Die 4. Folge der Amazon-Prime-Doku “Jan Ullrich - Der Gejagte” mit dem Titel “Absturz” blickt auf Ullrichs Zeit nach dem Ausschluss von der Tour de France 2006, seine Beziehung zu den Medien, seine Suchtmittel-Abhängigkeiten und damit verbundene Abstürze sowie den Kampf zurück ins Leben.
Im Jahr 2006 wird Jan Ullrich kurz vor dem Start der Tour de France suspendiert, weil ein handfester Doping-Verdacht ans Tageslicht kommt. Da die Ereignisse bereits in der 1. Folge geschildert worden sind, wird sich hier auf die interne Kommunikation des Teams Telekom fokussiert. So habe Ullrich Christian Frommert, dem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit des Teams, intern zugesichert, dass an den Vorwürfen gegen ihn “nichts dran” sei. Die Tour-de-France-Suspendierung trifft Ullrich schwer, der anschließend starker öffentlicher Kritik ausgesetzt ist. Lange Zeit schweigt er zur Doping-Thematik. Nicht nur ihn selbst, seine ganze Familie trifft der Skandal: Sein Bruder Stefan verliert seine Anstellung als Mechaniker, seine Mutter muss sich psychologische Hilfe suchen. Auch juristische Schritte werden gegen Ullrich eingeleitet. Wegen einer Strafanzeige aufgrund von Betrug muss er sich neben der öffentlichen Kritik zusätzlich rechtfertigen. Er sucht die Flucht ins Private, heiratet Sara Steinhauser und zieht sich mit ihr aus der Öffentlichkeit zurück.
“Wie kann ich jemanden betrügen, der das Gleiche macht? Es ist ja nur eine Anpassung. Und so hat man sich selbst damals belogen” - Jan Ullrich, in Bezug auf das Thema Doping
Immer klarer kommt der Doping-Skandal um Eufemiano Fuentes ans Tageslicht. Der Spanier soll eines der größten Doping-Netzwerke der Welt aufgebaut haben. Als mit Jef D’hont ein ehemaliger Team-Telekom-Mitarbeiter und weiterer Kronzeuge auspackt, kristallisieren sich die Doping-Strukturen im deutschen Radsport-Team immer mehr heraus. Auch die Sportmedizin der Universität Freiburg, die medizinisch verantwortlich für das Team Telekom war, ist in den Skandal involviert.
“Ich mache es nicht wegen des Geldes, ich mache es aus Berufung, weil es mir gefällt, weil ich mich gut dabei fühle.” - Eufemiano Fuentes
Im Jahr 2007 legen Ullrichs langjährige Teamkollegen Erik Zabel und Rolf Aldag Doping-Geständnisse ab. Ullrich veranstaltet rund drei Monate vorher Ende Februar auch eine Pressekonferenz. Statt den Doping-Gebrauch zu gestehen, kritisiert er die Vorverurteilung der Medien ihm gegenüber. In beiläufigen Sätzen erwähnt er seinen Radsport-Rücktritt und bewirbt anschließend unterschiedliche Produkte. Jan Ullrich selbst bezeichnet in der Doku retrospektiv die Pressekonferenz als “völlig bescheuert. Eigentlich hätte die Botschaft nur sein sollen, dass ich meine Karriere beende.” Zahlreiche Interview-Anfragen lehnt Ullrich anschließend ab, einer stimmt er aber zu: einem Interview mit Reinhold Beckmann. Er schildert eine Abmachung mit Beckmann, in der er mitgeteilt haben soll, keine Fragen zur Doping-Thematik beantworten zu können. Trotzdem behandelt der Großteil des Interviews jenes Thema - “man hat Jan schon bloßgestellt”, schildert Christian Frommert.
“Jan [...] wollte auch mal austeilen, weil alle auf ihn draufhauen [...], einfach mal zurückschlagen.” - Ex-Ehefrau Sara Steinhauser über Ullrichs Pressekonferenz 2007
Jan Ullrich zieht sich mit seiner Familie in die Schweiz zurück und verfällt mehr und mehr illegalen Drogen. Im Jahr 2014 verursacht der Ex-Radprofi einen Autounfall unter Rauschmittel-Einfluss. Im Jahr 2015 zieht die Familie dann nach Mallorca, wo er nach Ruhe und Ausgleich durchs Radfahren sucht. Auf der spanischen Insel gerät Ullrich aber in falsche Kreise. “Du siehst jemanden, der so aussieht wie Jan, ist aber ein umgedrehter Handschuh, komplette Wesensveränderung. [...] Das kann man sich gar nicht vorstellen”, erklärt Sara Steinhauser. Im Frühjahr 2018 verlässt seine damalige Frau mit den Kindern Mallorca. “Dann bin ich in so ein Loch gefallen, dann kam auch der harte Alkohol dazu und auch Kokain. [...] Das hat mich zerbrochen.”, erinnert sich Ullrich.
