Die Stimmung vor der Vuelta war etwas gedämpft bei Florian Lipowitz – dabei hatte der 23 Jahre alte ehemalige Biathlet durchaus einige Erfolge vorzuweisen in diesem Jahr, seinem zweiten als Radprofi beim Team Red Bull-Bora-Hansgrohe. Bei der Tour de Romandie konnte er in den Bergen mit der Weltspitze mithalten und erzielte einen sensationellen dritten Gesamtrang. “Das war auch für mich eine ziemliche Überraschung und hat natürlich auch einiges an Selbstvertrauen gegeben”, sagt er im Rückblick auf diesen ersten großen Auftritt, nachdem er von einigen Medien reflexhaft zum aktuell größten deutschen Rundfahrttalent hochgejazzt wurde. Mit breiter Brust und großen Ambitionen fuhr er zum Auftakt des Giro d’Italia. “Auf der zweiten Etappe war es natürlich richtig cool”, ordnete er seinen phänomenalen Berghelfereinsatz für Kapitän Daniel Felipe Martinez ein. Lipowitz’ Berg-Show in Oropa löste eine kleine Explosion an Medienanfragen aus Deutschland aus, auf die das Team mit maximaler Abschottung des Youngsters reagierte. Keine Interviews am Bus oder in der Mixed Zone, allenfalls telefonischer Austausch.
Beim Giro d’Italia blieb Lipowitz aber nicht lange. Der erste Rückschlag kam, er musste krankheitsbedingt aussteigen. “Das zieht einen dann schon runter, wenn man weiß, dass man in Top-Form ist, aber so früh gehen muss. Das war nicht ganz einfach”, räumt er ein. Auch danach beutelten ihn Erkältungen. Die Deutschen Meisterschaften wollte er deswegen eigentlich auslassen. “Deshalb war es für mich auch ein bisschen überraschend, dass ich bei der DM so gut gefahren bin”, bilanziert er. Er wurde quasi vom Krankenlager weg Vizemeister, in einer Ausreißergruppe nur vom anderen großen deutschen Rundfahrttalent Marco Brenner geschlagen.
“Insgesamt verlief die Saison bisher eher holperig, weil ich leider sehr oft krank war”, fasst er sein bisheriges zweites Profijahr zusammen. Die gesundheitlichen Rückschläge hinterließen auch Spuren im Gemüt. “Das war schon nicht einfach. Ich habe dann ein bisschen Abstand zum Radsport gebraucht und andere Sachen gemacht”, erzählt er. Vor allem die Familie gab ihm Rückhalt. Die Stimmung sank allerdings nicht so tief, dass er vor lauter Frust das Rennrad in die Ecke gestellt und sich lieber wieder das Biathlongewehr umgeschnallt hätte. “Nein, auf Skirollern im Sommer – das vermisse ich nicht”, sagt er lachend.
Seine Wintersportkarriere hat der junge Mann aus Laichingen auf der Schwäbischen Alb abgehakt, seinen Weg im Radsport verfolgt er konsequent weiter, auch wenn der Einstieg eher aus einem Reha-Programm erfolgte. “Ich hatte eine Entzündung im Knie und musste damals fast ein ganzes Jahr pausieren”, erinnert sich Lipowitz. “Radfahren war das Erste, was möglich war.” Allerdings spielte Radsport in seiner Familie schon immer eine große Rolle, vor allem durch den Vater. “Wir sind einige Radmarathons gefahren, und darüber bin ich dann auch in die Radfahrszene reingerutscht”, blickt er zurück. Eines der schönsten Erlebnisse ist für ihn noch immer die eine Woche, in der er mit der Familie durch die französischen Alpen von Genf bis nach Nizza gefahren ist. “Das war ein Highlight. Die sieben Tage, die wir da gefahren sind, bleiben einem schon in Erinnerung”, meint er.
Jetzt allerdings richtet er seine Aufmerksamkeit eher auf die Gipfel in Nordspanien wie Cuitu Negru, Picon Blanco und Lagos de Covadonga. Dort sieht er sich vor allem als Berghelfer, hofft aber auch auf die Lizenz zum Ausreißen. “Das wäre optimal, wenn es die Möglichkeit gibt, mal auf eine Etappe zu gehen oder zu sagen, die und die Etappe wird mir liegen und da könnte ich selber mal auf Ergebnis fahren. Aber das hängt natürlich auch davon ab, wie die ganze Situation ist, wer bei uns Leader ist. Und wenn wir dann im Trikot sind, hat sich das relativ schnell erledigt”, schätzt er seine Optionen realistisch ein, auch wenn ihm der Sieg bei der viertägigen Sibiu-Tour in Rumänien Anfang Juli noch mal zusätzliches Selbstbewusstsein verliehen hat.
Selbst fühlt er sich als Rundfahrer. “Ich merke, dass ich am Ende von Rundfahrten eher besser werde”, sagt er. Allerdings habe die längste Rundfahrt, die er bisher absolviert hat, neun Tage gedauert, schränkt er ein. Und auch deshalb will er die Vuelta durchfahren. “Ich bin gespannt, wie mein Körper auf die drei Wochen reagiert”, sagt er. Und mit ihm gespannt ist ganz Radsport-Deutschland.