Als Raul Alcala bei der Tour de France auf sich aufmerksam machte, da war an Isaac del Toro noch nicht zu denken. Alcala gewann 1987 das Weiße Trikot, schaffte es insgesamt dreimal unter die Top 10 der Gesamtwertung. Dazu gewann er zwei Etappen. Auch die Vuelta beendete er zweimal unter den ersten Zehn. Bei der Clasica San Sebastian feierte er einen großen Sieg.
Seit mehr als 30 Jahren wartet Mexiko, nicht gerade eine Radsport-Nation, auf den Nachfolger seines bisher erfolgreichsten Profis auf zwei Rädern. Dass es um den Nachwuchs lange Zeit nicht gut stand, bewies Alcala 2010 mit 46 Jahren, als er nach einem Comeback nochmal Zeitfahrmeister des Landes wurde. Doch die Suche nach einem legitimen Erben scheint nun beendet.
Isaac del Toro, Jahrgang 2003, tritt nun in Alcalas Fußstapfen. 2023 gewann er - nahezu unbekannt - die Tour de l’Avenir mit einem Etappensieg und sämtlichen Sonderwertungen sowie mehr als einer Minute Vorsprung auf die vor allem aus Europa stammende Konkurrenz. Und das nahezu ohne Hilfe, denn die mexikanische Nationalmannschaft erwies sich ansonsten als kaum konkurrenzfähig. Der Sieg im August brachte ihm im Oktober einen Profivertrag ein. Und nicht nur irgendeinen: Del Toro unterschrieb für drei Jahre und dem Vernehmen nach weit vom Mindestgehalt entfernt beim UAE Team Emirates, der besten Mannschaft der Saison. Laut Gazzetta dello Sport hatten elf Teams aus der World Tour Interesse.
Auf ein oder mehrere Jahre Lehrzeit in der U23 verzichtete del Toro damit. Doch das scheint kein Problem zu sein, wie er bereits unter Beweis stellte. Den inoffiziellen Auftakt der Tour Down Under 2024 beendete der Mann von der Halbinsel Niederkalifornien hinter den gestandenen Profis Jhonatan Narvaez und Natnael Tesfatsion bereits als Dritter. Bei der Tour selbst düpierte er auf der 2. Etappe die Sprinter und feierte an seinem zweiten Renntag in der World Tour seinen ersten Sieg.
Die heimische Presse nutzte den Erfolg zum Anlass, um bei Alcala nachzufragen. La Jornada sagte der Altmeister über seinen sportlichen Erben: “Es ist wunderbar, was dieser Junge erreicht hat, er hat eine große Zukunft, er ist ein Gewinner mit einem hervorragenden Körperbau und einer guten Statur. Isaac ist in großartiger Form und er wird uns noch viel Freude bereiten. Es macht mich sehr stolz, ihn herausragen zu sehen.”
Doch auch andere Vergleiche machten bereits die Runde. Australiens früherer Topsprinter Robbie McEwen, nun TV-Kommentator, sprach bei del Toros Angriff am letzten Hügel in Down Under von einem “pogačar-esquen” Moment. Da das mexikanische Talent im selben Team wie der Superstar fährt, liegt der Gedanke vielleicht noch näher. Doch Marco Marcato, UAEs sportlicher Leiter in Australien, schob dem sofort einen Riegel vor: Dafür sei es zu früh.
Und doch sind da ein paar Ähnlichkeiten. Das verschmitzte Grinsen, das geerdete Auftreten vor Mikrofonen und Kameras. “Ich bin wirklich müde, aber auch sehr glücklich, und genieße gerade jede Sekunde”, sagte del Toro nach seinem Sieg in Australien. Kampfansagen um den Gesamtsieg oder weitere Tageserfolge waren von ihm nicht zu hören.
Dass Isaac del Toro nun Radprofi ist - keine Selbstverständlichkeit. Fußball dominiert im Land, Radsport wird kaum gefördert und interessiert nur wenige. Dabei sei Talent eigentlich reichlich vorhanden. Das sagt zumindest Freddy Cruz. Der Mexikaner trainierte del Toro, seit der acht Jahre alt war. Auch Bruder Angel war mit Talent gesegnet. Aber nicht mit dem Willen, Profi zu werden. Doch im Gegensatz zum ein Jahr älteren Angel ging Isaac nach Europa. In San Marino ist seit ein paar Jahren das Nachwuchsteam A.R. Monex registriert, das privat finanziert mexikanischen Talenten die Chance aufs Profidasein geben will.
Mit del Toro ist das nun erstmals geglückt. “Er ist ein besonderer Junge, und so langsam nimmt davon auch die ganze Welt Notiz”, sagte Cruz dem Portuguese Cycling Magazine nach der Tour de l’Avenir. Klettern sei die größte Stärke seines Schützlings. Auch ein gewisses Zeitfahrtalent bringe er mit. Der Trainingsschwerpunkt habe dort aber nicht gelegen. Und dann seien da noch “wirklich starke Kraftwerte im Bereich von 10 bis 15 Minuten, die ihn in den Ardennen-Klassikern gut aussehen lassen könnten.”
Einen ersten Vorgeschmack hat Isaac del Toro bereits bei der Tour Down Under 2024 geliefert. Als Lohn wurde sein Vertrag bei UAE Team Emirates noch im April bis 2029 verlängert. Wenige Tage später rechtfertigte der Youngster das in ihn gesetzte Vertrauen nochmals mit dem Gesamtsieg bei der Asturien-Rundfahrt. Im August und September bestritt del Toro mit der Vuelta a España seine erste Grand Tour, die er auf Rang 36 beendete. 2025 gewann der Mexikaner im März mit Mailand-Turin (1.Pro) seinen ersten Klassiker - das älteste bis heute noch existierende Radrennen der Welt. Auch dort zeigte sich, welches Potenzial der Mann aus Ensenda besitzt.
