Gino MäderDas Ende eines Traums

Andreas Kublik

 · 20.08.2023

Gino Mäder: Das Ende eines TraumsFoto: Getty Velo
Gino Mäder träumte von großen Taten als Radprofi, dem Beruf, der ihn nun das Leben kostete - weil Radsport gefährlich ist.

Gino Mäder - Die Erinnerung bleibt

Man trifft viele Menschen in einem Vierteljahrhundert als Radsport-Berichterstatter. Viele Sportlerinnen und Sportler. Sieger und Verlierer, Weltmeister und Wasserträger, Auskunftsfreudige und Verschlossene. Man führt viele Gespräche, sammelt unzählige Eindrücke. Vieles vergisst man, aber manches bleibt in Erinnerung – weil es um mehr geht als Ergebnisse und Plattitüden. Nämlich um Persönliches, Gedanken mit einer Bedeutung über den Moment hinaus.

Die Erinnerung an ein Gespräch ist geblieben, es muss wohl im April 2022 gewesen sein: Ein junger Mann erzählte am Telefon von Träumen, von Privatem, persönlichen Gefühlen. “Als kleiner Junge steht man da und träumt davon, selbst Radprofi zu werden”, erzählte er von der Geburtsstunde seiner Radsportbegeisterung – von einem Tag als Kind am Streckenrand der Tour de Suisse, des großen Radrennens in seinem Heimatland Schweiz.

Und erzählte auch, wie er sich als Teenager auf dem Rollentrainer ausgetobt hatte, nachdem ihm die Eltern von ihrer Trennung erzählt hatten. Und davon, dass er nun noch viel mehr Radprofi werden wollte, um beide Eltern am Streckenrand ­von großen Radrennen wieder zusammenzuführen – einfach, weil er dabei war. “Das war vielleicht ein sehr naiver, kindlicher ­Ge­danke”, sagte er. Am anderen Ende der Leitung war Gino Mäder.

Ein junger Radprofi aus der Schweiz, bei dem man den Eindruck bekam: Er will andere mitnehmen auf seiner Reise vom radsportbegeisterten Kind zum Radprofi. Der Ein­blicke in sein Innenleben gibt, die wenige preisgeben. Eine Art emotionaler Teilhabe ­aller an einer Reise, die die Natur nur wenigen Talenten erlaubt.

Meistgelesene Artikel

1

2

3

Die Reise endete am 15. Juni 2023. Auf der fünften Etappe der Tour de Suisse stürzte Gino Mäder in der Abfahrt vom Albula-Pass in einer Kurve bei hoher Geschwindigkeit in die Tiefe. Der Rennarzt Dr. Roland Kretsch musste den Radprofi viele Minuten reanimieren. Am nächsten Tag die schreckliche Nachricht: Der 26-jährige Schweizer hat das Ringen mit dem Tod im Krankenhaus von Chur verloren. Die genauen Umstände werden vielleicht nie geklärt – nicht öffentlich jedenfalls. Bilder vom Unfallgeschehen, Zeugenaussagen sind nicht bekannt. Der Sprecher der Kantonspolizei lässt ausrichten, dass man zu dem Todessturz nicht mehr öffentlich kommunizieren werde.

Gino Mäder: Nachdenklichkeit im Peloton

Die Suche nach den Ursachen des Todessturzes ist vielleicht auch eine Banalität – sie macht den jungen Mann nicht mehr lebendig. Vielleicht ist die Erkenntnis schlicht: Der Radsport ist einfach unglaublich gefährlich – selbst für die Besten ihres Fachs. Auch Profis wie Mäder können aus der Kurve fliegen. Oft endet das einigermaßen glimpflich. Diesmal endete es fatal.

Es hat die Radsportszene aufgerüttelt, weil schmerzlich sichtbar wurde, wie sehr Menschen in diesem Sport verletzlich sind – fast ohne Schutzausrüstung, ohne Knautsch­zone, bei Geschwindigkeiten, die man aus dem Motorsport kennt. Mit rund Tempo 100 sollen die Profis sich Richtung Ziel in La Punt gestürzt haben. Letztlich war Gino Mäder einer von uns. Ein Radsportler, der liebte, was er tat, dafür auch Risiken einging.

Das Peloton rollte tief erschüttert weiter durch die Schweiz. “Auf den folgenden Etappen hat man gesehen, dass kein Rennfahrer auch nur das kleinste Risiko eingegangen ist”, berichtete Tom Pidcock, der zuvor nicht als Radprofi galt, der sich sehr viele Gedanken über die Risiken seines Sports machte. Der Brite sagte beim Start der Tour de France, Mäders Unfall habe ihm, der 2022 mit einer halsbrecherischen Abfahrt vom Galibier-Pass zum Etappensieg in Alpe d’Huez gerast war, die Gefährlichkeit seines Tuns vor Augen geführt.

