Daniel Brickwedde
· 18.02.2024
Ein Vertragsjahr kann Nerven rauben. Insbesondere, wenn man als junger Fahrer erstmals in diese Situation kommt. Die Zukunft ist ungeklärt, irgendwann steht womöglich sogar die Karriere in Zweifel, der Druck steigt. Kim Heiduk kennt solche Phasen aber nur vom Hörensagen. “Ich habe relativ früh vom Team gesagt bekommen, dass wir nach den Klassikern über einen neuen Vertrag sprechen. Und dann war das früh besiegelt”, so Heiduk. Zur Halbzeit des Jahres stand fest: Für Heiduk geht es bei Ineos Grenadiers weiter. Der 23-Jährige erreicht damit eine neue Stufe seiner Karriere: Die zwei Rookie-Jahre sind vorbei, nun muss er als Fahrer weiter Konturen bekommen.
Was dabei herauskommen kann, dafür gab das Vorjahr ermutigende Anzeichen – sowohl für Heiduk als auch für sein Team. Da wären zum einen die nackten Ergebnisse: Beim kleineren italienischen Eintagesrennen Sampre Alfredo kam Heiduk zu Saisonbeginn auf Platz sieben, beim Pfeil von Brabant landete er auf Position zehn – und im Sommer sprintete er zum Auftakt der Österreich-Rundfahrt auf Platz drei. Zum anderen ist sein Standing im Team sichtbar gestiegen: Von Mailand-San Remo bis zum Amstel Gold Race gehörte Heiduk bei jedem großen Klassiker zum Aufgebot von Ineos und überzeugte in der Helferrolle. Später im Jahr nominierte ihn das Team zudem zu seiner ersten Grand Tour bei der Vuelta a Espana.
“Da wir ein Grand-Tour-Team sind und immer Ambitionen haben, ist es schwierig, überhaupt einen Platz zu ergattern. Ins Vuelta-Team zu kommen, ist alleine schon ein Sieg”, sagt Christian Knees, Sportlicher Leiter bei Ineos, der bis 2020 selbst zehn Jahre für das Team fuhr. Zwar lief die Vuelta insgesamt aufgrund fehlender Ergebnisse aus Team-Sicht ernüchternd, doch Heiduk zog die drei Wochen als Helfer durch, beendete seine erste Grand Tour auf Platz 139 – ein Meilenstein für jeden jungen Fahrer. “Das bringt einen Fahrer von der Grundsubstanz noch einmal auf ein anderes Level”, sagt Knees und fügt an: “Kim ist hungrig und will Rennen gewinnen, er stellt seine Ambitionen aber hinten an, wenn es für das Team besser ist. Diese Rolle hat er angenommen. Damit hat man charakterlich in einem so großen Team einen guten Stand.”
Knees ist Heiduks persönliche Anlaufstelle im Team und war vor zwei Jahren maßgeblich an dessen Verpflichtung beteiligt. Tippgeber war damals Florian Monreal, Teamchef des Continental-Teams Lotto Kern-Haus, für das Heiduk fuhr. Er machte Werbung für seinen Schützling, den Knees bis dato nur flüchtig kannte. Dieser war angetan, schickte alle relevanten Daten an die Entscheider bei Ineos – und es bestand tatsächlich Interesse.
Heiduk besuchte Knees daraufhin in Rheinbach, beide unternahmen eine Ausfahrt, tranken Kaffee und unterhielten sich. Kurz danach gab es den Profivertrag für Heiduk. Was Knees an dem gebürtigen Herrenberger gefiel: Heiduk war noch kein fertiger Fahrer, kein Überflieger bei den Junioren und hatte nebenbei noch eine Berufsausbildung absolviert. “Heutzutage besteht im Juniorenbereich teilweise eine extreme Professionalität. Dort wird bereits wie bei den Profis trainiert, mit Höhentrainingslager. Das hat aber auch den Nachteil, dass einige Junioren schon ziemlich ausgereizt sind”, sagt Knees. Bei Heiduk erkannte Knees allerdings noch einiges an “Headroom”, wie er es nennt, quasi Entwicklungsraum, um einen Fahrer zu fördern und fordern.
Der Sprung aus einem Continental-Team zu einer der erfolgreichsten und finanzstärksten Mannschaften im Radsport war dennoch gewaltig. “Das kann man überhaupt nicht in Relation setzen, das ist eine ganz andere Hausnummer”, so Heiduk. Das galt nicht nur für die Arbeitsweise und Betreuung, sondern auch für die prominenten Namen, mit denen er nun in einem Raum saß – Geraint Thomas, Luke Rowe, Filippo Ganna oder Thomas Pidcock. “Das fühlt sich zunächst nicht real an”, so Heiduk, “vorher ist man super weit weg davon und kennt sie nur aus dem Fernsehen, und dann fährt man mit denen zusammen Rennen. Ich hatte anfangs schon großen Respekt. Inzwischen ist es aber anderes, man ist ein Teamkollege geworden.”