Beim Giro d’Italia nun wuchs del Toro über sich hinaus. Spätestens nachdem er auf Etappe neun über die Weißen Straßen der Toskana ins Rosa Trikot stürmte, stellte sich die Frage, ob UAE nicht auf del Toro statt auf Juan Ayuso als Kapitän setzen müsste. Nach der 16. Etappe war diese Angelegenheit endgültig geklärt. Ayuso brach auf dem Weg zur Bergankunft oberhalb des Gardasees in San Valentino komplett ein, während del Toro zwar auch Zeit verlor, aber Rosa nochmal verteidigen konnte. Einen Tag später schlug er auf dem Weg nach Bormio zurück und feierte seinen ersten Etappensieg bei einer Grand Tour.
Dass es am Ende nicht zum Gewinn des Giros, sondern “nur” zu Rang zwei hinter Überraschungssieger Simon Yates (Team Visma | Lease a Bike) reichte, ist weniger auf seine Leistungsfähigkeit als auf fehlende Erfahrung und auch taktische Fehler der Teamleitung zurückzuführen. Dennoch: Spätestens jetzt war del Toro in der Weltspitze angekommen - keine anderthalb Jahre nach seinem Profidebüt. Und auch das mögliche Thema Eintagsfliege hatte sich schnell erledigt.
Nach einem guten Monat Rennpause dominierte del Toro die parallel zur Tour de France laufende Tour of Austria (2.1). Aus fünf Etappen gewann er drei, dazu die Gesamtwertung. Bis Anfang August legte er zwei spanische Eintagesrennen (beide 1.1) und die Vuelta a Burgos (2.Pro) nach. Danach räumte das mexikanische Wunderkind im italienischen Herbst ab. Aus zehn Starts in Eintagesrennen holte er sechs Siege.
Mit dem GP Industria & Artigianato (1.Pro), dem Giro della Toscana (1.1) und der Coppa Sabatini (1.Pro) sicherte gewann del Toro drei Rennen am Stück. Nach dem Memorial Marco Pantani (1.1), das er kurioserweise als Letzter beendete, setzte er seine Siegesserie bei der Trofeo Matteo (1.1) - alles innerhalb einer Woche im September. Anfang Oktober ließ er Siege beim Giro dell’ Emilia (1.Pro) und Gran Piemonte (1.Pro) folgen.
Zwischendurch reiste del Toro zu den Weltmeisterschaften in Ruanda. Im 40,6 Kilometer langen Einzelzeitfahren von Kigali verpasste er die erste Medaille für Mexiko in der Geschichte der Straßen-Weltmeisterschaften als Fünfter um vier Sekunden. Das Straßenrennen beendete er mit gesundheitlichen Schwierigkeiten als Siebenter. Lediglich Pogacar und Remco Evenepoel lieferten in Afrika eine konstantere Vorstellung ab.
Seine zweite Saison als Profi beendete del Toro als Fünfter der Lombardei-Rundfahrt. Und mit 15 Siegen auf dem Konto. Nur Teamkollege Pogacar hat mehr. Und würde der nicht seinerseits Rekord um Rekord brechen, lege spätestens jetzt wieder der Vergleich mit dem Slowenen auf dem Servierteller. Schließlich hat nicht mal der Überflieger so oft in seinem zweiten Jahr - das allerdings auch das stark verkürzte Corona-Jahr 2020 war - jubeln können. Deshalb arbeitet sein Team laut dem britischen Radsport-Journalisten Daniel Benson bereits jetzt schon wieder an einer erneuten Vertragsverlängerung - dieses Mal weit über das Jahr 2030 hinaus.
UAE und Teamchef Mauro Gianetti sehen ebenfalls, dass ihr Ausnahmetalent durchaus das Potenzial haben könnte, derjenige zu werden, der Pogacar am ehesten das Wasser reichen könnte. Die außergewöhnliche Saison 2025 hat es gezeigt. Del Toro selbst scheint ob dieser Tatsache überrascht. “Es ist unglaublich – es fühlt sich wirklich wie ein Traum an”, sagte er nach seinem bisher letzten Sieg gegenüber Cycling Pro Net. Bis auf Rang vier der UCI-Weltrangliste ist er geklettert. Nur Pogacar und die beiden Dänen Jonas Vingegaard (Team Visma | Lease a Bike) und Mads Pedersen (Lidl - Trek) sind vor ihm.
Wie geht die Reise für das mexikanische Wunderkind weiter? Zur kommenden Saison wird in Juan Ayuso ein potenzieller Grand-Tour-Kapitän nicht mehr für UAE starten. Der Spanier wechselt zu Lidl - Trek. So wird sich del Toro mit Joao Almeida um die Leader-Rolle bei der oder den Dreiwöchigen Landesrundfahrten streiten müssen, die Pogacar nicht fährt. Dass der Youngster auch auf Monumente-Jagd gehen könnte, hat er bei zahlreichen Eintagessiegen, die seine Rundfahrt-Erfolge, den Giro ausgenommen, bei Weitem übertreffen, bewiesen. Die sind aber der viel größere Spaß des Tadej Pogacar. Aber vielleicht kann sich Isaac del Toro auch schon bald mit ihm messen.