Daniel Brickwedde
· 12.06.2024
Für Felix Gall ist das alles noch neu. Die ganze Aufmerksamkeit rund um seine Person. Das hat er in den vergangenen Monaten mehrfach betont. Denn zwingend erwartet hat er diese Entwicklung nicht - zumindest nicht in der Turbo-Geschwindigkeit, in der seine Karriere eine neue Erzählung bekam. Vor zwölf Monaten war selbst sein Start bei der Tour de France noch ungewiss, bestenfalls als Helfer, ein Jahr später ist er der unumstrittene Kapitän seiner Mannschaft Decathlon AG2R La Mondiale. Dazwischen: Sein erster Profisieg bei der Tour de Suisse 2023, der Tageserfolg auf der Königsetappe der Tour de France in Courchevel und Platz acht im Endklassement der Frankreich-Rundfahrt. Zwei Monate, die Galls Leben auf den Kopf gestellt haben.
Am Jahresende wählten ihn die Journalisten obendrein zu Österreichs Sportler des Jahres, ein bemerkenswerter Erfolg für einen Radprofi. Zuletzt gelang das Georg Totschnig 2005. Aus der Masse des Pelotons auf einmal zu einem der bekanntesten Sportler des Landes. “Es hat schon einige Zeit gebraucht, bis ich richtig kapiert habe, was alles passiert ist. Während der Saison habe ich teilweise richtig Probleme gehabt, alles zu realisieren und meine Leistungen richtig einzuordnen”, sagte Gall zu Jahresbeginn dem Kurier aus Österreich. Im Dezember nahm er sich daher bewusst zurück. Zeit zum Innehalten und Einordnen.
Ein Durchbruch, wenn auf einmal alles zusammenpasst, trifft einen Sportler gelegentlich ja unvorbereitet. Es passiert einfach. Diese Leistung dann zu bestätigen, das ist dann die vermeintlich schwierigere Aufgabe, vor der jeder Emporkömmling steht. Leistungen sind fortan mit einem anderen Anspruchsdenken verbunden – vom Team, aber auch der Öffentlichkeit. Die einen kommen damit besser, die anderen schwieriger zurecht. “Nun als Leader in die Tour de France zu gehen, ist eine neue Verantwortung für mich. Ich weiß aber, was ich zu tun und wie ich mich vorbereiten zu habe”, sagt Gall während einer Presserunde Anfang Juni, wenige Tage vor dem Start der Tour de Suisse, dem letzten Härtetest vor der Tour de France.
Einen gewissen Druck bringt die neue Rolle selbstredend mit sich. Für Gall überwiegt aber die Befriedigung: Er ist nun da angekommen, wo er immer hinwollte - mit all den Privilegien, die es für einen Spitzenfahrer mitbringt. Beispielsweise bei der Saisonplanung. Für Gall nicht unwichtig. “Im Winter war klar, dass die Tour das große Ziel ist. Das ist der Unterschied zum Vorjahr, dass man nun eine gewisse Ruhe hat. Vor einem Jahr stand die Tour ja bis April noch nicht einmal in meinem Programm”, sagt der 26-Jährige.
Die bisherige Saison verlief jedoch mittelmäßig: Bei der Andalusien-Rundfahrt und der Baskenland-Rundfahrt konnte Gall durch Stürze nicht wie erhofft performen, bei Paris-Nizza landete er immerhin auf Rang neun in der Endabrechnung - für das eigene Gemüt ein entscheidender Leistungsnachweis. “Für mich war es wichtig, dass ich etwas vom vergangenen Jahr bestätigen konnte. Denn hätte ich bislang noch kein gutes Rennen oder Ergebnis in der Saison gehabt, dann wäre es schon schwierig gewesen”, so der Österreicher.
Zuletzt absolvierte er ein Höhentrainingslager in der Sierra Nevada, die Leistungswerte passen, das Gewicht sei aktuell mit unter 65 Kilogramm besser als im Vorjahr. Die letzte Rennintensität vor der Frankreich-Rundfahrt soll nun die Tour de Suisse bringen, dort, wo im Vorjahr sein Aufstieg begann. Damals fuhr Gall auf der 4. Etappe seinen ersten Profisieg ein, schlüpfte für einen Tag ins Führungstrikot und kämpfte lange um den Gesamtsieg. “Das hat mir echt die Augen geöffnet, was möglich ist. Es war auch das erste Mal, dass ich ein sehr gutes Höhentrainingslager gemacht und gemerkt habe, wie stark das bei mir anschlägt”, sagt er.
