Unbekannt
· 17.06.2015
Eddy Merckx hat alles gewonnen, was es im Radsport zu gewinnen gab. Zu seinem 70. Geburtstag am 17. Juni 2015 erinnern wir an den siegeshungrigen Belgier. Eine Einordnung von TOUR-Autor Tim Farin.
Selbst in Unterhose und mit Altherrenstrümpfen bis knapp unterm Knie strahlt dieser Mann historische Aura aus – so empfand es jedenfalls ein niederländischer Kollege beim Gespräch mit dem vielleicht größten Radsportler aller Zeiten. Weitgehend entkleidet ließ sich Eddy Merckx im vergangenen Frühjahr auf einer Liege im Ritz-Carlton-Hotel in Doha, Katar, massieren. Der Reporter – drei Jahrzehnte jünger als Merckx – saß daneben und befragte den Belgier. Gleich zu Beginn wollte der Journalist wissen, ob es angemessen sei, Merckx in einer Reihe mit Muhammed Ali und Pélé zu nennen. "Absolut", erwiderte Merckx, "nicht um hochmütig zu sein, aber ich bin der beste Rennfahrer meiner Generation."
Dies soll der Versuch eines Nachgeborenen sein, über diesen Prominenten nachzudenken, der nun 70 Jahre alt wird. Natürlich wissen wir, die unter 50-Jährigen, um die enorme Rolle dieses Ausnahmesportlers. Er ist ein lebendes Denkmal. Von 1968 bis 1975 dominierte Merckx die gesamte Disziplin. Er vereinigte die Königreiche der Kopfsteinklassiker, bis dahin unter Rik van Looys Herrschaft, und der großen Rundfahrten, in den 1960ern geprägt von Jacques Anquetil. Seine erste Tour de France wurde zum Symbol seiner gesamten Ägide: sechs Etappensiege und 17:54 Minuten Vorsprung auf den Zweiten der Gesamtwertung, Roger Pingeon. "Merckxissimo", feierte ihn Tour-de-France-Direktor Jacques Goddet in seiner Zeitung L’Equipe – und die Tochter eines Teamkameraden erfand den ewigen Beinamen des Belgiers: Kannibale.
Merckx, der Kannibale, das klingt für alle Rennradinteressierten heute noch nach – auch bei Leuten wie mir, Jahrgang 1976, die kaum geboren waren, als der Champion seine Karriere beendete. Und doch ist es für Nicht-Zeitzeugen schwierig, ein gesundes Gefühl für die Leistungen des dreimaligen Profiweltmeisters zu entwickeln. Dürfen, können, sollen wir ihn bewundern, nach allem, was in den bald fünf Jahrzehnten seit Merckx’ erstem Tour-Sieg passiert ist?
Merckx steht für eine fremde Zeit, in der Radsportler als Helden verehrt wurden – und seinen Namen kennen heute noch die meisten. Er selbst war es, der die Sportart in seinem Heimatland über die arbeitende Klasse hinaus öffnete, der durch seine Triumphe weite Teile der Bevölkerung inspirierte. Sein Tour-de-France-Sieg 1969 war für Belgien ein nationales Ereignis. Merckx paradierte im offenen Cabrio durch Brüssel, das Königspaar empfing ihn und seine Teamkollegen. Die Ära der TV-Live-Übertragungen hatte gerade erst begonnen, und dieser Mann mit den schwarzen Haaren und den langen Koteletten avancierte zur Ikone. Wie die Bilder von Muhammed Ali und Pélé sind Merckx-Fotos Teil des kulturellen Erbes.
Spätestens für meine Generation, die Generation Y, verschwimmt das Bild, es wird nicht mehr richtig greifbar, was vor Jahrzehnten zur Begeisterung anregte. Wer Jan Ullrich gegen Lance Armstrong kämpfen sah und dann verfolgte, was der Radsport sich selbst antat und wie er von den Medien seziert wurde – die ihm überhaupt erst seinen Status ermöglicht hatten –, braucht viel Vorstellungskraft, um die Heldentaten des Eddy Merckx ohne Sternchen, ohne Zynismus, ohne Fragezeichen zu betrachten. Der Name Armstrong wirkt wie ein Filter.
