Sebastian Lindner
· 08.05.2024
Der Sieg war die reine Erlösung. Nicht nur für Benjamin Thomas (Cofidis) selbst. Der 28-Jährige Franzose gewann mit der 5. Etappe des Giro d’Italia sein erstes Rennen auf World-Tour-Niveau. Aus einer vierköpfigen Spitzengruppe heraus, die sich etwa 70 Kilometer vor dem Ende des Teilstücks in Lucca gebildet hatte, siegte er im Sprint gegen Michael Valgren (EF Education EasyPost) und Andrea Pietrobon, der am Teufelslappen eine Attacke startete, die erst weniger as 100 Meter vor der Ziellinie ein Ende fand.
Das Hauptfeld kam elf Sekunden später ins Ziel, angeführt von Jonathan Milan (Lidl-Trek) und Caleb Ewan (Jayco-AlUla). Die Sprinterteams hatten sich verpokert. Als ihr Rückstand an der 10-Kilometer-Marke immer noch knapp eine Minute betrug, war klar, dass es eng werden würde. Als sich daran 4000 Meter später kaum etwas geändert hatte, hätte nur noch ein überzogenes Pokerspiel der Ausreißer ihren Erfolg verhindern können.
“Ich habe lange nicht daran geglaubt, dass wir durchkommen könnten”, sagte ein überglücklicher Thomas im Siegerinterview. “Kein Mensch hätte heute auf die Ausreißer gesetzt.” Auf den letzten Kilometern half der Gruppe neben Rückenwind auch etwas Kopfsteinpflaster und ein verwinkelter Stadtkurs in Lucca. “Es war wirklich großartig”, so Thomas.
Der Franzose hat Erfahrungen mit Ausreißversuchen bei großen Rennen, die kurz vor dem Ziel scheitern. Bei der Tour de France 2022 schaffte es Thomas als Ausreißer auf der 15. Etappe bis auf die Zielgerade, ehe er 400 Meter vor dem Ende eingeholt wurde. “Auf dem letzten Kilometer habe ich heute an Carcasonne (Zielort der damaligen Etappe) gedacht und mir gesagt: Vielleicht ist heute mein Tag. Im Finale wurde es nochmal schwierig nach der Attacke des italienischen Fahrers. Ich habe eine Niederlage riskiert, weil ich das Loch nicht zugefahren bin. Aber am Ende war alles perfekt.”
Perfekt war der Sieg auch für sein Team. Cofidis war die letzte World-Tour-Mannschaft, die bisher nicht einmal über einen ersten Platz jubeln konnte. Alle anderen haben mindestens vier Siege auf dem Konto.
Einen mehr hätten gerne auch Milan und Co. auf dem Konto gehabt. In der Schlussphase arbeitete im Feld vor allem Lidl-Trek. Unterstützung von weiteren Teams kam erst spät - zu spät. Auf der ersten Hälfte der 178 Kilometer langen Etappe war es vor allem Alpecin-Deceuninck gewesen, das sich um die Nachführarbeit gekümmert hatte und damit auch eine erste Ausreißergruppe um Simon Geschke (Cofidis) wieder eingefangen hatte. Das Team von Kaden Groves hatte am ersten Anstieg des Tages enorm viel Energie verschleudert, um dort die Sprinter-Konkurrenz abzuhängen. Die Taktik ging aber nicht auf. Nach dem Zwischensprint nach etwa 100 Kilometern hatte sich dann die neue Gruppe gebildet, die sich schließlich bis ins Ziel retten konnte.
In den Top 10 der Gesamtwertung hat sich nichts geändert. Tadej Pogacar (UAE Team Emirates) führt das Klassement weiter an. Auch die anderen Trikotträger sind die selben wie am Vortag. Milan verteidigte die Punktewertung, Pogacar die Bergwertung. Bester Jungprofi ist weiterhin Cian Uijtdebroeks (Visma | Lease a Bike).
Es war ein eigenartiger Auftakt in die 5. Etappe. Gleich nach dem etwas verspäteten scharfen Start ging ein Trio in die Offensive, verfolgt von Simon Geschke (Cofidis) und Manuele Tarozzi (VF Group - Bardiani CSF - Faizane). Aus dem Trio ließ sich Ewen Costiou (Arkea-B&B Hotels) schnell wieder zurückfallen, Mattia Bais (Polti-Kometa) und Lewis Askey (Groupama-FDJ) blieben allein. Es dauerte noch ein paar Kilometer, bis Geschke und sein italienischer Kompagnon aufgeschlossen hatte.
164 Kilometer vor dem Ziel fuhr dann ein Spitzenquartett vor dem Feld, dass ich bis zu zwei Minuten herausholte. Kurzzeitig schrumpfte die Differenz in einem Anstieg auf weniger als eine halbe Minute zusammen und der Eindruck entstand, dass sich die Gruppe wieder einholen lassen würde. Doch im Hauptfeld drosselte Alpecin-Deceuninck, das die Tempoarbeit machte, weiter das ohnehin schon niedrige Tempo. Gleichzeitig wurde es vorne wieder etwas schneller, sodass die Spitze doch wieder außer Sichtweite fuhr und den Vorsprung ausbaute.
In den Passo del Bracco (3. Kategorie), den mit 15 Kilometern längsten Anstieg des Tages, ging die Gruppe mit einer Minute Vorsprung. Oben an kam sie mit zwölf Sekunden. Geschke sicherte sich dort neun Bergpunkte. In der Abfahrt wurde die Gruppe dann gestellt. Unterdessen wurden aus dem Feld in Fabio Jakobsen (Team dsm-firmenich PostNL), Tim Merlier (Soudal - Quick Step), Fernando Gaviria (Movistar) und Caleb Ewan (Jayco - AlUla) abgehängt.
100 Kilometer vor dem Ziel war die lange Abfahrt absolviert, Alpecin nahm das Tempo wieder heraus. Komplett. Die abgehängten Sprinter kamen wieder zurück. Doch neue Attacken gab es lange nicht. Auch nicht 80 Kilometer vor dem Ziel. Dort wurde der Zwischensprint abgenommen, den Groves vor Milan und Kooij gewann.
Aber direkt danach. Die Teams waren dieselben, die Akteure andere. Benjamin Thomas für Cofidis, Enzo Paleni für Groupama-FDJ, Andrea Pietrobon für Polti-Kometa, und - neu - Michael Valgren für EF Education EasyPost setzten sich schnell ab. Doch auch dieses Quartett wurde nicht weiter als anderthalb Minuten weggelassen.
Die Intergiro-Wertung knapp 60 Kilometer vor dem Ende sicherte sich Pietrobon. Dann ging es mit Rückenwind Richtung Camaiore, wo der letzte Sprint des Tages abgenommen wurde. Thomas fuhr kampflos über den Strich, ehe die Gruppe mit 60 Sekunden Vorsprung in die letzte Bergwertung (4. Kategorie) ging. Aber der auch 15 Kilometer vor dem Ziel war der Abstand unverändert. Lidl-Trek bekam zunächst in der Führungsarbeit keine Unterstützung, ehe dann doch Soudal - Quick Step und Jayco - AlUla einstiegen.
Doch es sollte nicht mehr reichen. Als der Rückstand unter dem Teufelslappen immer noch eine halbe Minute betrug, gab das Feld auf. Kurz darauf attackierte Pietrobon aus der Gruppe, nachdem er zuvor lange keine Führungsarbeit mehr geleistet hatte. Doch Valgren und Thomas stellten den Italiener weniger als 100 Meter vor der Ziellinie. Den Sprint des Duos entschied der Franzose dann für sich.