Großes Talent bekam Gall früh bescheinigt. 2015 gewann er die Junioren-Weltmeisterschaft und landete im Anschluss im Development-Team von Sunweb (heute DSM). Auch seine ersten beiden Profijahre verbrachte er dort. Doch in der niederländischen Mannschaft kam sein Potenzial nie wie erhofft zur Entfaltung - zum Teil auch durch gesundheitliche Rückschläge. “Manches Team passt nicht zum Rennfahrer - oder der Rennfahrer nicht zum Team. Wir hatten unterschiedliche Ansichten, wohin die Reise geht”, sagte Gall bereits im Vorjahr zu TOUR.
Nun fügt er in der Presserunde an: “Ich habe immer den Anspruch gehabt, dass ich vorne mitfahre. Das war in den vergangenen Jahren nicht der Fall. Da zweifelt man schon und stellt sich die Frage: Inwiefern macht das noch Sinn, irgendwo herumzufahren und das Gefühl zu haben, nicht wirklich etwas ausrichten zu können.” 2023 wechselte er zur französischen Mannschaft AG2R, die zu dieser Saison Decathlon als Partner gewann. Im neuen Umfeld sei “die Freude wiedergekommen”, sagt Gall. Den nun eingetretenen Leistungssprung habe er sich zwar “erhofft, aber nicht in dieser Form erwartet.”
Was ihm im neuen Team ein gutes Gefühl gibt? “Das ist das Vertrauen und die Freiheiten, die ich habe”, sagt Gall, “natürlich braucht man Richtlinien und Anleitungen, dafür ist der Trainer da. Ich kenne meinen Körper aber sehr gut. Es ist wichtig, dass der Trainer auch mir zuhört und der Athlet sich wohlfühlt.”
Nach der Tour de Suisse reist Gall mit seinem Trainer und dem Team noch nach Isola 2000, einem Wintersportgebiet im Norden Frankreichs, in dem die 19. Etappe der Tour de France endet. Dort inspiziert man noch einige Anstiege und Abfahrten, “damit ich mich dort wirklich wohlfühle”, wie Gall sagt.
Zuvor schaute er sich bereits Abschnitte der 9. Etappe über Schotterpassagen nach Troyes sowie die beiden Zeitfahrstrecken an. Denn der Kampf gegen die Uhr gehörte bislang nicht zu seinen Stärken – die 59 Zeitfahrkilometer im diesjährigen Streckenplan, deutlich mehr als in den Vorjahren, sind da nicht zu seinem Vorteil. Also arbeitete man im Team intensiv an Galls Zeitfahrqualitäten und dem Material. “Ich will nicht sagen, dass ich Spezialist geworden bin, aber wir haben an der Position gearbeitet. Das war für mich der größte Punkt, wo ich Probleme hatte - dass ich die Leistung vom Rennrad aufs Zeitfahrrad bringe”, sagt Gall.
Bei der Tour de France konkurriert er nun mit der Erwartungshaltung aus dem Vorjahr, ihm ist das bewusst: “Das steht auf dem Papier und man vergleicht sich damit. Man weiß: Das habe ich schon mal geleistet”, so Gall. Eine konkrete Zielsetzung will er daher nicht ausgeben. Die Aussicht auf einem weiteren Etappensieg plus Top-Ten-Platzierung würde der Österreicher nach eigener Aussage aber sofort akzeptieren. “Ich weiß aber auch, wie fragil das Ganze ist. Im Vorjahr hatte ich keinen Sturz und bin nicht krank gewesen”, sagt Gall. Derweil sei in der dritten Woche im Vorjahr auch noch Luft nach oben gewesen, ergänzt er.
Der Fokus für die Tour de France ist indes eindeutig: die Gesamtwertung. Eine Top-Ten-Platzierung gegen das Bergtrikot tauschen? Gall hat dafür ein klares: “Nein”. Er will sich als Klassementfahrer weiter etablieren. Und seinen neuen Status bestätigen.