Gino Mäder: Es zählten mehr als Wattwerte und Ergebnisse

Natürlich blieb auch Kritik an der Streckenführung in der Schweiz nicht aus: Warum sich das Ziel nicht oben auf der Passhöhe des Albula befand, sondern nach der gefährlichen Abfahrt unten im Tal, fragte Weltmeister Remco Evenepoel. Eine vergleichbare Streckenführung gibt es bei der Tour de Suisse allerdings schon mehrere Jahrzehnte. Dennoch: Der Sport hat sich verändert, die Leistungsdichte ist höher geworden, das Material schneller. Die Reifen sind breiter als früher, aber sie sind immer noch schmal – und ABS gibt es am Rad nicht.

Die letzten Spuren, die der Radprofi Mäder sichtbar hinterließ, sind die Bremsspuren im Schotter neben dem Asphalt der Passstraße, die die Beamten der Kantonspolizei Graubünden für die Unfallaufnahme markierten. Schwere Rennunfälle hatten in der Geschichte des Radsports oft Konsequenzen. So wie der Tod des Kasachen Andrej Kiwilew zur verspäteten Einführung der Helm­pflicht im Profi-Radsport führte – nach jahrelangen Diskussionen mit teils unsinnigen Gegenargumenten.

Von Gino Mäder bleibt zunächst die Erinnerung an einen, der immer auch ein bisschen Botschaften über den Radsport hinaus hinterlassen wollte. Mäder galt als einer, der sich für mehr als nur Treten, Wattwerte und Ergebnisse im Radsport interessierte. Er engagierte sich für gesellschaftliche Projekte, den Klimaschutz.

Traum und Albtraum liegen im Radsport eng beisammen

Aber tatsächlich stehen Leben und Tod von Gino Mäder für die bittere Erkenntnis: Traum und Albtraum liegen im Radsport eng beisammen. Überall lauern Gefahren: Das Material ist fragil, die Geschwindigkeiten sind hoch, der Mensch macht Fehler – nicht nur im Straßenverkehr, auch rund um das tägliche Training auf öffentlichen Straßen.

Zu seiner ersten Teilnahme bei der Tour de France schaffte es Mäder nicht mehr. Aber irgendwie war er dann doch dabei beim wichtigsten Radrennen der Welt: So wurde sehr intensiv über zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen in den Abfahrten der Alpenetappen diskutiert – inklusive Sicherheitsmaßnahmen, die man bisher nur vom Skisport kannte und die bislang als abwegig galten.

Vielleicht ist es das Vermächtnis von Gino Mäder, dass er die Radsport-Welt auf erschreckende Weise auf die Gefahren dieser Disziplin hingewiesen hat. Vielleicht sitzt er nun neben dem Radsport-Gott, wenn es denn ­einen gibt, und blickt darauf, wie man in seinem Namen über mehr Sicherheit im Radsport nachdenkt, wie jeder einzelne Radsportler noch mehr als zuvor das Risiko abwägt und allein dadurch die Lebensgefahr für sich und andere reduziert. Vielleicht würde Gino Mäder sagen, das sei ein sehr naiver und kindlicher Gedanke. Aber vielleicht würde er ihm genau deshalb gefallen.

Zur Person Gino Mäder

Der Radprofi aus Zürich galt als großes Rundfahrt-Talent. Als sein Landsmann Marc Hirschi 2018 in Innsbruck Weltmeister der U23 wurde, belegte Gino Mäder Rang vier. Zuvor hatte er bei der Tour de France der Nachwuchsfahrer zwei Etappen gewonnen und in der Gesamtwertung Rang drei hinter Tadej Pogacar und Thymen Arensman belegt.

Gino Mäder, hier bei Paris-Nizza 2023Foto: Getty VeloGino Mäder, hier bei Paris-Nizza 2023

Etappensiege beim Giro d’Italia und Platz fünf bei der Spanien-Rundfahrt waren 2021 starke Talent­proben – aber Mäder wurde auf seinen Stationen bei Dimension Data/NTT und Bahrain-Victorious auch immer wieder ausgebremst – von Corona, von eigenen Zweifeln. Auf der fünften Etappe der Tour de Suisse war er auf der letzten Abfahrt ganz vorne dabei, als er bei hoher Geschwindigkeit von der Albula-Straße tief abstürzte und später seinen Verletzungen erlag. Gino Mäder wurde 26 Jahre alt.

Meistgelesen in der Rubrik Profi - Radsport