John Degenkolb im TOUR-Interview“Ich habe noch das Zeug, bei den großen Rennen vorne dabei zu sein”

Daniel Brickwedde

 · 26.03.2024

John Degenkolb hat für dsm-firmenich PostNL auch in diesem Jahr große Ziele bei den Klassikern.
Foto: picture alliance / Roth / CV
Mit den Pavé-Klassikern steht für John Degenkolb die wichtigste Saisonphase an. Im Interview mit TOUR spricht er über den folgenreichen Sturz bei Paris-Roubaix im Vorjahr, seinen eigenen Kopfsteinpflaster-Sektor bei dem Rennen und die schwierige Frage, wie lange er seine Karriere noch fortsetzt.

John Degenkolb bei Tirreno-Adriatico

Dieses Frühjahr bringt für John Degenkolb noch einmal neue Eindrücke. Erstmals seit 2013 stand wieder die Fernfahrt Tirreno-Adriatico auf seinem Rennplan – anstatt der üblichen Vorbereitung bei Paris-Nizza. Diese Änderung ist auf Degenkolbs neue Rolle im Team dsm-firmenich PostNL zurückzuführen: Im Karriereherbst ist der 35-Jährige vor allem als Mentor und Führungsperson gefragt – unter anderem für den jungen Sprinter Casper van Uden. Und dieser startete in diesem Jahr eben bei Tirreno-Adriatico, also stand dort auch Degenkolb im Aufgebot.

Nach der 4. Etappe der Fernfahrt nahm sich Degenkolb Zeit, um mit TOUR über ein anderes Thema zu sprechen: die Pavé-Klassiker – insbesondere Paris-Roubaix, Degenkolbs Höhepunkt in jedem Jahr. 2015 gewann er das Monument in Nord-Frankreich, 2018 holte er sich in Roubaix zudem einen Etappensieg bei der Tour de France.

Im Vorjahr fuhr Degenkolb nach ergebnismäßig schwächeren Jahren im Finale plötzlich wieder ganz vorne mit bei Paris-Roubaix – ehe eine unglückliche Kollision mit Mathieu van der Poel ihn zu Fall brachte. Warum er van der Poel keinen Vorwurf macht, weshalb er bei den Rennen nicht auf die Konkurrenz schaut und was ihn motiviert, auch mit 35 Jahren noch mindestens ein weiteres Jahr als Radprofi dranzuhängen, darüber spricht Degenkolb im Interview mit TOUR.

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John Degenkolb im TOUR-Interview

TOUR: Herr Degenkolb, Ihr Saisonstart sah in diesem Jahr etwas anders aus: Kein Omloop het Nieuwsblad und kein Paris-Nizza, dafür Le Samyn und Tirreno-Adriatico. Gab es dafür einen tieferen Grund?

John Degenkolb: Das ist nicht mit einem Grund zu erklären, sondern etwas komplexer. Wir haben als Team entschieden, dass Nils Eekhoff und ich mit Omloop het Nieuwsblad dieses Jahr einen Klassiker weniger fahren. Bei Kuurne-Brüssel-Kuurne hat sich das bereits mit dem fünften Platz von Nils ausgezahlt. Bei Le Samyn haben wir dann ein bisschen Pech gehabt mit technischen Problemen. Ich habe mich dort nach Kuurne aber auch nicht ganz so frisch gefühlt. Tirreno-Adriatico bin ich zuvor in meiner Karriere nur einmal gefahren, weil ich eigentlich ein Dauerstarter bei Paris-Nizza bin. Seit Saisonbeginn fahre ich die Rennen allerdings mit unserem Sprinter Casper van Uden. Das Team schaut dann immer, dass so eine Gruppe zusammenbleibt. Und da Casper Tirreno gefahren ist, bin ich ebenfalls in das Rennen gerutscht.

