Es ist kalt und ungemütlich auf der großen Bühne. Ein frischer Wind pfeift über die Piazza della Vittoria in Genua. Keine schönen Arbeitsbedingungen für die Hauptdarstellerinnen des Tages in ihren dünnen, engen und kurzen Radhosen. Da helfen auch die wärmenden Gedanken wenig, dass es ein besonderer Tag ist, mit der Chance auf einen ganz großen Auftritt. Es ist der Tag der Renaissance von Mailand-San Remo für die Frauen.
Katarzyna Niewiadoma, die Tour-de-France-Siegerin des vergangenen Jahres, stöckelt auf ihren Radschuhen eilig vor die Werbetafel unter dem mächtigen Siegesbogen im Zentrum des Platzes, spricht 100 Sekunden lang ohne Punkt und Komma in die Mikrofone und Kameras, deren Scheinwerfer das triste Grau des Vormittags wenigstens ein bisschen aufhellen. „Natürlich ist es etwas Außergewöhnliches, Mailand-San Remo bei den Frauen wieder zu haben und selbst dabei zu sein. Es ist auch toll für die Entwicklung des Frauenradsports“, sagt die 30-jährige Polin vom Team Canyon-SRAM, ehe sie schnell flüchtet zum Podium für die Teamvorstellung und weiter auf ihr Rennrad, mit dem es möglichst bald losgehen soll, zu wärmender Arbeit bei der ersten Auflage von Milano-Sanremo Women, dem neuen Frauen-Wettbewerb im Programm des traditionsreichen Frühjahrsklassikers. „Es ist ein historischer Tag“, betont Elisa Longo Borghini, die Italienische Meisterin vom Team UAE-ADQ. Mit klappernden Zähnen, zitternden Gliedern und vor der Brust verschränkten Armen stellen sich die Rennfahrerinnen tapfer den Pflichten im Vorprogramm, der radsporthistorischen Bedeutung angemessen. 20 Jahre lang fand das im Radsport schlechter gestellte Geschlecht keine Bühne bei einem der großen, traditionsreichen Radrennen in Italien. Frauen bei Mailand-San Remo oder Lombardei-Rundfahrt? Bis zu diesem Tag: Fehlanzeige. Und das ausgerechnet in dem radsportbegeisterten Land, das ausweislich der Weltrangliste die Nummer zwei ist unter den Top-Nationen im Frauenradsport, hinter den überragenden Niederlanden.
In Sachen historischer Bedeutung für ihren Sport waren die Einordnungen für die Radsportlerinnen klar, Fragen zu Rennstrategie und Taktik hingegen deutlich schwieriger zu beantworten. Niemand wusste genau, was die insgesamt 142 Starterinnen aus 24 Mannschaften erwarten würde auf der Fahrt von Genua nach San Remo, auf den 156 Kilometern über anfangs regennasse Straßen und die bekannten Schlüsselstellen Capo Cervo, Capo Mele, Capo Berta, Cipressa und Poggio, gefolgt von der rasenden Abfahrt hinunter auf die berühmte Via Roma, wo einst schon Eddy Merckx jubelte. Nach 18 Rennkilometern führte die Route der Frauen über die gleiche Strecke wie bei den Männern. Identisches Finale also, aber auch ein vergleichbares Rennen? „Ich bin sehr gespannt, wie das bei den Frauen umgesetzt wird: ob es einen anderen Rennverlauf geben wird als bei den Männern – oder doch ähnlich“, meint Liane Lippert vor dem Start, Deutschlands beste Spezialistin für anspruchsvolle Eintagesrennen.
Schnell noch eine WhatsApp-Nachricht – dann geht es auch für die Radsport-Paare im internationalen Peloton los. „Kompliment an RCS. Das ist ein schöner Schritt für den Frauenradsport“, so Jacopo Mosca morgens am Start. Erstmals darf der 31-jährige Italiener vom Team Lidl-Trek den Arbeitsplatz auf der Küstenstraße mit seiner Ehefrau teilen, Mitfavoritin Longo Borghini – wenn auch mit unterschiedlichen Arbeitszeiten. Mosca ist ein „Gregario“, wie die emsigen Helfer im Peloton auf Italienisch heißen. Mailand-San Remo – das ist ein besonders langer und harter Arbeitstag für ihn, das weiß er angesichts seiner inzwischen achten Teilnahme. „Im Vorjahr bin ich fünf Stunden von vorne gefahren“, erzählt er. Sein Job: Tempoarbeit im Feld. „Ich werde unterwegs an Elisa denken. Ich hoffe, ich werde im Funk gute Neuigkeiten hören. Wenn Elisa ein gutes Rennen fährt, können sie mich so moralisch unterstützen“, sagte er am Vortag des Rennens bei der Teampräsentation der Männer.
Rund 20 Minuten vor den Frauen starten schließlich die Männer um die Top-Favoriten Tadej Pogačar und Mathieu van der Poel, auf die mit 289 Kilometern fast doppelt so lange Renndistanz. Los geht’s für sie in Pavia, südlich von Mailand, bei Regen und dichtem Nebel in der Po-Ebene. Vom Turchino-Pass im Apennin folgt eine kalte Abfahrt hinunter an die Mittelmeerküste bei Genua. „Ich war froh, als ich die Sonne gesehen habe“, meinte van der Poel, konnte sich über die Sonne aber erst sehr viel später an seinem Arbeitstag freuen als die Frauen. Umgekehrt waren die möglicherweise nicht böse darüber, dass in Sachen Renndistanz an diesem Tag noch keine Gleichberechtigung herrschte – auch wenn sich einige künftig ein paar Kilometer mehr Richtung 200-Kilometer-Marke wünschen würden.
