In Italien nennen sie das Rennen “La Classica delle foglie morte”, den Klassiker des fallenden Herbstlaubs. Die Lombardei-Rundfahrt schließt traditionell die europäische Radsportsaison als letztes großes Eintagesrennen ab. Daran ändert auch nichts, dass die UCI vor einigen Jahren noch ein weiteres Rennen der wichtigsten Rennserie World-Tour ein paar Tage später und viele Tausende Kilometer entfernt in China platziert hat. Doch während bei der Tour of Guangxi eher Reservemannschaften an den Start gehen und mancher Radprofi die Fernreise zum Saisonende als Strafarbeit ansehen könnte, ist “Il Lombardia” der letzte große Showdown der weltbesten Radsportler. Die Startliste zeigt das letzte Mal im Jahr ein echtes Staraufgebot - das ist auch vor der nächsten Auflage am Samstag, 11. Oktober 2025, so.
In diesem Jahr will Welt- und Europameister Tadej Pogačar beim fünften und letzten Monument des Jahres, wie die wichtigsten klassischen Eintagesrennen genannt werden, einen Rekord aufstellen. Sollte der 27-jährige Slowene zum fünften Mal gewinnen, wäre er Rekordsieger und würde mit Fausto Coppi gleichziehen, dem italienischen Radsportheros der 1940er und 1950er-Jahre. Anders als der früh verstorbene Italiener, der von 1946 bis 1949 und dann nochmals 1954 erfolgreich war, würde “Pogi” eine makellose Serie hinlegen: Bei vier Starts seit 2021 erreichte er bisher viermal als Erster das Ziel - das abwechselnd in Bergamo oder Como liegt. Veranstalter RCS wechselt die Fahrtrichtung und Start- und Zielort jährlich. Diesmal geht es von Como früh im Rennen über die Madonna del Ghisallo und dann in die Vorberge der Bergamasker Alpen, ehe das Finale spätestens in der Auffahrt in die Altstadt von Bergamo, die Città alta, beginnt (siehe auch Meldung zur Strecke). Auch wenn sich die Charakteristik der Strecke je nach Fahrtrichtung etwas ändert, Pogačar ist wie immer der Topfavorit. Seine starke Spätform bewies er unter der Woche bei einem leichtfüßig herausgefahren Erfolg beim traditionsreichen Eintagesrennen Tre Valli Varesine.
Erster Herausforderer wie zuletzt: Remco Evenepoel, der hinter dem herausragenden Slowenen sehr häufig Zweiter oder Erster vom Rest war, wie zuletzt bei den Straßenrennen bei WM und EM oder im Vorjahr bei der Lombardei-Rundfahrt. Damals distanzierte ihn der ewige Rivale bei dem schwersten Eintagesrennen um satte 3:16 Minuten. Näher war der Belgier nie am Erfolg, der an die Lombardei-Rundfahrt zwiespältige Erinnerungen hat: Im Jahr 2020 war er in der Abfahrt von der Colma di Sormano über eine Brücke in eine Schlucht gestürzt und hatte sich übel verletzt. Zum erweiterten Favoritenkreis zählen der Brite Tom Pidcock (Q36.5 Pro Cycling Team), der nach dem Zieleinlauf gleich zur Gravel-WM weiterreisen will. Routinier Primoz Roglic geht als Leader für das deutsche Team Red Bull-Bora-hansgrohe ins Rennen. Der bald 36-jährige Slowene war beim letzten Klassiker bereits Dritter (2023) und Vierter (2021). Schon bei seinem Debüt bei Il Lombardia sollten die Konkurrenten auf den 19-jährigen Franzosen Paul Seixas (Decathlon-AG2R La Mondiale) achten, der zuletzt als EM-Dritter von sich reden machte. Ähnlich gute Chancen dürften Rennfahrer wie Mattias Skjelmose (Dänemark / Lidl-Trek), der irische WM-Dritte Ben Healy und Richard Carapaz aus Ecuador (beide EF Education-EasyPost) haben. Dazu kommt der zweimalige Weltmeister Julian Alaphilippe (Tudor), der sich zuletzt wieder in Siegform zeigte.
Weitere Rennfahrer haben das Zeug ganz vorne mitmischen, müssen aber als Teamkollegen Pogačars bei UAE Team Emirates-XRG aller Voraussicht nach dem Star den Vortritt lassen: Speziell der 21-jährige Isaac del Toro hat in dieser Saison gezeigt, dass ihm auf bergigen Terrain eine große Erfolge in Zukunft zuzutrauen sind. Seine Topform unterstrich er zwei Tage vor dem Lombardei-Start als Solo-Sieger des Eintagesrennens Gran Piemonte. Auch Adam Yates und der Franzose Pavel Sivakov dürfen an den langen Anstiegen in der Lombardei auf ein Top-Ergebnis hoffen.
Tausende Tifosi am Streckenrand begeistern sich meist an allen Radprofis, ihre besondere Aufmerksamkeit gilt aber natürlich den italienischen Landsleuten, auch wenn keiner von ihnen wie früher der 2022 zurückgetretene Vincenzo Nibali (Sieger 2015 und 2017) als Topfavorit gelten kann. Der Vorjahresdritte Giulio Ciccone hat kurzfristig seinen Start abgesagt. Unter den Italienern dürfen sich Christian Scaroni (XDS-Astana) und der aufstrebende Kletterer Giulio Pellizzarri vom Team Red Bull-Bora-hansgrohe Chancen auf Topplatzierungen ausrechnen. Nicht dabei ist auch das Team Israel-Premier Tech. Obwohl qualifiziert und grundsätzlich startberechtigt steht der Rennstall nicht auf der Startliste. Die Entscheidung, das Team nicht starten zu lassen, sei einvernehmlich erfolgt, ließ der Veranstalter RCS laut der Nachrichtenagentur AFP verlauten. Folge der vielen anti-israelischen Proteste am Streckenrand vor allem während der Vuelta a Espana, die zu massiven Sicherheitsproblemen geführt hatten.
Die deutschen Rennfahrer dürften sich wenig ausrechnen. Der Tour-Dritte Florian Lipowitz ließ über sein Team Red Bull-Bora-hansgrohe ausrichten, dass er seine Saison bereits früher als ursprünglich geplant beendet habe und nicht mehr an den Start gehen werde. Der Parcours dürfte am ehesten dem Deutschen Meister Georg Zimmermann liegen, der allerdings bei seinen Starts bei WM und EM von gesundheitlichen Problemen gehandicapt war. Die Durststrecke bezüglich deutscher Erfolge wird wohl anhalten. Es ist bald zwei Jahrzehnte her, dass ein Deutscher bei der Lombardei-Rundfahrt auf dem Podium stand. 2006 wurde Fabian Wegmann (Team Gerolsteiner) beim Sieg von Paolo Bettini Dritter - es war die beste Platzierung eines Deutschen seit der ersten Auflage im Jahr 1905.