Sich als Frau im professionellen Radsport erfolgreich durchzusetzen und gleichzeitig die Herausforderungen der Mutterschaft zu stemmen, diese Kombination schien im Profiradsport bis vor zehn Jahren nahezu undenkbar. Die meisten Rennfahrerinnen verschoben den Kinderwunsch auf die Zeit nach ihrer aktiven Karriere. Eine Frau, die seinerzeit erfolgreich im Radsport war, ist Iris Slappendel. Die 39-jährige Niederländerin, im Jahr 2014 Straßenmeisterin ihres Landes, beendete 2016 ihre aktive Karriere. Als Vorsitzende der 2017 gegründeten TCA (The Cyclists’ Alliance), einem Berufsverband für Rennradfahrerinnen, engagiert sie sich mittlerweile für die Gleichstellung weiblicher Radprofis.
Laut Slappendel ist das Hauptbestreben der TCA immer noch, die Bezahlung weiblicher Radprofis an die der Männer anzugleichen, damit die Frauen von ihrem Sport leben können. “Darüber hinaus beraten wir die Rennfahrerinnen aber auch in vielen anderen Dingen”, erklärt die TCA-Vorsitzende. “Viele sind selbstständig und haben keine Festanstellung bei ihrem Team. Mit dem Bekanntwerden einer Schwangerschaft treten dann besonders bei Sportlerinnen aus kleineren Teams Unsicherheiten auf hinsichtlich gesetzlicher Vorgaben, Vertragsdetails oder auch medizinischer Vorsorge. Wir stehen dann begleitend zur Seite und können inzwischen auf ein breites Expertennetzwerk zurückgreifen, an das wir die Fahrerinnen weiterleiten können”, betont sie. So bietet die TCA für Radsportlerinnen beispielsweise regelmäßig Webinare an, in denen es um Themen wie Gesundheitsvorsorge für Frauen oder den weiblichen Zyklus geht.
Eine der wenigen Mütter im Profiradsport, die nach Schwangerschaft und Geburt erfolgreich in den professionellen Radsport zurückkehrte, ist die US-Amerikanerin Kris Armstrong, die als Mutter noch zweimal Gold im Zeitfahren bei den Olympischen Spielen von 2012 und 2016 holte und die Doppelbelastung von Karriere und Mutterschaft bewältigte – sicher auch dadurch begünstigt, dass sie zu den erfolgreichsten Radsportlerinnen zählte und finanziell abgesichert war. Inzwischen gibt es seit 2018 ein Mindestgehalt für Fahrerinnen der Women’s World-Tour, was den Frauen die Entscheidung für ein Kind während der Karriere möglicherweise erleichtert. Belastbare Statistiken gibt es nach Aussage von Slappendel zwar nicht, aber sie schätzt, dass aktuell zwischen 10 und 15 Frauen im Profiradsport Mütter sind. Das entspräche weniger als zwei Prozent der insgesamt 831 lizenzierten weiblichen Radprofis in World-Tour- und Continental-Teams.
Belastbare Statistiken gibt es nicht, aber derzeit sind etwa zwischen 10 und 15 Frauen im Pofiradsport Mütter. - Iris Slappendel
Neben den Rennfahrerinnen Elinor Barker, Julie Norman Leth und Joscelin Lowden vom Team Uno-X Mobility, Lotta Henttala von EF Education-Cannondale und Chantal van den Broek-Blaak vom Team SD Worx–Protime, die alle in den vergangenen zwei Jahren Mütter wurden, ist das prominenteste Beispiel derzeit sicherlich Lizzie Deignan vom Team Lidl-Trek. Die 35-jährige Britin gab gleich zweimal innerhalb von vier Jahren ein beeindruckendes Comeback, nachdem sie in den Jahren 2018 und 2022 ihre beiden Kinder auf die Welt brachte. Kaum wieder im Rennsattel, gewann die Ex-Weltmeisterin von 2015, damals noch als Lizzie Armitstead, nur zehn Monate nach der Geburt ihres Sohnes überraschend die Women’s Tour 2019. In dieser Saison will Deignan alle drei großen Landesrundfahrten in Italien, Frankreich und Spanien bestreiten und nach eigener Aussage wieder eine Leaderrolle im Team einnehmen.