Besorgte Freunde kontaktieren Richard Steiner, eine ehemalige Rotlicht-Größe in Wien, der Ullrich helfen soll. Über Box-Training versucht Steiner, einen Zugang zu Ullrich herzustellen. Nachdem Til Schweiger, Freund und Nachbar des Ex-Radprofis, eine Auseinandersetzung mit Ullrich hat, macht er dessen Zustand öffentlich. Anschließend entscheidet sich Ullrich, eine Entzugsklink aufzusuchen. Ehe er dieses Vorhaben umsetzt, will er “nochmal einen draufmachen.”, so Ullrich. Eine Escort-Dame erhebt nach Meinungsverschiedenheiten mit Ullrich Vorwürfe, dass dieser sie an jenem Abend hätte umbringen wollen. Die Anklage wird aber schnell fallen gelassen.
In der Klinik in Bad Brückenau besucht sein früherer großer Kontrahent Lance Armstrong Jan Ullrich. Dort befand sich der Deutsche “in einem sehr schlechten Zustand. Ich hatte so etwas noch nie gesehen.”, schildert der US-amerikanische ehemalige Radsportler. Mit dem Klinik-Aufenthalt ist Ullrich unzufrieden, sodass er sich Hilfe bei seinem Freund Mike Baldinger sucht. Der holt den Abgestürzten zurück in seine Heimat, ins breisgauische Merdingen. Dort gelingt ihm eine Art Neuanfang.
“Ich war am Tiefpunkt. Mein Gefühl sagte mir, du bist hilflos.” - Jan Ullrich nach seinem abgebrochenen Klink-Aufenthalt
Im Jahr 2021 verzeichnet Ullrich einen Rückfall und ist auf Hilfe angewiesen. Erneut hilft ihm sein früherer Rivale: Lance Armstrong reist nach Mexiko, um seinem Freund zu helfen. Nach einem anschließenden Klink-Aufenthalt folgt kein weiterer Rückfall mehr. “Ich glaube, dass er es verarbeitet hat.”, teilt Mike Baldinger mit.
Zum Ende der Serie führt die “ReTour” Jan Ullrich über Mallorca nach Paris, zu dem Ort, an dem er 1997 seinen größten Erfolg feierte. “Diese Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, wenn die mal beendet ist, dann kann er diese Tür schließen und einen neuen Schritt gehen”, erklärt Sara Steinhauser. In Paris richtet sich Ullrich an seine Fans: “Ich muss mich bei meinen Fans entschuldigen. Ich habe immer gesagt, dass ich niemanden betrogen habe. Aber dieses ‘niemand’ war falsch. Für mich war das auf meine Gegner getrimmt, aber die Fans gehören auch dazu.”
Die 4. Folge von “Jan Ullrich - Der Gejagte” stellt die Geschehnisse in Ullrichs Leben nach dem Schicksalsjahr 2006 dar. Geschildert werden die Ereignisse in chronologischer Reihenfolge. Zwar sind sie daher leicht nachvollziehbar, es werden aber etliche Themen und Ebenen angeschnitten, die die Handlung ein wenig überladen: Den Rahmen bildet die “ReTour”, der Hauptstrang sind die Vorkommnisse in Jan Ullrichs Leben nach 2006. Dazu werden immer wieder weitere Themen angedeutet: die Geschichte der Sportmedizin im Zusammenhang mit dem Doping oder das Verhalten von Suchtpatienten.
Vor allem zu Beginn der Folge überschlagen sich die Ereignisse rund um Ullrich, der rote Faden geht dort ein wenig verloren. In der Zeit rund um das Jahr 2006 werden viele Thematiken erwähnt, während die Zeit zwischen 2007 und 2014 ausgespart bleibt. Zwar wirkt die 4. Folge etwas überladen, sie erzählt aber auch in aller Kompaktheit viele Details aus Ullrichs Leben und stellt Gründe und Motive von Ullrichs Handeln dar. Der Redeanteil ist nicht nur bei ihm sehr hoch, auch seine Ex-Frau Sara Steinhauser kommt oft zu Wort, die den Lebensabschnitt aus ihrer Perspektive schildert.
Passend zur Amazon-Doku haben wir noch einen Buchtipp: “Ulle” - Jan Ullrich. Geschichte eines tragischen Helden. Autor Sebastian Moll beleuchtet den Aufstieg und den tiefen Fall des Tour-de-France-Siegers. Das Buch ist im Delius Klasing Verlag erschienen und hier erhältlich.