Doch der Name Armstrong ist es auch, der uns zeigt, wie wahnsinnig weit weg Merckx und seine Taten von unserer heutigen Zeit sind. Einen Tag nach dem ersten Tour-de-France-Triumph des Belgiers setzte der Amerikaner Neil Armstrong als erster Mensch einen Fuß auf den Mond. Die Menschheit staunte und feierte ihre vornehmsten Helden. Für uns heute, die Massenproteste gegen einen Bahnhof oder Stromtrassen für die Norm halten, wirkt dieser epochale Schritt wie Science Fiction. Es gab aber einmal wirklich Menschen, die so weit gingen, um die Grenzen der Menschheit auszureizen. Merckx sportliche Großtaten scheinen diese Abenteuer im All zu spiegeln. Sind es also Heldentaten?
Der britische Radsport-Journalist Daniel Friebe, selbst ein Nachgeborener, berichtet in seiner Merckx-Biographie über das Dilemma, vor dem belgische Journalisten nach der Mondlandung standen. Sie mussten die Nachricht aus dem All gegen Merckx’ ersten Tour-Sieg gewichten, der am belgischen Nationalfeiertag von Flamen und Wallonen gleichermaßen gefeiert wurde. Das war eine historische Leistung. Viele Journalisten, schreibt Friebe, hätten sich für den Sport entschieden. Merckx, ein Pionier der TV-Heldentaten.
Wir leben weit weg von diesem Merckx und seiner Zeit. Können wir uns etwa noch vorstellen, dass sich Vincenzo Nibali mit Bierglas oder Chris Froome mit Zigarette in der Hand fotografieren lässt? Es braucht nicht viel Fantasie, um sich den Aufschrei vorzustellen, der die Sportwelt erfassen würde. Doch haben wir eine kuriose Sehnsucht nach dieser Zeit, wie Fernsehserien à la Mad Men zeigen. Jacques Anquetil posierte einst für die Werbung der Biermarke Champigneulles – und Eddy Merckx gab sich überzeugt von den Zigaretten der Marke R6. Sie seien "die intelligente Wahl", hieß es da, "für mich ist es die erste nikotin- und teerarme Zigarette mit so viel Geschmack".
Man muss dazu erwähnen: Merckx und seine sportlichen Wettbewerber lebten, so berichten es die Zeitzeugen, genauso professionell wie Radfahrer heute. Merckx war kein Raucher. Aber eben eine Werbefigur für eine Öffentlichkeit, die viele Zweifel nicht kannte, welche wir heute tief verinnerlicht haben. Man stelle sich nur das Bild vor, wie Marcel Kittel im Zielsprint ohne Sturzhelm über den Asphalt jagt. Und Merckx, so fand Daniel Friebe bei den Recherchen zu seinem Buch heraus, gewann trotz einer hochakuten, lebensgefährlichen Herzerkrankung beim Giro 1968.
Es dürfte keine allzu steile These sein: Merckx könnte für unsere Generation heute niemals der Held werden, der er seinerzeit wurde. Dreimal wurde er in seiner Karriere positiv auf Doping getestet. Das erste Mal, 1969 und damit nur zwei Jahre nach dem Tod des Briten Tom Simpson, beim Giro d’Italia. "Savona war der Moment, in dem Merckx seine Unschuld verlor, als der Sport, der ihm Erfüllung und tiefe Freude gab, seine dunklere und hinterhältigere Seite offenbarte", schreibt William Fotheringham in seiner Biographie "Merckx: Half Man, Half Bike". In Savona war Merckx am Morgen des 2. Juni 1969 als Träger des Rosa Trikots in seinem Zimmer vom eigenen Sportdirektor, dem Giro-Direktor, einem TV-Kamera-Team sowie belgischen Journalisten überrascht worden. Am Tag zuvor, so die Nachricht, hatte Merckx eine positive Urinprobe abgegeben, Fencamfamine war gefunden worden, ein Aufputschmittel. Merckx reagierte zerstört, beteuerte auch später immer seine Unschuld. Es gab wilde Gerüchte um Manipulationen. Hatte jemand anders Merckx etwas untergejubelt?
