Das Interview wurde geführt von Tim Farin
TOUR: Bevor wir über Erfolg sprechen, verraten Sie uns doch mal, wo Sie im Vorjahr waren, als Ellen van Dijk Weltmeisterin im Einzelzeitfahren wurde?
Chloé Dygert: Ich war damals im Haus meines Vaters in Indiana, wo ich aufgewachsen bin. Ich habe nichts geschaut, es hat mir nichts bedeutet, nur die Resultate hinterher habe ich gelesen – aber auch die waren mir egal. Es hat nichts mit mir gemacht.
TOUR: Haben Sie Neid gespürt?
Chloé Dygert: Nein, keinen Neid. Es war schwierig für mich, vor allem aber frustrierend, wieder die WM zu verpassen. Es war wieder etwas nicht okay mit mir, sodass ich nicht mitmachen konnte. Da kommt echte Frustration auf, und zwar über mich selbst.
TOUR: Sie hatten nach Ihrem schlimmen Sturz bei der WM 2020 in Imola mehrere Operationen; dazu erkrankten Sie am Epstein-Barr-Virus, das Sie dauerhaft geschwächt hat, außerdem mussten Sie sich noch einer Herz-OP unterziehen. Wie ging es Ihnen nach zwei verlorenen Jahren?
Chloé Dygert: Wenn ich zurückblicke, bleibt immer dieser eine Moment. Alles, womit ich mich in den zwei Jahren nach meinem Sturz in Imola beschäftigen musste, hätte ich verhindern können: alles ab etwa 30 Sekunden vor meinem Crash – alles, was danach passiert ist, das Auf und Ab, die Operationen. Ich musste mich damit auseinandersetzen, dass alles, was ich durchlebte, mein eigener Fehler war. Der Grund, warum ich in dieser schlechten Lage war, war ich selbst.
TOUR: Eine harte Analyse …
Chloé Dygert: Natürlich würde ich, selbst wenn ich es könnte, keines meiner Erlebnisse revidieren – das ist meine Lebensreise und ich bin stolz darauf. Aber wenn ich zurückblicke, dann geht es um Verantwortung. Ich werfe niemandem etwas vor. An meinem Sturz bin nur ich schuld. Ich hatte eine satte Führung im Zeitfahren und habe unnötig viel riskiert. Danach habe ich nicht den richtigen Chirurgen ausgewählt, weshalb ich gleich dreimal operiert werden musste. Ich habe immer weiter Fehler gemacht und deshalb hat es länger gedauert zurückzukommen.
TOUR: Hatten Sie den Glauben, dass Sie zurückkommen würden?
Chloé Dygert: Ja, und zwar, weil ich schon gewonnen hatte. Ich hatte das Gefühl, dass die Leute um mich herum an mich glauben, dass sie nicht aufgeben. Das hat mir geholfen, ganz besonders beim Team Canyon//SRAM. Vor dieser Saison kamen Magnus und Mario (Bäckstedt und Vonhof, ihre Sportlichen Leiter, Anm. d. Red.) zu mir und wir haben eine Stunde geredet. Da habe ich gemerkt, dass sie nicht einfach ihren Job machen, sondern dass sie sich aufrichtig für mein Wohlbefinden interessieren. Als ich hörte, wie sie über mich sprechen, ist bei mir viel Ärger, Frustration und Druck abgefallen. Diese ehrliche Unterstützung hat alles verändert. Wenn ich mich ein bisschen krank fühle, sagt Magnus zu mir: „Kümmer dich erst mal um dich.“ Es schiebt mich niemand in ein Loch – das habe ich vorher immer selbst gemacht. Ich arbeite auch wieder mit Kristin Armstrong zusammen (zweimalige Weltmeisterin und dreimalige Olympiasiegerin im Zeitfahren, persönlicher Coach von Dygert, Anm. d. Red.), das hat wieder einen kleinen Unterschied gemacht, damit ich auf das höchste Level gekommen bin.
TOUR: Dann erzählen Sie mal von Ihrem Comeback: Was bleibt von Ihrem doppelten WM-Triumph in Schottland in Erinnerung?
Chloé Dygert: Ich war natürlich stolz, wieder auf dem obersten Treppchen zu stehen. Aber ich hätte vor dem Sieg im Zeitfahren ein überwältigendes Glücksgefühl erwartet – das kam jedoch nicht, im Gegenteil. Ich frage mich jetzt immer noch, warum nicht? Ich hatte die Siege erwartet, weil ich so akribisch dafür gearbeitet habe. Bei der Einzelverfolgung auf der Bahn habe ich im Ziel den Kopf geschüttelt, weil ich nicht den Weltrekord erzielt hatte. Ich nahm nicht mal die amerikanische Flagge, weil ich so sauer war. Ich frage mich selbst: Was habe ich mir da nur gedacht? Aber ich war eben frustriert, weil ich so hohe Erwartungen an mich selbst habe. Und das ist eben auch der Grund, warum ich in Imola damals gestürzt bin – da hatte ich schon eine halbe Minute Vorsprung. Aber ich dachte, das wäre noch nicht genug.