Deignans Teamkollegin und zweimalige Zeitfahrweltmeisterin Ellen van Dijk, wie Slappendel ebenfalls im TCA-Vorstand, absolvierte während ihrer Schwangerschaft unglaubliche 17.500 Kilometer auf dem Rad. “Ich konnte bis einen Tag vor der Geburt auf dem Rad trainieren”, erzählt die Niederländerin, die nach der Geburt ihres Sohnes Anfang Oktober 2023 fest eine olympische Zeitfahr-Medaille in Paris im Blick hat.
“In der Schwangerschaft hatte ich überhaupt keine Probleme. In der Woche nach der Geburt bin ich schon wieder spazieren gegangen und wollte unbedingt möglichst schnell wieder etwas auf dem Rad machen. Ein spezielles Radmodell, bei dem kein Sattelkontakt notwendig ist, war als rascher Einstieg ideal für mich. In der dritten Woche habe ich schon wieder mit dem Radtraining begonnen, was sich auch ziemlich gut anfühlte”, beschreibt die 37-jährige van Dijk die ersten Wochen nach der Geburt.
Zu ihrer neuen Rolle meint sie: “Die Tage zu Hause sind jetzt ziemlich herausfordernd. Einerseits möchte ich meinem Kind möglichst lange das Stillen ermöglichen, andererseits wird mit täglichem Training von vier bis fünf Stunden, Haushalt und sozialen Verpflichtungen der Tag schnell zu kurz. Ich bin abends so kaputt, dass ich schon um neun Uhr im Bett liege.”
Ganz anders als Ellen van Dijk hat Tamara Dronova-Balabolina vom Team Roland die Schwangerschaftsmonate erlebt. Als die mehrmalige U23-Europameisterin auf der Bahn im Jahr 2017 erfuhr, dass sie ein Kind erwartet, beendete sie umgehend ihr Radtraining. “Ich habe in der Schwangerschaft sportlich wirklich gar nichts getan. Ich habe geschlafen, gegessen und ansonsten einfach nur mein Leben genossen”, erinnert sich die Russin. “Als damalige Angehörige der Bahn-Nationalmannschaft habe ich nach russischem Recht in der Schwangerschaft und auch nach der Geburt weiter ein Gehalt erhalten. Es war die beste Zeit meines Lebens und ich hätte es damals für unmöglich gehalten, mit einem Kind weiter professionell Radsport betreiben zu können.”
Doch dann eröffnete sich für Dronova-Balabolina nach einem Sieg bei einem UCI-1.2-Rennen in der Türkei, das sie mit der russischen Nationalmannschaft bestritt, die Möglichkeit, bei der damaligen Continental- und heutigen World-Tour-Equipe Team Roland eine zweite Karriere als Straßenprofi zu starten. “Ich bin vor der Geburt meines Sohnes nur auf der Bahn gefahren. Als Daniel zwei Monate auf der Welt war, habe ich wieder mit dem Radfahren begonnen und schnell gemerkt, dass ich körperlich in besserer Verfassung war als jemals zuvor. Die Tatsache, dass er jetzt da war, gab mir einen großen Leistungsschub. Daniel war und ist der wichtigste Sieg in meinem Leben”, sagt die 30-Jährige, die mit ihrer Familie in der Türkei lebt.
In einem Punkt sind sich sowohl die beiden Lidl-Trek-Profis als auch Dronova-Balabolina einig. Alleinerziehend, ohne eine verlässliche Partnerschaft im Hintergrund sei der Spagat zwischen dem Nomadenleben als Radprofi und dem Muttersein nur sehr schwer zu bewerkstelligen. Deignans Ehemann Phil, selbst bis 2018 erfolgreicher Radprofi im britischen Team Sky, hatte bei der Geburt des ersten gemeinsamen Kindes seine Karriere bereits beendet. Nun übernimmt er einen Großteil der familiären Aufgaben, derweil seine Frau versucht, an frühere Erfolge anzuknüpfen. Die Kinder der Deignans sind bei Radrennen der Mutter selten bis nie mit dabei. Auch im Hause der amtierenden russischen Straßenmeisterin Dronova-Balabolina sind die Rollen klar verteilt.