Inzwischen ist John Degenkolb vor allem als Mentor und Road Captain im Einsatz.Foto: picture alliance / Roth / CVInzwischen ist John Degenkolb vor allem als Mentor und Road Captain im Einsatz.

TOUR: Macht die neue Rennplanung einen Unterschied in der Vorbereitung auf die großen Klassiker im April? Und gab es in der Vergangenheit für Sie einen optimalen Weg zu den Klassikern?

John Degenkolb: Das macht nicht wirklich einen Unterschied. Meine Situation als Rennfahrer und innerhalb der Mannschaft hat sich inzwischen ja auch relativ stark verändert. Ich bin nur noch bei den Klassikern in einer geschützten Rolle unterwegs und jemand, der Ergebnisse einfahren soll. In den anderen Rennen bin ich derjenige, der die anderen so lange wie möglich beschützt. Deswegen kann man das mit früheren Jahren nicht vergleichen. Damals war ich häufig der Leader bei Paris-Nizza und habe sogar einmal das Gelbe Trikot dort getragen. Das hat sich schon verändert. Für mich persönlich ist es wichtig, dass ich im Vorfeld einen relativ harten Rennblock habe. Bei Tirreno-Adriatico gab es mehrere Etappen über 200 Kilometer und mit teilweise widrigen Wetterverhältnissen. Das ist daher schon eine gute Vorbereitung auf die Klassiker.

Degenkolb: Erfahrung bei Paris-Roubaix wichtiger als bei anderen Rennen

TOUR: Im Vorjahr schien die Vorbereitung zumindest gut funktioniert zu haben. Bei Paris-Roubaix fuhren Sie im Finale plötzlich wieder ganz vorne mit. Welche Rückschlüsse haben Sie gezogen, warum es 2023 deutlich besser lief als in den Jahren zuvor?

John Degenkolb: Im Frühjahr hatte ich einfach eine gute Form. Nicht nur bei Roubaix, der positive Trend zeichnete sich auch schon in den Rennen davor ab. Viele Dinge können die Form beeinflussen: Kurz krank sein, ein Rennen verpasst und dadurch eine neue Planung – das sind Faktoren, die man nicht in der eigenen Hand hat. Im Vorjahr konnte ich das Momentum aber nutzen – in Kombination mit meiner Erfahrung, die bei Paris-Roubaix noch einmal einen Tick wichtiger ist als bei anderen Rennen. Das war letztendlich der Schlüssel zum Erfolg. Wobei Erfolg ja in Anführungszeichen zu setzen ist …

Nach einer Kollision mit Mathieu van der Poel kam John Degenkolb bei Paris-Roubaix im Vorjahr zu Fall.Foto: picture alliance/dpa/Belga / Pool Bernard PaponNach einer Kollision mit Mathieu van der Poel kam John Degenkolb bei Paris-Roubaix im Vorjahr zu Fall.

TOUR: In der Schlussphase stürzten Sie im Sektor Carrefour de l'Arbre nach einer Kollision mit dem späteren Sieger Mathieu van der Poel. Am Ende kamen Sie auf Platz sieben ins Ziel.

John Degenkolb: An dem Tag wäre durchaus mehr möglich gewesen. Am Ende war der Sturz ein saublöder Zufall. Ich wollte nicht bremsen, Mathieu wollte nicht bremsen – und wenn man keinen Asphalt unter den Reifen hat, dann rutscht man weg. In dem Moment konnte ich nicht wirklich etwas tun und liege im nächsten Moment am Boden und muss auf mein Ersatzfahrrad warten. Damit war das Rennen gelaufen. Ich mache Mathieu aber persönlich keinen Vorwurf. Er hat es nicht mit Absicht gemacht, sondern wurde selbst von seinem Teamkollegen in meine Richtung gedrängt. Es war einfach eine unglückliche Verkettung. Wir haben hinterher nicht darüber gesprochen. Ich bin ihm aber nicht böse. Es war ein Rennunfall, der so passieren kann.