TOUR: Ich habe gelesen, dass die „Rocky“-Filme Ihnen viel bedeuten. Da geht es auch um Comebacks. Sehen Sie sich selbst in einer ähnlichen Rolle wie Rocky?
Chloé Dygert: So habe ich das noch nie gesehen. Spontan muss ich an „Rocky III“ denken, wie großspurig er in den ersten Kampf gegen Clubber Lang gegangen ist. Er hat verloren. Dann dachte er, er sei fertig, aber er kam wieder in Form. Seine Frau Adrian hat ihn zur Vernunft gebracht und er hat wieder gewonnen. Diese Geschichte bedeutet mir etwas. Ich versuche, bescheiden zu bleiben. Ich gehe nie mit dem Gedanken in ein Rennen, dass alles passt. Ich fühle mich immer unvorbereitet, langsamer als die anderen Mädchen. Wenn ich da reingehe und denke, oh, ich werde gewinnen, ich bin die Beste, hätte ich das Rennen schon verloren.
TOUR: Hatten Sie bei Ihrem schweren Sturz in Imola Angst, Ihr Leben zu verlieren?
Chloé Dygert: Nein, zu keinem Zeitpunkt. Als es passierte, wusste ich gar nicht, dass mein Bein aufgeschnitten war. Ich drehte mich um, wollte sehen, ob mein Fahrrad noch da war, wollte wieder auf die Straße. Ich flippte aus, weil ich zu weit weg war – eine „Selbstmitleidsparty“. Dann kam mein Sportlicher Leiter, er hat mich festgehalten, den Kopf runtergedrückt. Da dachte ich: Okay, etwas muss falsch sein. Als ich meinen Kopf hob, dachte ich: Gott sei Dank, das ist eine gute Ausrede. Ich erinnere mich an die Fragen der Ärzte, die Erkenntnis, dass mein Oberschenkel nicht gebrochen war, den Gedanken, dass es mir gut ging. Dass eine Oberschenkelarterie durchtrennt sein könnte, hätte ich nie gedacht. Dabei wurde ich sogar ohnmächtig, als ich ins Krankenhaus kam, weil ich so viel Blut verloren hatte.
TOUR: In einem Interview über diese drei Jahre haben Sie gesagt, dass Ihnen Ihr „Leben manchmal nichts bedeutet hat“.
Chloé Dygert: Es gab Tage, an denen es mir egal war, ob ich lebe oder tot bin, um ehrlich zu sein. Ich meine, es passierte einfach so viel, und es war mir wirklich egal. Es gab richtig schlimme Tage.
Ich fühle mich immer unvorbereitet, langsamer als die anderen Mädchen
TOUR: Eine Ihrer ehemaligen Teamkolleginnen, Kelly Catlin, hat sich das Leben genommen. Eine belastende Erfahrung für Sie?
Chloé Dygert: Ich erinnere mich, wie ich zusammen mit meiner Teamkollegin Jennifer (Valente) in das Bestattungsinstitut ging. Da sah ich Kelly in ihrem Sarg. Wir standen Arm in Arm da, es war das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, den Tod wirklich hautnah zu erleben. Das hat in diesem Augenblick mit uns etwas gemacht. Ich kann den Moment gar nicht beschreiben und wie es für die Familie und alle anderen war, die dazugehörten.
TOUR: Bei Catlin hieß es, sie habe infolge einer Gehirnerschütterung eine Depression entwickelt. Gibt es etwas, was sich aus dem Fall lernen, auf Radsport allgemein übertragen lässt?
Chloé Dygert: Glaube ich nicht. Ich denke, geistige Gesundheit ist sehr wichtig. Aber Kellys Geschichte hat nichts mit meiner zu tun. Ich glaube nicht, dass man aus einem solchen Fall wirklich etwas lernen kann. Ich glaube, ich war stark genug, mit oder ohne Kellys Geschichte, oder ich wusste, dass es genug Liebe für mich gab, um so etwas nicht zu tun.
TOUR: Sie haben ein Kreuz in den Nacken tätowiert, Sie zitieren aus der Bibel. Was bedeutet Ihnen der Glaube?
Chloé Dygert: Am Ende hat Gott einen Plan für mich. Ich bin vielleicht nicht einverstanden, aber ich muss ihn akzeptieren. Ein Rennen zu verlieren, tut weh. Bei meinen Siegen in Glasgow spielte der Glaube eine große Rolle. Ich kann gar nicht sagen, wie oft ich gebetet habe und jeden Tag auf meine Hände und Knie gefallen bin, damit ich dieses Zeitfahren gut überstehe. Es hätte trotzdem so oder so ausgehen können. Aber für mich war das ausschlaggebend, das ist mein Glaube, und der ist Teil meines Plans.
TOUR: Sie haben mal gesagt: „Es gibt zu viele mental und körperlich weiche Menschen auf der Welt. Es ist unglaublich, wie weich Menschen sind.“ Das klingt sehr hart.