Es wirkte dann fast, als hätten viele im Starterinnenfeld Lampenfieber, Angst vor einem verpatzten Auftritt bei der Premiere auf der großen Bühne des traditionsreichen Wettbewerbs. Der Versuch von Tour-Siegerin Niewiadoma am Poggio erwies sich als zu wenig kraftvoll. Niemand konnte oder wollte die ganz große Attacke wagen. Und vielleicht beäugte die Konkurrenz auch zu sehr die Top-Favoritin Lotte Kopecky (SD Worx-Protime), die bei ihrem Rennen des Jahres die Cipressa und den Poggio so unauffällig hinaufkurbelte, als ginge sie der Kampf um den Premierensieg schlicht nichts an. Mancher ging es hingegen zu schnell. Mit einem Durchschnittstempo von 41,8 km/h raste die Spitze vom Start ins Ziel. „Vom Fuß des Poggio bis ins Ziel war jeder am Limit“, urteilte die aktuell beste Bergfahrerin im Peloton, die Niederländerin Demi Vollering und ergänzte: „Jetzt verstehe ich Pogis Frust – der letzte Anstieg ist so schnell vorbei.“ Der Slowene Pogačar, im Peloton „Pogi“ genannt, kämpft seit Jahren darum, pure Stärke in einen Sieg in San Remo umzumünzen. Aber Vollering tat viel weniger für einen eigenen Erfolg als der Angesprochene gut zwei Stunden später.
Anerkennendes Raunen gab es an den Bildschirmen in den Bars entlang der Strecke erst zu hören, als Longo Borghini spät, aber entschlossen, das Heft in die Hand nahm. Als sich nach der Abfahrt vom Poggio die Mitglieder der Spitzengruppe gegenseitig abwartend anguckten, nahm die Frau im dreifarbig gestreiften Trikot der Italienischen Meisterin mit einem beherzten Antritt auf den letzten zwei Kilometern Reißaus. Es sah erfolgversprechend aus. Doch dann entschloss sich Weltmeisterin Kopecky doch noch zu einem aufsehenerregenden Auftritt, wenn auch in einer Nebenrolle: Sie schleppte das knappe Dutzend Verfolgerinnen um Teamkollegin Lorena Wiebes alleine heran – rund 100 Meter vor dem Ziel war die Ausreißerin eingeholt, Wiebes, die aktuell schnellste Frau im Peloton, sprintete unwiderstehlich zum Sieg, vor der 37-jährigen Landsfrau Marianne Vos und der Schweizerin Noemi Ruegg. Demi Vollering blieb Rang vier. „Lotte war sehr wichtig. Ich bin ihr sehr dankbar – wir zahlen uns immer etwas gegenseitig zurück“, betonte die Gewinnerin die Bedeutung der entscheidenden Vorarbeit durch die Teamkollegin im Regenbogentrikot.
Während Kopecky und Wiebes sich mit ihren Teamkolleginnen hinter der Ziellinie auf der Via Roma jauchzend und lachend in die Arme fielen, gingen ein paar Schritte weiter einige schon in die kritische Rennanalyse. „Es war superschnell und chaotisch“, gab Urska Zigart im Ziel zu Protokoll. Die 28-jährige Slowenin kennt die Strecke bestens. Mit ihrem Lebensgefährten Tadej Pogačar wohnt sie im nahen Monaco und fährt im Training regelmäßig über die Straßen, die bei Mailand-San Remo entscheidend sind. Und natürlich schaut sie sich auch die Rennen ihres Liebsten an. „Wir geben uns gegenseitig Tipps“, betont sie. Das vielleicht prominenteste Paar im Radsport hat das Rennen allerdings noch nicht entschlüsselt, das siegbringende Erfolgskonzept noch nicht gefunden. Zigart kämpfte sich an der Cipressa am Ende des Spitzenfelds über die vorletzte Kuppe – dort, wo ihr Lebensgefährte gut zwei Stunden später alles versuchte, um La Classicissima endlich zu gewinnen. Beide mühten sich vergeblich. Mathieu van der Poel ließ sich nicht abschütteln und gewann schließlich den Zielsprint vor dem zähen Italiener Filippo Ganna und Pogačar, der zuvor das Rennen mit seinem UAE-Team geprägt und gestaltet hatte.
„Das Rennen so aufregend wie möglich zu machen, mein Bestes zu zeigen“, hatte Longo Borghini vor dem Rennen versprochen. Und sie hielt Wort. „Es ist ein schönes Rennen, weil das Finale so unvorhersehbar ist. Ich ziehe den Hut vor Lorena Wiebes – aber das nächste Mal werden sie mich nicht einholen“, sagte die knapp geschlagene Italienerin. Sie würde sehr gerne das nächste Erfolgskapitel schreiben. Die Geschichte von Mailand-San Remo bei den Frauen beginnt schließlich gerade erst.