Andreas Kublik
· 04.05.2022
Der erste Teil der Radsport-Saison 2022 ist Geschichte. Bei den Frühjahrsrennen gab es Einblicke, welche Frauen das Radsportjahr mit der Tour de France prägen könnten.
Die Holländerin ist auch im Alter von 39 Jahren nicht müde, möglichst jedes Rennen zu gewinnen. Wenn es längere Zeit bergauf geht, bleibt die Radsportlerin vom Team Movistar eine Klasse für sich. Mit der von ihr oft gezeigten One-Woman-Show siegte sie zum zweiten Mal nach 2019 bei Lüttich-Bastogne-Lüttich. Der erste Angriff an der Côte de la Redoute scheiterte noch – die Schweizerin Marlen Reißer hing als Bewacherin vom Team SD Worx an ihrem Hinterrad – die Verfolgerinnen schlossen wieder auf. Als sich Van Vleuten an der Côte de la Roche-aux-Faucons wieder in den Wiegetritt stemmte, konnte keine Konkurrentin folgen. Liane Lippert, die bei den Rennen oft am Hinterrad der Niederländerin hing, urteilte nach den Frühjahrsklassikern: „Es hat nochmal geklappt für Annemiek mit einem Solo-Sieg – aber es hat ein bisschen gedauert. Man hat gesehen, dass sie dieses Jahr schlagbar ist.“ Die Beweise für die These liegen auf der Hand: Beim Amstel Gold Race und beim Flèche Wallonne zog sie gegen die Italienerin Marta Cavalli den Kürzeren. Das Level im Frauenradsport sei nochmals gestiegen, so heißt es aus dem Peloton. Van Vleuten gab nach dem Sieg in Lüttich zu Protokoll, sie habe ihren bisher höchsten Wattwert über fünf Minuten getreten. Sie wird also auch im fortgeschrittenen Alter nicht schlechter – eher die anderen besser. Dennoch bleibt van Vleuten nach dem Rücktritt ihrer langjährigen Konkurrentin Anna van der Breggen die Topfavoriten für die ganz schweren Etappenrennen, den Giro d’Italia und den Neustart der Tour de France der Frauen
Die Italienerin ist das neue Gesicht unter den Klassikerspezialistinnen. Die 24-jährige vom Team FDJ-Nouvelle Aquitaine-Futuroscope überraschte die Konkurrentinnen und vor allem das favorisierte Team SD Worx, als sie beim Amstel Gold Race das Zögern in der Spitzengruppe nutzte. Am Scheitelpunkt des letzten Anstiegs Cauberg trat sie an und fuhr die letzten 1,5 Kilometer solo zum Sieg. Es war der bisher größte Erfolg der Italienischen Straßen-Meisterin von 2018. Zehn Tage später gewann sie auch das direkte Duell im Bergsprint beim Flèche Wallonne gegen Annemiek van Vleuten. „Es ist gut für den Frauenradsport, dass eine Überraschung wie Marta Cavalli an Annemiek vorbeifährt - dass mal eine andere gewinnt und auch mal andere Nationen dabei sind“, findet Liane Lippert. Die Italienerinnen sind nun die großen Herausforderinnen der Niederländerinnen, mit der aktuellen Weltmeisterin Elisa Balsamo und Roubaix-Siegerin Elisa Longho Borghini (beide Team Trek-Segafredo). Für die Konkurrentinnen war die Entwicklung der nun besonders drahtigen Italienerin aus dem Dorf San Bassano in der Po-Ebene verblüffend. „Man hatte sie schon auf dem Schirm. Aber wenn man bedenkt, woher sie kommt: sie war eine Art Sprinterin“, erinnert sich Lippert. Jetzt ist Cavalli immer noch schnell, verblüfft die Konkurrentinnen aber damit, wie leicht sie die Berge hinauffährt. „Sie hat sich in den letzten Jahren wirklich zu einer Bergfahrerin entwickelt. Ich glaube, das ist eine ist, die beim Giro oder bei der Tour ums Podium kämpfen kann – so wie sie fährt am Berg und dabei teilweise entspannt aussieht“, hat die deutsche Konkurrentin Lippert beobachtet. Die junge Italienerin sprang bei ihrem Team FDJ in die Bresche, nachdem Teamleaderin Cecilie Uttrup Ludwig wegen einer Corona-Erkrankung einen wichtigen Teil der Frühjahrsrennen verpasst hatte. „Mir hat auch gefallen, wie das Team FDJ super zusammenfährt“, urteilt Lippert. Das Team hat sich so bei den Klassikern als wichtiger Herausforderer der Top-Teams SD Worx und Trek-Segafredo etabliert.
