Sebastian Lindner
· 04.12.2023
Luis Leon Sanchez stammt nicht unbedingt aus einer radsportverrückten Familie. Sein Weg aufs Rad ist eher dem Zufall geschuldet. Und im Grunde auch großem Unglück. Sein Vater ist Polizist, wird bei einem terroristischen Angriff im Einsatz verletzt. Um die daraus resultierenden Knieprobleme zu bewältigen, verschreiben ihm seine Ärzte: Fahrradfahren. Um das nicht allein machen zu müssen, kauft er auch seinen beiden ältesten Söhnen, Leon und Luis Leon, ein Rad.
Fortan ist es passiert. Der fünf Jahre alte Luis verliebt sich genau wie sein Bruder in sein Bike. So sehr, dass sie eine Profikarriere anstreben. Während der Jüngere 20 Jahre lang damit sein Geld verdienen wird und erst kurz vor seinem 40. Geburtstag bei der Vuelta 2023 in Madrid seine Karriere ausklingen lässt, endet die des Älteren noch bevor sie wirklich beginnt. 2002 und 2003 fahren beide im U23-Team Once - Würth, ehe sich Leon dazu entscheidet, in die Fußstapfen des Vaters zu treten. Doch dazu kommt es nicht. 2005 stirbt er bei einem Unfall auf einem Quad.
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Luis Leon Sanchez fährt da gerade in seinem zweiten Profijahr bei Liberty Seguros und hat bereits die ersten fünf seiner letztlich 47 Siege eingefahren. Vor allem im Zeitfahren liefert er immer wieder ab. Auch sein erster Erfolg als Profi stammt vom Kampf gegen die Uhr. Bei der Alcobendas-Rundfahrt 2004, deren Zeitfahren er auch ein Jahr später gewinnt, lässt er unter anderem den späteren Weltmeister Bert Grabsch oder den spanischen Zeitfahrspezialisten Jose Ivan Gutierrez hinter sich.
In der Zwischenzeit sichert sich Sanchez auch seinen ersten Rundfahrt-Sieg. 2005 gewinnt er die Tour Down Under und holt einen Etappensieg. Den zweiten verschenkt er an seinen guten Freund und Teamkollegen Alberto Contador, mit dem er zwei Tage später Arm in Arm über die Ziellinie rollt.
Angetan vom Fahrstil des etwa ein Jahr älteren Madrilenen, arbeitet auch Sanchez an seinen Qualitäten am Berg. Darunter leiden aber zunächst seine Zeitfahrqualitäten. 2006 ist sein erstes - und bis 2022 letztes - Jahr ohne Saisonsieg. 2006 ist aber auch das Jahr des großen Dopingskandals um den spanischen Arzt Eufemiano Fuentes, in dessen Folge Liberty Seguros aufgelöst wird, als sich der Hauptsponsor zurückzieht, weil Teamchef Manolo Saiz wegen Verwicklungen in die illegalen Geschäfte verhaftet wird.
Sanchez kommt zunächst unbeschadet durch den Skandal, der ihn später nochmal einholen soll. Doch zunächst wechselt er zur neuen Saison ins Team Caisse d’Epargne. Und dort findet er in die Erfolgsspur zurück. Bei Paris-Nizza gewinnt Sanchez als Solist eine hügelige Etappe und sichert sich in der Gesamtwertung damit Platz 3. Es bleibt jedoch sein einziger Sieg des Jahres.
Erst in der Saison darauf läuft es besser. Wieder beim Rennen zur Sonne. Zunächst wird er auf der vorletzten Etappe Zweiter, das letzte Teilstück gewinnt er. Später im Jahr wird Sanchez erstmals Spanischer Meister im Zeitfahren. Kurz darauf folgt auch sein erster Sieg bei der Tour de France. Seinen bislang größten Sieg widmet er seinem verstorbenen Bruder.
In der Folge steigert sich Sanchez weiter, ist am besten auf Etappen, die zwar große Berge im Profil haben, aber nicht auf einem Gipfel enden. Und er wird zum Stammgast auf französischen Podien. Im Frühjahr gewinnt er die Tour Mediterraneen, eine Etappe der Tour Haut Var sowie erneut die Schlussetappe von Paris-Nizza. Und dieses Mal auch die Gesamtwertung.