Bis heute bleiben die Zweifel bestehen, ob Merckx wirklich selbst zu einem Mittel griff. Unglaubwürdig war aber die Antidoping-Politik jener Zeit. Nicht nur die technische Handhabe und der Prozess der Dopingprobe würden heutigen Standards nicht genügen. Das Nachspiel der Affäre erstaunt noch mehr: Eigentlich hätte Merckx einen Monat gesperrt werden müssen. Doch am 2. Juli 1969 begann die Tour de France – mit Etappen in Merckx‘ Heimat. So entschied sich die Profifahrer-Vereinigung, "im Zweifel" für Merckx zu entscheiden. Fotheringham ist der Überzeugung, dass Merckx es der Radsportwelt in der Folge zeigen wollte: "Er fühlte sich dazu verpflichtet", schreibt der Biograf, "absolut sicherzugehen, dass nichts ihm den Sieg rauben konnte, den er so lange wollte."
Was für uns heute unglaublich, vielleicht sogar verdächtig, zumindest aber völlig irreal wirkt, das ist Merckx‘ Alleinstellung. Gewinnt einer im Frühjahr zwei Klassiker, ist das schon sensationell. Teamwork ist auch auf dem Rad Pflicht, Mannschaften agieren geschlossen. In unserer ausdifferenzierten Welt ist es für keinen Fahrer mehr denkbar, in einem Jahr bei 120 Starts 54-mal zu gewinnen. Merckx legte das 1972 vor: Mailand-San Remo, Lüttich-Bastogne-Lüttich, Flèche Wallonne, Lombardei-Rundfahrt, Giro-Sieg, Tour-de-France-Triumph sowie der Stundenweltrekord in Mexiko – alles Siege aus diesem einen Jahr.
Merckx war eine Übermacht, die vom Großteil des Pelotons nicht angegangen wurde. "Außerdem mussten sich die Fahrer, die sich daran wagten, meistens so übermäßig anstrengen, dass dies ihre Karriere nachhaltig verkürzte", schreibt der niederländische Soziologe Benjo Maso in "Der Schweiß der Götter": Luis Ocaña, José Manuel Fuente, Bernard Thévénet und Cyrille Guimard versuchten es während der großen Rundfahrten, mehr Fahrer waren es nicht – "und es ist gewiss kein Zufall", schreibt Maso, "dass sie sich allesamt nicht lange an der Spitze halten konnten." Guimard musste sich 1972 unter Novocain-Anwendung gegen Merckx wehren, ehe er entkräftet die Tour aufgab. Merckx hatte eine so herausragende Rolle, dass Sponsoren zögerten, sich anderen Mannschaften zu widmen. Andere Fahrer wie Joop Zoetemelk und Lucien Van Impe hofften nur noch auf Fehler, während sich wieder andere direkt Merckx‘ Mannschaft anschlossen. Ein Wettbewerb der Teams, wie er für uns heute selbstverständlich ist, existierte damals nicht. Ein Mann dominierte alles. Eine fremde Vorstellung.
Merckx hat seine Ausnahmestellung, weil es damals noch den Raum gab für ein überlegenes Individuum – und er die körperlichen Voraussetzungen und den unbändigen Willen hatte. Erstaunlich ist dies, denn nicht nur der Autor Daniel Friebe hält Merckx‘ Zeitgenossen für illuster, doch Merckx habe sie "in den Schatten gestellt, praktisch ausgelöscht" – obwohl sie "ein Sternbild formten, wie es der Radsport nie heller gesehen hat." Die TV-Übertragungen brachten ihm das Massenpublikum und bis dahin nicht gekannte Sponsorenverträge. Heute, im globalisierten Sport- und Aufmerksamkeitskapitalismus, gibt es viele hochprofessionelle Organisationen, die Sportler mit austarierten Plänen in den Wettkampf schicken. Zu viel Dominanz würde die Quote killen. 1970 schrieb Ulfert Schröder in der ZEIT, Merckx sei nach Coppi der erste Fahrer, der alleine gegen alle Konkurrenten die Tour de France gewinnen konnte. Für Merckx sei der Sieg eine Droge. "Und er wolle ihn stets ganz, unteilbar, unanfechtbar und so eindeutig wie möglich. Und deshalb ist es keineswegs eine Übertreibung zu behaupten, Merckx vernichte nicht nur seine Gegner, sondern auch den Radsport", schrieb der Autor in der Wochenzeitung.
