60-Kilogramm-Hungerhaken zu sein.
TOUR: Apropos abgehängt: Sie waren in den vergangenen beiden Jahren bei der Tour de France nicht dabei. Was ist härter – dabei zu sein oder zuschauen zu müssen?
Maximilian Walscheid: Ich bin zuvor dreimal hintereinander die Tour gefahren – von 2020 bis 2022. Als ich dann 2023 nicht am Start war, ist mir das Zuschauen nicht besonders schwergefallen – weil ich eben auch weiß, wie hart das Rennen ist, wie sehr man da leiden muss. Gerade als der Fahrertyp, der ich bin. Aber nach zwei Jahren Abstinenz habe ich auf jeden Fall wieder Bock drauf.
TOUR: Für einen Rennfahrer Ihres Formats ist das Zeitlimit auf den Bergetappen immer ein harter Gegner. Wie viel Angst ist bei Ihnen angesichts der Plackerei im Spiel – an Tagen, an denen Ihnen wohl auch die Laune für eine Wheelie-Challenge fehlen würde?
Maximilian Walscheid: Grundsätzlich war ich am Anfang meiner Karriere vor Bergetappen schon ziemlich nervös, gerade wenn es Bergauf-Starts gegeben hat, weil mir da einfach die Erfahrung gefehlt hat, um einzuschätzen, was ich da leistungstechnisch bringen muss. Inzwischen ist es so, dass ich weiß, wenn meine Form mindestens mittelmäßig ist und ich keinerlei gesundheitliche oder ähnliche Probleme habe und nicht stürze, dann passiert mir in der Regel nichts. Es passiert hingegen oft, dass die anderen Gruppetto-Kandidaten ihre Kräfte nicht optimal einteilen und so lange mit dem Peloton mitfahren, bis sie irgendwann komplett explodieren. Ich versuche das zu vermeiden, lasse mich abhängen, um dann rhythmischer zum Gipfel zu fahren. Oft sammle ich im letzten Drittel oder im letzten Fünftel des Berges noch viele Fahrer ein.
TOUR: Das klingt eher nach Einzelkämpfertum als nach Leidensgemeinschaft im Gruppetto?
Maximilian Walscheid: Leider muss man sagen, dass es sich mit der romantischen Vorstellung vom Gruppetto ziemlich erledigt hat. Es ist auf jeden Fall so, dass das Gruppetto immer seltener wird. In den ersten Jahren meiner Karriere gab es noch Fahrer wie Bernhard Eisel, die ein bisschen die Kontrolle übernommen haben. Das Gruppetto ist nach wie vor eine Leidensgemeinschaft. Aber jeder versucht jetzt so lange am Peloton dranzubleiben, wie es geht. Und auch die Sprinter untereinander halten nicht mehr allzu gut zusammen. Die Top-Sprinter gönnen sich untereinander nicht das Schwarze unter den Fingernägeln. Wenn einer in starken Schwierigkeiten steckt, versuchen die anderen, ein bisschen schneller zu fahren, damit der Konkurrent am nächsten Tag nicht mehr dabei ist.
TOUR: Das Gruppetto bei den langen Etappenrennen war eine traditionsreiche Schicksalsgemeinschaft. Vieles ändert sich aktuell im Profi-Radsport. Inwiefern gefällt Ihnen der mitunter hochgelobte moderne Radsport, den die jungen Supertalente mit offensiver Fahrweise zelebrieren?
Maximilian Walscheid: Schwierig! Es ist in erster Linie für die Zuschauer attraktiver – und das ist für mich auch grundsätzlich das, was unterm Strich steht. Wenn man zum Beispiel die Flandern-Rundfahrt nimmt: Dort war es früher so, dass man mindestens beim zweiten Mal am Oude Kwaremont, manchmal sogar noch beim dritten Mal, in einer relativ großen Gruppe ankam. Im Prinzip gilt nun Feuer frei, sobald man das erste Mal da hochfährt, während der drei zuschauerfreundlichen Runden. Das zeigt verschiedene Aspekte des modernen Radsports: Zum einen wird früh sehr hart gefahren, was dann auch eben Fahrer wie Pogačar begünstigt. Es wird viel mehr über Watt pro Kilogramm geregelt, weil so früh und so dauerhaft Zug auf der Kette ist. Ein schwerer Fahrer, der vielleicht zwei-, drei-, vier- oder fünfmal einen großen Punch hat, kommt viel schlechter mit der aktuellen Fahrweise klar, bei der 15- oder 20-mal im Rennen angetreten wird. Es wird immer schwieriger, das als schwerer Fahrer zu kompensieren. Die Flandern-Rundfahrt ist ein gutes Beispiel dafür: Die Mauer von Geraardsbergen als entscheidende Schlüsselstelle ist nicht mehr drin – die Parcours werden immer kompakter, um die Rennen zuschauerfreundlicher zu machen. Unterm Strich ist das für die Sportart eine gute Entwicklung. Aber natürlich ist es für die Fahrer sehr hart, weil es nur noch extrem wenige Rennen gibt, bei denen man in irgendeiner Form halbwegs mitrollen kann.
TOUR: Sie haben die Dominanz von Watt pro Kilogramm angesprochen. Mit welcher Strategie gehen Sie aufgrund dieser Entwicklung an den Sport und die Rennen heran?
Maximilian Walscheid: Meine einzige Strategie ist, aufzuhören, mich darüber zu beschweren. Es fängt schon im Training an: Im Trainingslager wird das Tempo immer höher, da wird an keinem Berg mehr gewartet. Man arbeitet eben an sich, damit man mithalten kann, sich in diesem Zirkus etablieren kann. Ich werde nie meine physiologischen Voraussetzungen ändern können. Es ist völlig in Ordnung für mich – ich muss eben aus dem, was mir an Talent und Körper gegeben wurde, das Beste machen.