Ehemann Vladislav, früher selbst erfolgreicher Radfahrer und mittlerweile auch Coach der Allrounderin, sowie Tamaras Mutter übernehmen, wenn sie mit dem Team zu Rennen oder Trainingscamps unterwegs ist. “Als mein Sohn kleiner war, habe ich versucht, ihn immer mal wieder zu Rennen mitzunehmen. Die zusätzlich anfallenden Kosten habe ich dabei selbst übernommen”, erzählt sie. “Während der Saison 2023 hatte ich 60 Renntage plus die Tage im Höhentrainingslager, an denen es nicht möglich war, zwischendurch zu meiner Familie zu fliegen. Ich sehe mein Kind ungefähr vier Monate im Jahr nicht, das ist schon hart.”
Ohne eine verlässliche Partnerschaft im Hintergrund ist der Spagat zwischen dem Nomadenleben als Radprofi und dem Muttersein nur sehr schwer zu bewerkstelligen.
Eine Situation, der sich Ellen van Dijk bislang nicht stellen musste. “Als ich letzten Dezember mit dem Team an die Costa Blanca reiste, war der Trainingsalltag dort völlig unproblematisch für mich. Ich habe mit meinem Freund Benjamin und dem kleinen Faas abseits des Teams in einem Appartement gewohnt, für den ganzen Februar haben wir uns ein Haus in Spanien gemietet, damit wir als Familie zusammenbleiben können. Damit kann ich mich größtenteils weiter voll auf mein Training konzentrieren. Für Benjamin hat sich viel mehr in seinem Leben geändert, er musste es komplett umkrempeln und ich kann weiter meinen Beruf als Radprofi ausüben”, beschreibt van Dijk die Unterstützung durch ihren Partner.
Auch wenn es immer die persönliche Entscheidung der Sportlerin bleibt, existiert nach Meinung von Iris Slappendel noch keine Chancengleichheit im weiblichen Profi-Peloton bei der Entscheidung für oder gegen ein Kind während der Karriere. “Als wir uns 2017 in einem Komitee aus Vertretern der UCI, Teams und Fahrerinnen zusammensetzten, wussten alle Parteien, dass es sich bei dem Thema Schwangerschaft und Mutterschutz für Radprofis um ein Menschenrecht handelt, das in den meisten zivilisierten Nationen gesetzlich geregelt ist. Es ging also gar nicht so sehr um das Ob, sondern vielmehr um das Wie. Bei dieser Fragestellung waren die Existenzängste der Teams größer als mögliche Bedenken seitens der UCI”, berichtet die TCA-Vorsitzende.
So entschied man sich für ein schrittweises Vorgehen, das zunächst eine Implementierung in den UCI-Regularien nur für World-Tour-Teams vorsah. Diese beinhalten, dass die Sportlerinnen während der ersten drei Monate der Schwangerschaft ihr volles Gehalt bekommen und für weitere fünf Monate die Hälfte. “Sie fahren also in dieser Zeit keine Rennen, bekommen aber trotzdem weiter Gehalt von ihren Teams”, erläutert Slappendel.
“Die Zeit des Mutterschutzes muss zudem auch von den Teams bezahlt werden. Ein wichtiger Schritt, auf den wir stolz sind! Aber eben nur für die Frauen aus den größeren Mannschaften, die an sich schon mehr verdienen. Fahrerinnen wie Lizzie Deignan oder Ellen van Dijk verdienen so gut, dass sie sich keine finanziellen Sorgen in den Monaten nach dem Mutterschutz machen müssen. Für Radsportlerinnen aus unterklassigen Teams sieht die Situation aber viel schwieriger aus. Es ist leider immer noch häufig so, dass diese Frauen kein Gehalt bekommen. Das macht die Entscheidung für ein Kind während der Karriere natürlich ungleich komplizierter.”
Den Kinderwunsch von Ex-Profi Lisa Brennauer hat das allerdings nicht beeinflusst. Die Bahn-Olympiasiegerin in der Mannschaftsverfolgung von Tokio 2021 fuhr bis zu Ihrem Karriereende im August 2022 für das deutsche Team Ceratizit-WNT – damals eine Continental-Equipe, für die die neuen Regeln nicht galten. “Das hat meine Entscheidung, erst nach der Karriere Mutter zu werden, überhaupt nicht beeinflusst”, erinnert sich die Allgäuerin. “Mein Partner und ich waren uns schon länger darin einig, dass wir den Fokus zunächst voll auf meinen Sport richten und erst nach meiner Laufbahn eine Familie gründen möchten. Auch ich bin, wie viele andere Athleten der Bahn-Nationalkader, Angestellte der Bundeswehr. An dieser Stelle ist die Mutterschaftsordnung für Soldatinnen an die Grundzüge des Mutterschaftsschutzgesetzes angelehnt. Somit musste ich mir hinsichtlich finanzieller Absicherung während der Schwangerschaft und im Mutterschutz keine Gedanken machen.”