Tatsächlich liest man diesen Vorwurf aus Merckx‘ Zeit häufiger, und es ist oft beschrieben worden, dass viele Fans den Belgier wegen seiner wachsenden Dominanz irgendwann nicht mehr sehen wollten. Doch Pierre Chany, der legendäre französische Radsportjournalist, konterte diese Kritik: "Hat sich schon einmal jemand gefragt, ob Molière dem Theater schadete, Bach der Musik Schaden zufügte, Cézanne für die Malerei schlecht war oder Chaplin das Kino ruinierte?" Wer sich dem Fahrer künstlerisch unterwerfen möchte, sollte sich den Bildern seiner Zeit hingeben, und dafür empfiehlt sich besonders der Film "La Course en Tête", eine opulente Dokumentation über Merckx aus dem Jahre 1974.
Es ist ein Paradox, dass Merckx noch in seiner ersten Niederlage bei der Tour de France den Triumph über seine Zeit vervollständigte. 1975 war Merckx am Fuße des Col du Télégraphe auf sein Gesicht gefallen. Er fuhr weiter, über 225 Kilometer und jagte den Spitzenreiter Thévenet. Nach der Etappe stellte man bei Merckx einen doppelten Bruch an Wangenknochen und Kiefer fest. Merckx hörte nicht auf die Ärzte und fuhr die Tour weiter, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag und Sonntag. Merckx bereute es später aus medizinischer Sicht, doch als der Sportler, der seine Generation niederstreckte, musste er weitermachen. Er hätte sich wohl nie verziehen, wenn Spitzenreiter Thévenet noch einen Fehler gemacht und Merckx diese Chance nicht mehr bekommen hätte. Der Guardian-Autor Fotheringham sieht in dieser Niederlage denn auch jenes Ereignis, das Merckx‘ von allen anderen abhebt. Erst hier sei zum Vorschein gekommen, was all die Jahre und Triumphe lang übersehen worden war: "Professionelles Gewissen, eine alles erfassende Hingabe, einen Widerwillen, sich dem Diktat des Schicksals zu unterwerfen, eine schier blinde Liebe für sein Metier, die Angst davor, etwas zu machen, was er später bereuen würde: Er zeigte all diese Dinge an diesen sechs Tagen der Öffentlichkeit." Und so sei Merckx am Ende, bei seiner ersten Rundfahrtniederlage, populärer gewesen als je zuvor.
Leute wie ich kennen diese Zeit nur aus Erzählungen, von der Musik, aus wilden Filmen. Eine Zeit, in der unsere westliche Welt sich verformte, in der die Jugend revoltierte, die Kunst und die Musik die Massen in Euphorie versetzten und sich alles verschob. In jener Zeit avancierte Eddy Merckx zu jenem Star, der er bis heute bleibt. Einem Star, so wird man feststellen können, wie wir ihn uns heute nicht mehr vorstellen können. Es war sein Glück, dass er in eine Zeit geboren wurde, in der noch Ikonen entstehen konnten. Es war aber kein Glück, sondern sein eiserner Wille, der aus ihm diese Ikone hat werden lassen. Während seines Soloritts durch die Pyrenäen bei der Tour 1969 wusste die Radsportwelt nicht, wie sie auf ihn reagieren sollte. Auch für uns Nachgeborene bleibt das eine schwierige Aufgabe.