Noch immer spielt der Frauenradsport in Belgien eine kleine Rolle. Während die Radsportlerinnen aus dem Nachbarland, den Niederlanden, die Weltelite dominieren, besteht Belgiens Frauenradsport weitgehend aus einer Einzelkämpferin: Aber Lotte Kopecky begeistert zunehmend die Landsleute – als Mann wäre sie jetzt eine Art Nationalheld, quasi ein weiblicher Tom Boonen. Die 26-jährige Flämin gewann das wichtigste Radrennen des Landes: die Flandern-Rundfahrt. Zuvor war das nur 2010 Grace Verbeke als einziger Landsfrau gelungen, die allerdings keine nachhaltige Wirkung in ihrer Heimat entfaltet konnte. Kopecky feierte nun ihren bisher größten Sieg im Trikot der belgischen Meisterin. „Ich fahre schon lange Rennen mit ihr und habe ihre Entwicklung miterlebt. Es ist sehr krass, wie sie sich am Berg verbessert hat“, sagt Konkurrentin Liane Lippert. Bisher galt die Belgierin vor allem als sprintstark – mit der mittlerweile zurückgetretenen Landsfrau Jolien D’hoore war sie 2017 Weltmeisterin im Zweier-Mannschaftsfahren (Madison) auf der Bahn. „Strade Bianche oder Flandern-Rundfahrt gewinnt man nicht als reine Sprinterin.„Es ist beeindruckend wie sie über die Berge kommt und dann noch sprinten kann“, so beschreibt es Lippert: „Die Klassiker sind ihr Revier.“ Ob der Wechsel zu SD Worx entscheidend war? „Das ist ein Schlüssel zu ihrem Erfolg“, urteilt Lippert. Die zahlenmäßige Überlegenheit des belgischen Rennstalls wirkt besonders, wenn man noch eine sprintstarke Spezialistin wie Kopecky in den eigenen Reihen hat. Die Frau aus Rumst hat das Zeug zur Flandrienne – einer kampfstarken Klassikerspezialistin, wie sie die flämischen Fans lieben. „In Belgien sind sie sehr auf Männerradsport fokussiert. Und dann gibt es noch Lotte Kopecky. Aber in Belgien kann sich noch mehr tun im Frauenradsport!“, sagt Lippert. Die Flandern-Rundfahrt-Siegerin ist dabei, den Weg über die Kopfsteine für ihre Geschlechtsgenossinnen zum ganz großen Ruhm zu ebnen.
Es war die bisher beste Klassikerkampagne im Frühjahr für die Radsportlerin vom Bodensee. Rang drei beim Amstel Gold Race, danach ebenfalls Dritte beim ähnlichen anspruchsvollen Pfeil vom Brabant – Liane Lippert zählt mittlerweile zur Weltspitze. „Es hat mir sehr viel bedeutet, dass ich da ums Podium gefahren bin – das war einfach mal nötig, für mich ein Ergebnis rauszufahren. Und schön, dass es danach gleich weiterging – nochmal mit einem Podium in Brabant. All in all bin ich ganz zufrieden, auch wenn es beim Flèche Wallonne und in Lüttich nicht ganz aufs Podium gereicht hat“, sagt die 24-Jährige. Es folgten Ende April noch Top-Ten-Platzierungen beim Flèche Wallonne und bei Lüttich-Bastogne-Lüttich. „Die Berge sind nochmal ein bisschen anders bei diesen Rennen – ein bisschen steiler und bisschen länger. Das müsste ich noch ein bisschen mehr trainieren, um mit den Top-Frauen der Welt mitfahren zu können. Es hat geradeso nicht gereicht – ich war die erste, die mit den besten sechs bis sieben Besten nicht mehr mitfahren konnte“, sagt Lippert. Dennoch ein starkes Frühjahr, nachdem sie bei der Flandern-Rundfahrt noch wegen einer Covid-Infektion gefehlt hatte.
Weiter geht es mit den schweren Etappenrennen. Lippert bedauert, dass sie wegen des dichten Terminkalenders in der Women’s WorldTour in diesem Jahr nicht an der Thüringen-Rundfahrt teilnehmen kann – dem Rennen, das ihr einst den Durchbruch brachte und den Weg zum Profivertrag beim Team DSM ebnete. International ist das deutsche Rennen abgehängt, der Fokus der Top-Teams gilt Auftritten beim Giro d’Italia der Frauen und dem Neustart der Tour de France der Frauen nach jahrelanger Pause. Noch weiß Lippert nicht, zu welchem Rennen sie von ihrem niederländischen Team geschickt wird. Hätte sie die Wahl, die Frau vom Bodensee würde sich wie viele Radsportlerinnen für den Start bei der Tour entscheiden. „Die gibt’s zum ersten Mal, das ist was Besonderes.“ Sie hat vor allem ein Auge auf die Etappen mit Klassikerprofil geworfen. „Gesamtklassement wird schwer. Ich habe mir die Profile angeguckt – das sind Bergankünfte von mehreren Kilometern dabei“, schätzt sie. Im August folgt die Europameisterschaft in München. „EM ist schön, weil sie in München ein Heimrennen ist - aber die Strecke ist flach.“ Eher nichts für Lippert, die aber damit plant, als Helferin für eine sprintstarke Teamkollegin wie Lisa Brennauer am Start zu stehen. Der Herbst hält noch einiges bereit. „Die WM ist ein großes Ziel für mich“, sagt Lippert über den Saisonhöhepunkt im September im australischen Wollongong. „Den Kurs unterschätzen viele, denke ich“, sagt Lippert mit Blick auf Höhenprofil und zu absolvierende Höhenmeter. Kletterstarke Klassikerspezialistinnen dürften gute Chancen haben. „Ich freue mich auf den Kurs. Da ist ein Kicker drin - sowas liegt mir“, sagt sie mit Blick auf den Anstieg im Parcours, der eine Startrampe zum Medaillengewinn sein könnte.