Degenkolb: “Normalerweise für Platz sieben nicht so gefeiert”

TOUR: Im Velodrom von Roubaix konnten Sie die Tränen der Enttäuschung über den Rennausgang allerdings nicht verbergen. Wie lange hat es gebraucht, diesen Rennausgang zu verarbeiten?

John Degenkolb: Das war schon ein derber Rückschlag. Anderseits habe ich aus dem Rennen auch große Motivation gezogen: Ich habe immer noch das Zeug, bei den großen Rennen im Finale dabei zu sein. Und es war gut, dass ich Platz sieben noch ins Ziel gerettet habe. Dafür musste ich allerdings richtig kämpfen. Als ich ins Velodrom eingefahren bin, war die Atmosphäre Wahnsinn. Das war schon krass. Normalerweise wird man für einen siebten Platz nicht so gefeiert. An dem Tag war es aber die Geschichte des Rennens. Das ist ja das Schöne, was den Radsport so ausmacht.

TOUR: Sie sind seit über zehn Jahren bei den großen Frühjahrsklassikern dabei. Inwiefern haben sich die Rennen verändert?

John Degenkolb: Heute werden die Rennen viel früher eröffnet. Die Favoriten haben teilweise keine Angst mehr, bereits 100 Kilometer vor dem Ziel ihre Karten auf den Tisch zu legen. Das hat man schon im Vorjahr bei Paris-Roubaix und anderen Rennen gesehen. Und in diesem Jahr ist das noch einmal getoppt worden, durch Tadej Pogacar bei der Strade Bianche (Pogacar setzte sich 80 Kilometer vor dem Ziel als Solist ab; Anm. d. Red.) oder Wout van Aert bei Kurrne-Brüssel-Kuurne (van Aert griff 90 Kilometer vor dem Ziel an; Anm. d. Red.). Die Leistungen, die man fahren muss, werden definitiv jedes Jahr höher. Man muss fitter sein, um alles durchzustehen.

2015 gewann John Degenkolb den Klassiker Paris-Roubaix.Foto: picture alliance / Augenklick/Roth2015 gewann John Degenkolb den Klassiker Paris-Roubaix.

TOUR: Was macht diese frühe, offensive Fahrweise mit dem Kopf?

John Degenkolb: Es ist wichtig, sein eigenes Rennen zu fahren. Ich habe mich nie wirklich damit beschäftigt, wann Mathieu van der Poel oder Wout van Aert attackieren. Man muss sich vorher einen Plan und Gedanken darüber machen, wie man sein bestes Ergebnis einfahren kann. Im Vorjahr beispielsweise, als Wout van Aert früh bei Paris-Roubaix angriff, bei diesem Sektor wusste ich, dass ich ganz vorne sein muss. Und dann war es Zufall, dass ich am Hinterrad von Wout war. Dann braucht man allerdings auch die Beine, um mitzufahren.

Degenkolb und die Frage nach dem Zeitpunkt für das Karriereende

TOUR: Sie haben erst vor wenigen Wochen Ihren zum Saisonende auslaufenden Vertrag im Team dsm-firmenich PostNL um ein weiteres Jahr verlängert. Was war ausschlaggebend dafür?

John Degenkolb: In erster Linie, dass ich mich in der Mannschaft wohlfühle. Das ist die Mannschaft, in der ich meine Karriere eigentlich beenden möchte. Am Ende dieser Saison wäre es mir persönlich aber zu früh gewesen. Daher haben wir schon frühzeitig nach der vergangenen Saison angefangen, uns über eine Verlängerung zu unterhalten. Ich glaube, dass ich in einem Alter bin, wo man von Jahr zu Jahr schaut und dann frühzeitig entscheidet, geht es noch weiter – oder nicht. Es ist ein großes Invest, Radprofi zu sein. Denn ich bin gleichzeitig auch Familienvater, habe zwei tolle Kinder und eine wundervolle Frau zu Hause, die den Laden alleine schmeißen muss, wenn ich unterwegs bin. Dementsprechend ist es immer ein Thema, dass man im Kopf hat: Kann ich dieses Invest noch geben, alles reinwerfen und die Familie hintenanstellen? Oder ist der Moment gekommen, dass man seine Karriere beendet. Es ist aber auch nicht gesagt, dass 2025 mein letztes Jahr ist.