Chloé Dygert: Ich bin hart zu mir, aber ich glaube, in den vergangenen drei Jahren habe ich Mitgefühl gelernt. Ich zeige das nicht oft, aber wenn, dann ist es echt. Als Marlen Reusser beim WM-Zeitfahren vom Rad stieg (die schweizerische Mitfavoritin beendete das Rennen überraschend nach 16 Kilometern und nannte Motivationsprobleme als Grund, Anm. d. Red.), konnte ich das nachempfinden. Auch wenn ich anders gehandelt hätte, habe ich Respekt. Ich glaube immer noch, dass viele Menschen weich sind, manche sogar sehr weich. Aber mir ist klar geworden, dass es Menschen gibt, die Mitleid verdienen.
TOUR: Ihre Eltern waren getrennt, Sie haben viel Zeit bei Ihrem Vater verbracht und mit Ihrem älteren Bruder. Hat Sie das so hart gemacht?
Chloé Dygert: Ich glaube, mein Bruder Gunner hat großen Anteil daran, dass ich tough bin. Ich hatte keine andere Wahl mit ihm und meinen Cousins. Wir haben eine große Geschwisterliebe. Ich darf über ihn lästern, sonst niemand. Ich habe ihn auch schon abgrundtief gehasst. Aber letztlich liebe ich ihn. Er hat mich in den Sport gebracht, er fuhr Rad – und ich wollte einfach so sein wie mein Bruder.
TOUR: Verraten Sie uns doch mal, was Sie zu einer so starken Sportlerin macht?
Chloé Dygert: Das ist genau die Art Frage, bei der ich das Gefühl habe, wenn ich sie beantworte, würde mich das überheblich klingen lassen. Wissen Sie, was ich meine?
TOUR: Sie haben auch das Ziel formuliert, der Eddy Merckx des Frauenradsports zu werden. Wenn man sich genauer mit Merckx beschäftigt, fällt auf, dass seine Dominanz aus einem Unsicherheitsgefühl entstand …
Chloé Dygert: Ja, nun: Da haben wir es. Es ist schwierig, das zu erklären, ohne eingebildet zu wirken. Ich habe gerade zwei WM-Titel gewonnen, aber ich bin enttäuscht, dass ich nicht besser abgeschnitten habe. Ich frage mich, wie ich auf einem Niveau abliefern kann, wie es Merckx getan hat. Ich habe mir den Anzug angeschaut, das Fahrrad, mit dem er 1972 seinen Stundenweltrekord geholt hat – der ist immer noch besser als der aktuelle Frauen-Rekord. Merckx kann jeden Abend mit dem Wissen ins Bett gehen, dass er alles getan hat, was er konnte. Er kann sagen: „Ich war der Beste.“ Am Ende meiner Karriere möchte ich mich genauso fühlen. Ich möchte alle Ziele erreichen, die ich habe.
TOUR: Wie möchten Sie sich denn als Rennfahrerin entwickeln?
Chloé Dygert: Ich möchte auf eine gesunde und starke Weise ausgeglichen sein. Wenn ich am Start stehe, soll es darum gehen, dass ich gewinnen könnte. Ich hoffe und bete, dass ich eine lange Karriere haben werde – und den Raum, viele Ziele zu erreichen, etwa auch die Tour de France oder eine andere Rundfahrt zu gewinnen. Aber ich werde mich nicht zu sehr verausgaben, sondern meine Karriere so sicher und gesund wie möglich gestalten. Alles zu seiner Zeit.
TOUR: Ist Olympia Ihr nächstes Hauptziel? Auf der Bahn wirkt das US-Team derzeit nicht gerade konkurrenzfähig.
Chloé Dygert: Eindeutig. In Paris geht es um das Einzelzeitfahren, mein wichtigstes Ziel fürs kommende Jahr. Aber das Straßenrennen habe ich auch im Blick. Dies war mein erstes Jahr in Europa, ich habe gesehen, wo ich im Vergleich zu den anderen stehe. Das gibt mir für 2024 Selbstvertrauen, wenn ich Erfahrung auf der Straße sammeln will. Ob ich bei der Teamverfolgung auf der Bahn mitmachen werde, weiß ich noch nicht. Ich will es nur tun, wenn wir gewinnen können.
Chloé Dygert kam am 1. Januar 1997 in Brownsburg im US-Bundesstaat Indiana zur Welt. In der Schule spielte sie zunächst ambitioniert Basketball, ehe sie infolge einer Schulterverletzung zum Radsport kam. 2015 holte Dygert die US-Juniorentitel im Straßenrennen und Einzelzeitfahren und gewann im selben Jahr auch die WM-Titel in beiden Disziplinen.
Bei ihren ersten Olympischen Sommerspielen in Rio de Janeiro (2016) fuhr sie mit dem Bahn-Vierer zu Silber; Weltmeisterin im Einzelzeitfahren wurde sie erstmals 2019. Im Jahr darauf stürzte sie folgenschwer bei der WM in Imola. Bei den Weltmeisterschaften im August in Glasgow siegte Dygert bei der Einerverfolgung auf der Bahn und im Einzelzeitfahren auf der Straße.