Tim Farin
· 25.05.2021
Die Radsportlerin Anna van der Breggen will ihre aktive Karriere keinesfalls sanft ausklingen lassen: Nach drei Weltmeister-Titeln, mehr als einem Dutzend Klassiker-Siegen und drei Giro-Siegen will die Niederländerin auch im letzten Jahr als Radprofi möglichst viele Siege nach Hause bringen. TOUR hat mit der Ausnahme-Athletin darüber gesprochen, was sie geprägt hat, was ihr wichtig ist und was sie künftig vorhat
TOUR: Wenn Sie Ihren Werdegang sehen, all die Siege – was sind die Dinge, die Ihnen in Erinnerung bleiben?
Van der Breggen: Ich denke, es geht mehr um das Gefühl, das ein Rennen mir gegeben hat, als um die Resultate. Einer meiner glücklichsten Momente war, als ich mit 22 auf Platz neun bei der Flandern-Rundfahrt gefahren bin. Das war kein Podium, sondern die Bestätigung: Ich kann das hier, ich bin gut genug. Heute habe ich oft ein ähnliches Gefühl, wenn ich etwas gewinne. Es geht darum, stolz auf sich selbst zu sein, auf das Geleistete und den Weg dorthin. Es ist eine Selbstbestätigung. Gewinnen ist nicht alles. Die Goldmedaille in Rio hat mein Leben nicht wirklich verändert, auch wenn ich das früher dachte. Es geht immer darum, was man mit seinem Leben macht, nicht nur um die Erfolge auf dem Papier.
Ihre Karriere hat sich eher langsam entwickelt. Sie haben ja zunächst eine Ausbildung als Krankenschwester gemacht. Wie sehen Sie die Jugend, die heute in den Radsport stürmt?
Was man bei den Männern sieht, ist natürlich außergewöhnlich, wo Bernal oder Pogaçar die Tour gewinnen. Das ist sicher nicht repräsentativ, aber man kann schon feststellen, dass die neue Generation heute weit mehr weiß und weit besser vorbereitet ist, als ich es vor einem Jahrzehnt war. Beispiele aus meinem Team sind etwa Anna Shackley und Niamh Fisher-Black. Sie sind so jung und schon so gut. Sie können über Social Media so viel aufsaugen, so viele Informationen sammeln.
Und bei Ihnen war das anders?
Absolut. Als ich Juniorin war, schlug mir der Nationaltrainer vor, doch mal einen Pulsgurt zu kaufen. Ich hatte so viele Dinge im Kopf: die Schule, meine ersten Berufserfahrungen, das Training zweimal die Woche, ein Rennen am Wochenende. Das war etwas anderes als heute, wo die Mädels schon alles über Ernährung und Wattwerte wissen, aber nie zum ersten Praktikumstag in einem Krankenhaus antreten müssen wie ich damals. Ich glaube schon, dass ich im Laufe der Zeit ein Gefühl dafür bekommen habe, wie man mit Situationen umgeht, wie sich der Körper anfühlt und was gerade gut ist – egal, was der Plan heute vorsieht.
Als nächstes werden Sie Sportliche Leiterin bei Ihrem jetzigen Team. Warum haben Sie sich nach anfänglicher Skepsis überzeugen lassen?
Weil ich nicht wollte, dass mein Wissen und meine Erfahrung aus dem Radsport verschwinden. Ich könnte als Krankenschwester arbeiten, aber dann wäre alles, was ich in den Jahren gelernt habe, aus dem Sport verschwunden. Das möchte ich nicht.
Bei Lüttich-Bastogne-Lüttich im Frühjahr 2021 erweckten Sie den Eindruck, als wären Sie schon so etwas wie eine Sportliche Leiterin auf dem Rad. Sie wirkten unheimlich stark und haben dennoch alles dafür getan, dass Ihre Teamkollegin Demi Vollering gewann.
Das hat mit Entwicklung zu tun. Es macht mich glücklich, wenn meine Kolleginnen gewinnen, mein Team etwas holt. Es geht um mehr als um mich. Ich kenne Demi und ihre Stärken im Sprint. Deshalb wusste ich auch, dass wir mit ihr in Lüttich die besten Siegchancen hatten. Also habe ich das Rennen so aufgezogen, dass sie es nur im Sprint abschließen musste, zum Wohl des ganzen Teams.
Bei Ihnen steht jetzt auch Familienplanung an, gemeinsam mit Ihrem Mann möchten Sie Kinder bekommen.
Das stimmt. Und das hätte sich auch nicht mit meinem Profi-Job vereinbaren lassen. Bei den Männern ist das natürlich einfacher.
Wie leicht, denken Sie, lässt sich denn die Stelle als Sportliche Leiterin mit der Mutterrolle vereinbaren?
Das ist doch genau wie bei allen anderen Berufen. Das bedeutet eine zusätzliche Herausforderung. Mein Mann und ich werden es uns aufteilen und die Zeit zwischen Beruf und Familie splitten. Ich weiß, dass mein Team auf unsere privaten Belange Rücksicht nehmen wird. Das ist sicher manchmal schwierig, aber es gehört halt zum Leben.
Was müsste passieren, dass Sie noch ein Jahr an Ihre Karriere dranhängen?
Nichts. Ich weiß, es ist schwer zu erklären. Alles läuft gut, alles fühlt sich gut an – da könnte man ans Weitermachen denken. Aber ich glaube, mein guter Lauf hat auch damit zu tun, dass es eben der Abschluss ist und die Entscheidung feststeht.
Was unterscheidet Sie von Marianne Vos, die offenbar nie genug kriegt?
Offensichtlich hat sie immer noch Spaß am Profi-Sein. Das ist völlig okay. Ich bin eine Person, die immer wieder maßgebliche Veränderungen braucht. Ich habe das als Sporterin versucht, mit Mountainbiking und Cross. Ich habe meine Trainingstaktiken verändert. Jetzt möchte ich etwas anderes machen, nicht nur trainieren, um zu einem bestimmten Rennen in Form zu sein. Kann sein, dass ich die Wochen vermissen werde, wenn es um die Siege geht. Aber auf den langen Winter, die harte Aufbauarbeit, auf die habe ich keine Lust mehr.
Zur Person: Anna van der Breggen
Geboren 18. April 1990
Geburtsort Zwolle
Nationalität Niederländerin
Größe 1,67 Meter
Gewicht 56 Kilogramm
Wohnort Hasselt, Niederlande
Profi seit 2012
Familienstand verheiratet
TEAMS
2012–2013 Sengers Ladies Cycling Team
2014–2016 Rabobank-Liv Woman
seit 2017 Boels-Dolmans, heute SD Worx
WICHTIGE ERFOLGE
2015 Giro Rosa
2015–2021 Flèche Wallonne
2016 Olympiasiegerin Straße, Silber EZF
2017 Amstel Gold Race
2017, 2018 Lüttich-Bastogne-Lüttich
2017, 2020 Tour of California, Giro Rosa
2018 Strade Bianche, Flandern-Rundfahrt
2018, 2020 Weltmeisterin Straße, Giro Rosa
2019 Tour of California, GP de Plouay
2020 WM Einzelzeitfahren, Niederländische Straßenmeisterin
2021 Omloop Het Nieuwsblad, Flèche Wallone, Vuelta a Burgos Feminas, Giro Rosa