Auch Lizzie Deignan geriet während ihrer Babypausen nicht in finanzielle Schieflagen. Die Gewinnerin des ersten Frauenrennens Paris-Roubaix 2021 ist sich ihrer privilegierten Situation aber durchaus bewusst. “Für mich war es natürlich ein Riesenvorteil, während der Schwangerschaft und in der Zeit danach bei Trek unter Vertrag zu stehen. Das Team ist beim Thema “Kind während der Karriere” im Hinblick auf die Unterstützung der Frauen sicherlich am besten im gesamten Peloton aufgestellt”, so die Olympia-Zweite von London 2012.
Elke Weylandt, Sprecherin des Team-Managements von Lidl-Trek ergänzt: “Wir wollen an dieser Stelle das Richtige tun, das heißt, wenn sich unsere Sportlerinnen während ihrer aktiven Karriere für ein Kind entscheiden, unterstützen wir dies voll und ganz. Das gilt für Lidl, Trek und alle anderen Partner und Sponsoren gleichsam. Wir sind der festen Überzeugung, dass Sportlerinnen nicht gezwungen werden sollten, ihre Karriere zu beenden oder in finanzielle Probleme zu geraten, nur weil sie eine Familie gründen möchten. Unsere Fahrerinnen bleiben vollständig in das Team integriert und erhalten während ihrer Schwangerschaft und Elternzeit weiterhin die gesamte Unterstützung, die sie benötigen.”
Ob diesem Beispiel künftig mehr Teams im Frauen-Profiradsport folgen werden, bleibt abzuwarten. Die Zeiten vor 2018, in denen es Vertragsklauseln den Teams noch ermöglichten, Fahrerinnen bei Schwangerschaft fristlos zu kündigen, scheinen jedoch überwunden zu sein.
Dr. Susanne Weber ist aktive Triathletin und betreut als niedergelassene Gynäkologin sowie Expertin für Frauenheilkunde und Sport regelmäßig Leistungssportlerinnen auch aus dem Radsport.
TOUR: Frau Dr. Weber, kann eine professionelle Radsportlerin nach der Schwangerschaft an das vorherige Leistungsniveau anknüpfen?
DR. WEBER: Ja, das kann sie durchaus! Entscheidend für ein erfolgreiches Comeback nach einer Babypause ist aber auch der Schwangerschaftsverlauf an sich. Jede Schwangerschaft verläuft, auch bei den Empfehlungen hinsichtlich sportlicher Betätigung in diesen Monaten, immer individuell.
Welche physiologischen Veränderungen sind während der Schwangerschaft zu erkennen und wie wirken sich diese auf das Training der Sportlerin aus?
Die Veränderungen im weiblichen Körper während der Schwangerschaft sind gravierend und das auch durchaus im positiven Sinne. Das Sportlerinnen-Herz kann immens von diesen Veränderungen profitieren. Herzwanddicke und -dehnfähigkeit steigen an, ebenso Frequenz und Schlagvolumen. Die Auswurfleistung des Herzens erhöht sich dabei um 30 bis 50 Prozent, wobei der Großteil dieser Veränderung bereits um die 20. Schwangerschaftswoche erreicht ist. All das sind Prozesse, die für das Training einer hoch ausdauertrainierten Sportlerin natürlich förderlich sein können.
Wann raten Sie Radsportlerinnen, nach der Geburt wieder mit dem Training auf dem Rennrad zu beginnen?
Aus medizinischer Sicht sollte die Frau die gynäkologische Abschlussuntersuchung nach dem sechswöchigen Wochenbett abwarten, bevor mit intensiveren Belastungen auf dem Rad wieder begonnen wird. Natürlich muss zudem berücksichtigt werden, ob die Sportlerin nach einem möglichen Dammschnitt oder -riss bei einer Spontangeburt dann schon wieder beschwerdefrei auf dem Sattel sitzen kann.