Die Klassiker lässt er aus, schlägt dafür bei der Baskenland-Rundfahrt zu und reist im Sommer zur Tour, bei der er erneut als Ausreißer glänzt und die die 8. Etappe mit zwei Bergen der 1. Kategorie vor Sandy Casar für sich entscheidet.
2010 bleibt erstmals seit mehreren Jahren ein Erfolg bei Paris-Nizza aus, dafür gewinnt er Etappen in Down Under, bei der Algarve-Rundfahrt und die Sarthe-Tour. Zudem wird er wieder Spanischer Zeitfahrmeister und fährt so zur Tour de France. Dieses Mal unterliegt er Casar auf einer ähnlichen Etappe wie im Vorjahr im Ausreißerduell und wird Zweiter. Doch zeigt Luis Leon Sanchez bisher ungekannte Zähigkeit und wird als Bester seines Teams Neunter der Gesamtwertung.
Die gute Form beweist der Mann aus Mula in der Nähe von Murcia auch bei der Classica San Sebastian. Er siegt beim spanischen Eintagesrennen vor Alexandre Vinokourov und Carlos Sastre. Im Zuge des Erfolgs fährt Sanchez dann auch erstmals in einer Saison zwei Grand Tours. Auch die Vuelta beendet er letzlich als Neunter überraschend weit vorne.
Doch zum großen Rundfahrer wird er dennoch nicht mehr. Denn sein neues Team Rabobank - aus Caisse d’Epargne wird 2011 Movistar, aber ohne Sanchez - sieht andere Qualitäten in seiner Neuverpflichtung. Die Niederländer wollen lieber den aggressiven Etappenjäger. Zudem hat Sanchez eigentlich auch die Fähigkeiten eines Klassikerjägers. Doch bei den 24 Monumenten, bei denen er Zeit seiner Karriere startet, reicht es nie für die Top 10.
Dafür verteidigt Sanchez erstmals seinen Titel als Spanischer Zeitfahrmeister. Bei der Tour schlägt er erneut auf der 9. Etappe zu. Wieder ist Casar dabei, doch der wird diesesmal nur Dritter aus der Ausreißergruppe heraus. Erneut steht auch die Vuelta auf seinem Programm, doch hier klappt es nicht mit dem Etappensieg. Und wie bei der Tour fällt der Angriff aufs Gesamtklassement aus.
2012 ist wieder alles beim Alten. Etappensieg bei Paris-Nizza. Spanischer Meister im Zeitfahren. Ausreißersieg bei der Tour de France vor Peter Sagan und Sandy Casar. Auch in San Sebastian gewinnt Sanchez wieder. Zudem gehen zwei Tagessiege am Stück bei der Romandie auf sein Konto. Vielleicht ist es sein bestes Jahr.
Doch danach wird es ungemütlich. Im Oktober 2012 veröffentlicht die amerikanische Anti-Doping Agentur ihren Bericht über die skandallösen Zustände im US Postel Team um Lance Armstrong. Rabobank kündigt daraufhin das Ende seines Engagements im Radsport an. Überall werden wieder Fragen gestellt. In den Niederlanden genießt Sanchez nicht mehr den Status des Volkslieblings wie zuvor bei den spanischen Teams. 2007 hatte er noch jeglichen Kontakt zu Fuentes im Dopingskandal ein Jahr zuvor abgestritten. Zwar räumte er ein, mit dem ebenfalls umstrittenen Dr. Michele Ferrari gearbeitet zu haben. Doch das störte in Spanien keinen.
Im von Rabobank finanzierten Team Blanco wird nun aber angesichts der Situation genauer hingeschaut. Im Februar 2013 wird Sanchez suspendiert, das Team wolle seine Vergangenheit nochmal genau unter die Lupe nehmen. Nachdem nichts Handfestes zu finden ist, darf der inzwischen 29-Jährige ab Mai wieder Rennen fahren. Beim seinem Wiedereinstieg gewinnt er sofort eine Etappe der Belgien-Rundfahrt.