Heiduk hat nun zwei Jahre im Profilager lernen dürfen, hat ein Gefühl dafür bekommen, bei welchen Rennen im Profilager er sich wohlfühlt, wo er Stärken entwickeln kann, was ihm wiederum aber auch nicht so liegt. Im Nachwuchsbereich überzeugte er vor allem als Sprinter, bei den Profis schließt er einen Fokus auf Massenankünfte allerdings aus. “Da hab keine Lust drauf, diese Masse aufbauen und dann versuchen, in jeden Sprint reinzuhalten”, sagt er. Zu eindimensional. Heiduk will vielseitiger sein: Die Sprintstärke behalten, aber gepaart mit einer Robustheit für selektiveres Terrain.
So habe ihm das Amstel Gold Race im Vorjahr “richtig Bock gemacht”, auch “Kopfsteinpflaster finde ich richtig gut”. Also die flämischen Klassiker, dazu die weniger höhenmeterlastigen Ardennen-Rennen wie Pfeil von Brabant oder das Amstel Gold Race, das könnte sein Ding sein. Heiduk will sich vieles aber noch offen halten. “Bei Klassikern und Eintagesrennen eine Leaderrolle und bei den Grand Tours als Helfer, das wäre eine gute Mischung. Aber ich bin noch nicht auf dem Level, dass ich mich auf die oder die Art von Rennen spezialisiere”, sagt er.
Sein Sportlicher Leiter Knees traut ihm in Zukunft auch die Rolle eines Road Captains zu. “Wie er sich im Feld bewegt, da hat er bereits das Niveau eines 30-Jährigen. Er ist jemand, der das Rennen lesen kann und irgendwann das Standing hat, Taktiken im Team anzusagen”, so Knees. Bei Heiduks Stärken liegt er indes auf einer Linie mit seinem Schützling. “Kim kann auf jeden Fall ein super Domestike werden. Aber natürlich möchte man auch selbst erfolgreich sein. Er ist endschnell und klettert gut. Aus kleineren Gruppen kann er erfolgreich sein. Ich traue ihm definitiv zu, dass er mal einen Klassiker und bei Rundfahrten Etappen gewinnt. Er hat ein gutes Paket.”
Knees hat Heiduks Entwicklung in den ersten zwei Jahren eng begleitet. Insbesondere in der ersten Saison gab es ständig Online-Meetings mit ihm und den Trainern, dazu fast täglichen Austausch. “Wir als Sportlicher Leiter versuchen den jungen Fahrer viel beizubringen. Nachbesprechungen zu den Rennen sind zum Beispiel sehr wichtig, um zu zeigen, was war gut, was ist nicht so gut gelaufen. Es sind all diese Kleinigkeiten, um die Entwicklung in die Spur zu bringen”, sagt Knees. Und man definierte zusammen Leistungsziele. Die Vorgabe aus dem Vorjahr: die Teilnahme an einer Grand Tour. “Der Platz bei der Vuelta war allerdings nicht von Anfang an klar, den musste er sich erarbeiten”, sagt Knees. Das neue Ziel für die Saison 2024: der erste Profisieg.
Seinen Leistungsfortschritt vom ersten zum zweiten Profijahr hat Heiduk 2023 derweil schnell bemerkt, bei der generellen körperlichen Verfassung, aber auch, wie er sich in und nach Rennen erholte: Die flämischen Klassiker fuhr er trotz Helferdiente allesamt zu Ende, auch bei seinen ersten World-Tour-Etappenrennen wie der Tour de Suisse kam er auf anspruchsvolleren Bergetappen deutlich besser zurecht. “Ich werde immer stärker und habe noch lange nicht das Gefühl, dass ich da ans Limit komme”, sagt Heiduk. “Ich wusste, dass ich bei den Junioren nie im ersten Jahr gleich zu den besten gehörte, auch nicht bei der U23. Ich habe immer etwas Zeit gebraucht. Daher war mir klar, dass es bei den Profis auch so sein wird.”
Die Saison 2023 endete jedoch mit einem Handbruch, den er sich bei der Europameisterschaft in Assen zuzog. Dieser stellte sich im Anschluss als komplizierter als zunächst angenommen heraus, inzwischen sei jedoch alles wieder normal, versichert Heiduk. Bei der Algarve-Rundfahrt gab er nun seinen Saisoneinstand, landete bei der Sprintankunft zum Auftakt auf Platz acht.
Sein Saisonhöhepunkt liegt indes bei den flämischen Klassikern. Außerdem hat sich Heiduk die Deutsche Meisterschaft markiert. Und auch ein erneuter Start bei einer Grand Tour steht in Aussicht. “Die Schritte, die ich im vergangenen Jahr, aber auch in diesem Winter gemacht habe, die geben mir sehr viel Selbstvertrauen”, so Heiduk. Neben einer guten Entwicklung soll 2024 aber auch etwas Vorzeigbares herauskommen. “Ich möchte mein erstes Rennen gewinnen. Mir ist auch egal welches, Hauptsache erst einmal eins. Irgendwo muss man anfangen.”