Domenico Pozzovivo mag es romantisch. Zumindest, wenn es um klassische Musik geht. Frederic Chopin und Franz Liszt seien seine Idole, sagte er einst. Denn auch Pozzovivo saß noch als junger Mann sehr viel hinter dem Klavier. “Als ich dann aber Umziehen musste, war es schwierig, kontinuierlich weiterzumachen, denn das Piano ist ein Instrument, mit dem es sich nicht besonders gut reisen lässt”, sagte er einst Velo News. Umziehen musste Pozzovivo, weil er das Fahrrad noch etwas mehr lieben gelernt hatte als die Musik.
Als Junge aus dem Süden Italiens - seine Geburtsstadt Policoro liegt direkt am Golf von Taranto, also zwischen der Spitze und dem Hacken des italienischen Stiefels - musste er mit 17 Jahren in den Norden ziehen, um Rennen fahren zu können, denn dort war der Radsport seinerzeit viel populärer. Erst zwei Jahre zuvor hatte er begonnen, sich ernsthafter auf das Rad zu fokussieren. Profi wurde er dann 2005 mit 22 Jahren, nachdem er ein Studium der Wirtschaftswissenschaften abgeschlossen hatte. Mittlerweile hat er darauf aufbauend eine Doktorarbeit geschrieben. Seine Hobbys: Politik, Geschichte und Wettervorhersagen. Dass er im Peloton unter dem Namen “Dr. Pozzovivo” fährt, kommt also nicht von allzu weit her.
Zumindest in dieser Saison war der Italiener noch Teil des Feldes. Bei der Lombardei-Rundfahrt absolvierte er mit fast 42 Jahren sein letztes Rennen als Profi. An seiner Motivation läge das nicht, Spaß habe er immer noch im Sattel, keine Probleme zu trainieren. “Die Gründe für meinen Rücktritt sind auf jeden Fall das Alter und das mit dem Radsport verbundene Risiko. Weiterzumachen hieße, Ärger heraufzubeschwören”, sagte Pozzovivo im Gesprräch mit Bici.Pro, bevor er sein letztes Monument in Angriff nahm. Und mit Ärger kennt sich Pozzovivo aus.
In der Vorbereitung auf die Vuelta Espana 2019 stieß er im Training frontal mit einem Auto zusammen, das auf der falschen Straßenseite unterwegs war. Die Folge: eine Lungenquetschung und zahlreiche Knochenbrüche, darunter die Arme, ein Schien- und ein Schlüsselbein, diverse Rippen. “Ich habe mir dabei ungefähr 20 Knochen gebrochen und musste 16 Mal operiert werden”, sagte er später zu Cycling Weekly. Diverse Metallplatten und Schrauben halten einige Brüche noch heute zusammen. Dazu war Pozzovivo in den letzten Jahren seiner Karriere aufgrund einer schiefen Haltung auf dem Rad, die von jenem Unglück rührte, besonders gut auszumachen. Ärzte sagten ihm, auch aufgrund seines bereits fortgeschrittenen Sportleralters, sein Karriereende voraus. Doch Pozzovivo machte unerschrocken weiter.
Schon 2015 hatte es ihn schwer erwischt. Beim Giro stürzte er in einer Abfahrt auf der 3. Etappe schwer. Nachdem er mit dem Kopf aufgeschlagen war, verlor er das Bewusstsein und blieb minutenlang regungslos liegen. Die Lage sei ernst, aber nicht lebensbedrohlich gewesen, sagte ein Rennarzt damals.
Pozzovivos Rücktritt zum Saisonende hat aber noch einen weiteren Hintergrund, “eine wunderschöne Geschichte, wie in einem Film”, nannte er es selbst. In den letzten drei Jahren tat sich der alternde Italiener schwer, ein Team zu finden. Nachdem seine Mannschaft Qhubeka NextHash zum Saisonende 2021 aufhörte, sah es so aus, als wäre auch für Pozzovivo Schluss. Erst Mitte Februar konnte er einen Vertrag bei Intermarche-Wanty-Gobert unterschreiben. Trotz einer erstaunlich erfolgreichen Saison - Rang acht bei Giro als zweitbester Italiener hinter Vincenzo Nibali und Platz drei beim wichtigen italienischen Herbstklassiker Giro dell’Emilia - und dem Vernehmen nach weit fortgeschrittenen Verhandlungen über ein weiteres Jahr, stand er im Winter ohne Team da.