TOUR: Sie haben sich früh dafür entschieden, ein Medizinstudium durchzuziehen. Bedeutete die Entscheidung auch, dass Sie Zweifel daran hatten, es aufgrund Ihres Formats als Radprofi schaffen zu können?
Maximilian Walscheid: Als ich von der Schule gekommen bin, habe ich nie daran gedacht, Profi zu werden. Ich bin in der Region Koblenz groß geworden, habe dort mein Abitur gemacht und bin dann 2012 für das Studium nach Heidelberg gezogen. Damals bin ich zwar fest davon ausgegangen, dass ich den Radsport sehr intensiv betreiben werde, weil er mir einfach extrem viel Spaß gemacht hat und ich ein ehrgeiziger Typ bin. In den ersten beiden U23-Jahren bin ich aber wirklich nicht überragend gefahren.
TOUR: Wie hat Ihr Weg dann doch noch in den Profi-Radsport geführt?
Maximilian Walscheid: Als ich im dritten U23-Jahr Deutscher Meister geworden bin (2014; Anm. d. Red.), hat mich Marc Bator von der Agentur Team Vision in Berlin wegen Vermittlung eines Profivertrags angesprochen. Das war die Initialzündung. Im vierten Jahr wollte ich es dann doch probieren, habe mein Studium reduziert, um mich für einen Profi-Vertrag zu empfehlen. Glücklicherweise hat es dann mit meinem Wunschteam Giant-Alpecin funktioniert. Es war ein Traum, mit Marcel Kittel war ein riesiges Vorbild von mir im Team. Aber es war auch alles ein bisschen surreal.
TOUR: Bevor Sie im Jahr 2016 Radprofi wurden, hatten Sie bereits Ihr erstes Staatsexamen in Medizin abgelegt. Planen Sie noch, das Medizinstudium abzuschließen, Arzt zu werden?
Maximilian Walscheid: Ich möchte das Studium gerne recht zeitnah beenden. Mir fehlt noch ein Jahr, also zwei Semester, um mich zum zweiten Staatsexamen anmelden zu können. Es ist aber auf jeden Fall schwierig, das mit dem Profi-Radsport zu kombinieren. Ich habe glücklicherweise ein Team, das mir die Freiheit gibt, das Studium parallel zu verfolgen, solange es nicht meine sportliche Performance einschränkt. Auch wenn das die vergangenen zwei Jahre anstrengend war – es ist eher bereichernd neben dem Radsport.
TOUR: Werden Sie im Team auch mal um Hilfe gefragt, wenn beispielsweise kein Teamarzt verfügbar ist?
Maximilian Walscheid: Ja, es kommen schon Fragen, was man denn bei irgendwelchen kleineren medizinischen Problemen machen kann. Das ist sehr positiv. Man könnte mir auch eine Art Klugscheißertum unterstellen. Das ist glücklicherweise nicht der Fall. Andere Fahrer interessieren sich auch dafür, was man parallel neben dem Radsport machen könnte.
TOUR: Ihr aktueller Vertrag mit dem Team Jayco AlUla läuft am Saisonende aus. Sie dürfen jetzt kurz ein Bewerbungsschreiben für Ihren nächsten Vertrag formulieren …
Maximilian Walscheid: Ich weiß, dass ich mit den Fähigkeiten, die ich habe, in Kombination mit einer guten Trainingsmoral, wirklich ein sehr guter World-Tour-Fahrer sein kann. Ich werde nie an einem nennenswerten Anstieg zu den Besten gehören. Aber das ist ja auch gar nicht mein Ziel. Mit meinen sehr speziellen Grundvoraussetzungen habe ich es eigentlich geschafft, mich über die letzten Jahre sehr, sehr breit nützlich zu machen. Ich kann zum einen sowohl selbst Ergebnisse als auch Siege einfahren. Und zum anderen kann ich im Team sehr breit supporten – vom Sprinter über den Klassikerfahrer bis zum GC-Leader. Für Teams ist das extrem praktisch: Mich kann man zur Tour de France mitnehmen, als Anfahrer für einen flachen Sprint oder um Ben O’Connor (Mann für das Gesamtklassement; Anm. d. Red.) durch windige Flachetappen zu begleiten oder bis zum ersten Berg. Und ich kann bei der Flandern-Rundfahrt der letzte Helfer für Michael Matthews sein. Darüber hinaus habe ich ein gutes Auge für Rennsituationen und kann teamintern der Mannschaft dabei helfen, besser zu werden, was Rennanalysen und Übersicht im Rennen angeht.
TOUR: Eine gute Bewerbungsrede. Dennoch: Sie werden in diesem Sommer 32 Jahre alt. Inwieweit machen Sie sich Sorgen bezüglich Ihrer beruflichen Zukunft im Profi-Radsport?
Maximilian Walscheid: Ich muss ehrlich sagen, dass ich mir gar keine Sorgen mache. Ich gehe jetzt in meine zehnte Profisaison. Viele World-Tour-Teams wissen, was ich als Fahrer kann und was nicht. Ich weiß ziemlich genau, was ich als Fahrer für einen Wert habe. Ich glaube nicht, dass es sehr schaden würde, wenn die aktuelle Saison sportlich nicht supertoll laufen würde. Ich setze mich wenig unter Druck. Ich bin total froh über meine bisher erfolgreiche Karriere und weiter ehrgeizig. Aber es ist jetzt nicht so, dass ich noch irgendetwas hinterherhechle, was ich noch unbedingt erreichen möchte. Wenn ich jetzt keinen Anschlussvertrag unterschreiben könnte, würde ich dennoch als glücklicher Mensch weiterleben.