Wirklich überzeugt ist bei Blanco aber niemand von Sanchez’ Unschuld, weshalb der noch bis 2015 laufende Vertrag gegen eine Entschädigungszahlung aufgelöst wird. Also muss sich Sanchez ein neues Team suchen, doch in der World Tour kommt er nicht unter. Dafür geht er zurück in die Heimat. Beim zweitklassigen Team Caja Rural - Seguros gewinnt er zwei Etappen bei kleineren Rundfahrten. Per Wildcard darf das Team zur Vuelta. Und Sanchez holt sich das Bergtrikot vor seinem Kumpel Contador. Es bleibt der einzige Sieg, den er bei der Vuelta feiern kann, ein Etappensieg gelingt ihm bei 14 Teilnahmen nie.
Nach dem Jahr bei Caja Rural findet Luis Leon Sanchez zurück in die World Tour. Astana, und damit das Team, das einst die Lizenz von Liberty Seguros übernommen hatte, sichert sich seine Dienste. Jahr für Jahr gewinnt er Etappen bei kleineren Rennen, 2016 unter anderem eine Etappe der Baskenland-Rundfahrt und 2018 erstmals sein Heimrennen, die Murcia-Rundfahrt. An die großen Erfolge der Vergangenheit kann er bei den Kasachen aber nicht mehr anknüpfen. Allerdings ist Sanchez mittlerweile auch schon 35 Jahre alt. 2020 wird er aber erstmals Spanischer Meister auf der Straße.
Sieben Jahre bleibt er bei Astana. Dann wechselt Sanchez 2022 ein Jahr zu Bahrain-Victorious. Erstmals seit 16 Jahren fährt er keinen Saisonsieg mehr ein, obwohl er bei der Tour de France an einem Tag für Ausreißer als Dritter nochmal dran schnuppert. Für ein Karriereende reicht ihm das nicht. Für 2023 kehrt er zu Astana zurück. Gemeinsam mit dem zweiten Oldie im Team, Mark Cavendish, fährt er seine vermeintlich letzte Tour. Und genau wie der Sprinter muss Sanchez das Rennen nach einem Sturz mit Schlüsselbeinbruch aufgeben.
Doch anstatt deshalb noch ein Jahr ranzuhängen, will er die Karriere bei der Vuelta beenden. Am zweiten Ruhetag macht er das öffentlich. Und stürzt kurz darauf. Für einen Moment sieht es wieder nicht gut aus. Öfters verfolgte ihn das Sturzpech. Auch bei der Tour 2018 musste er bereits nach der 2. Etappe aufgeben, veröffentlichte später Schockfotos aus dem Krankenhaus. Doch diesmal berappelt er sich, fährt die Vuelta zu Ende und lässt sich in Madrid bandagiert an Armen und Beinen feiern.
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Die 21. Etappe der Vuelta ist Sanchez’ 1582. Renntag in seiner Karriere, verrät eine Statistik auf procyclingstats.com. Umgerechnet sind das vier Jahre und 122 Tage. Zumindest in der jüngeren Vergangenheit gibt es kaum Fahrer, die mehr Renntage absolviert haben. Nur Philippe Gilbert und Davide Rebellin werden noch vor ihm geführt. Die Saison 2023 beendet er mit 90 Tagen im Rennsattel, keiner hat mehr. 2019 liefert er mit 97 Tagen seinen persönlichen Bestwert.
Doch auch für einen Vielfahrer kommt irgendwann die Zeit. “Es ist nicht leicht, dieses wunderbare Spiel zu beenden, das begann, als ich fünf Jahre alt war. Wer würde diesem Kind sagen, dass alle seine Träume in Erfüllung gehen würden?”, sagt er in seinem Statement am Vuelta-Ruhetag. “Aber alles hat ein Ende, und ich denke, die Zeit ist gekommen. Der Radsport hat mir viel gegeben, mehr als ich mir je hätte vorstellen können.”