John Degenkolb vor dem Start von Kuurne-Brüssel-KuurneFoto: Getty Images/Luc ClaessenJohn Degenkolb vor dem Start von Kuurne-Brüssel-Kuurne

TOUR: Im Herbst Ihrer Karriere haben Sie im Team eine neue Rolle als Mentor und Road Captain gefunden. Inwiefern war auch das eine Motivation, noch weiterzumachen?

John Degenkolb: Für mich ist es total erfüllend, wenn ich mit einem jungen Sprinter wie Casper van Uden meine Erfahrung mitgeben kann und wir als Mannschaft davon profitieren. Und wenn dann noch Erfolge kommen, ist das total geil. Das macht für mich den Sport auch aus. Als ich in dem Alter von Casper war, hat mir Roy Curvers als Road Captain geholfen – heute ist er Sportlicher Leiter im Team. Ich bin damit groß geworden, dass man Unterstützung von jemanden bekommt, der mit ganz anderen Augen auf den Radsport schaut als ein 22-Jähriger. Daher ist es für mich schon ein Traum, im Herbst meiner Karriere weiterhin erfolgreich zu sein – auch wenn ich selbst im Sprint nicht mehr die Explosivität und Spritzigkeit habe und die Watt nicht mehr auf die Pedale bekomme. Ich weiß aber trotzdem, was ich zu tun habe und kann den jungen Leuten auf ihrem Weg helfen.

Roubaix ist für John Degenkolb ein besonderer Ort, 2018 gewann er dort eine Etappe der Tour de France.Foto: picture alliance / Augenklick/RothRoubaix ist für John Degenkolb ein besonderer Ort, 2018 gewann er dort eine Etappe der Tour de France.

TOUR: Kommen wir zurück zu Paris-Roubaix. Seit 2018 sind Sie Botschafter für den Verein Les Amis de Paris-Roubaix, der sich unter anderem um den Erhalt der Pavé-Sektoren kümmert. 2019 halfen Sie entscheidend mit, das Juniorenrennen zu retten. Dafür haben Sie als einzig aktiver Fahrer nun einen Pavé-Sektor im Rennen, der Ihren Namen trägt. Leidet man auf diesem Abschnitt weniger?

John Degenkolb: Das war im vergangenen Jahr zumindest schon etwas sehr Besonderes, als ich als erster Fahrer aus der Spitzengruppe dort eingefahren bin. Familie und Freunden standen am Streckenrand. Das war definitiv ein Gänsehautmoment, den ich nicht mehr vergessen werde. In der Gruppe war ich mit Mads Pedersen unterwegs, inzwischen ein guter Freund von mir. Kurz vor dem Sektor habe ich ihm gesagt, dass ich gleich als Erster dort reinfahren will. Da hat er nur gesagt: Kein Stress, der gehört dir.

TOUR: Welche Ziele haben Sie sich für die kommenden Pavé-Klassiker vorgenommen?

John Degenkolb: Das Maximum herausholen, was noch in den müden und alten Beinen steckt (lacht). Spaß beiseite. Ich hoffe, dass ich die Chancen, die sich bieten, bestmöglich nutzen kann. Nicht nur für mich, sondern auch als Mannschaft. Das eine oder andere Top-Ergebnis wäre mein großer Wunsch. Oberste Priorität hat aber Paris-Roubaix. Das ist definitiv das Rennen, wo mein Hauptfokus liegt. Bis dahin bieten sich aber auch andere Chancen und gute Rennen.

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