Dieses Mal sollte es bis in den März dauern, bis er ein neues Zuhause bei Israel-Premier Tech finden konnte. Doch auch hier lief sein Vertrag nur bis Jahresende. Aufhören wollte er aber immer noch nicht. Denn ein Ziel war noch offen. Die Einstellung eines uralten Rekordes, der in der heutigen Zeit kaum noch zu erreichen ist. Ein weiteres Jahr, ein weiterer Start beim Giro d’Italia, würde ihn mit Wladimiro Panizza gleichziehen lassen, der es zwischen 1967 und 1985 auf insgesamt 18 Starts bei der Italien-Rundfahrt brachte.
Dass es am Ende die Mannschaft sein würde, bei der Pozzovivo die ersten acht Jahre seines Profidaseins verbrachte, machte die Geschichte dabei perfekt. Beim Pro Team VF Group - Bardiani CSF - Faizane, das 2005 noch Ceramica Panaria - Navigare hieß, konnte er den Giro zum 18. Mal innerhalb von 20 Jahren bestreiten. Der Rekord sei eine seiner Hauptmotivationen gewesen, sagte er bei der Unterschrift. “Aber ich wollte auch nicht im letzten Jahr den Giro nicht beendet haben und bei der Lombardei-Rundfahrt gar nicht erst am Start gewesen sein.”
Die beiden Rennen, die Pozzovio am meisten am Herzen lagen, waren letztlich auch die, bei denen er seine größten Erfolge sammelte. Drei Mal schaffte er es in die Top 8 beim letzten Monument des Jahres. 2011 wurde er mit nur acht Sekunden Rückstand in einer der knappsten Entscheidungen des Klassikers Sechster.
Noch weiter nach oben ging es nur beim Giro. Der Bergspezialist, dessen sportliches Idol Marco Pantani war (“Zu der Zeit, als ich mit dem Radsport anfing, hatte er seine besten Jahre”), fuhr insgesamt sieben Mal in die Top 10. 2008 - es war bereits seine dritte Teilnahme - gelang es Pozzovivo erstmals, unter die ersten Zehn vorzustoßen. In der Endabrechnung war sein neunter Platz noch eine Überraschung. In jener Saison hätte er auch gut und gerne seinen ersten Etappensieg feiern können. Die Bergankunft am Passo Fedaia auf der 15. Etappe beendete er gut zwei Minuten hinter seinem Teamkollegen Emanuele Sella als Zweiter. Der allerdings wurde im August des Jahres positiv auf das EPO-Präparat CERA getestet.
Pozzovivo, einer der kontantesten Bergfahrer der 2010er Jahre, wurde hingegen nie mit Doping in Verbindung gebracht. Dabei begann er seine Karriere in einem der dunkelsten Kapitel des Radsports überhaupt. Erst vier Jahre nach seinem ersten Top-10-Ergebnis in Italien beendete er einen weiteren Giro, dieses Mal als Achter und keinesfalls mehr eine Überraschung.
2012 zählt ohnehin zu den besten Jahren des 1,65 Meter großen und 53 Kilogramm schweren Bergflohs. Neben Platz 8 in der Gesamtwertung feierte er als Solist seinen einzigen Etappensieg auf einer mittelschweren Etappe am Lago Laceno. Kurz zuvor hatte er seine gute Form bereits beim Giro del Trentino, der heutigen Tour of the Alps, unter Beweis gestellt und mit einem Tagessieg auch den Gewinn der Gesamtwertung eingefahren. Auch bei der Tour of Slovenia im Juni gewann er eine Etappe. In der Gesamtwertung reichte es zu Rang zwei. Im Herbst ließ er bei den italienischen Klassikern drei weitere Top-10-Ergebnisse folgen.
In der Saison darauf nahm Pozzovivo erstmals an zwei Grand Tours in einem Jahr Teil. Nach dem zehnten Platz bei der Italien-Rundfahrt lief es bei der Vuelta noch besser mit Rang sechs. Drei weitere Male ging er in Spanien an den Start, Rang elf sprang dabei noch heraus. Noch eine geringere Rolle spielte für ihn die Tour de France. Lediglich drei Starts verzeichnete er dort, Platz 18 war 2018 dabei noch das beste Ergebnis.
Beim Giro hingegen war jenes Jahr 2018 eines der besten in Pozzovivos Laufbahn. Wie 2014 landete er am Ende auf Rang 5. 2017 war er zwar eine Position schlechter, doch der Rückstand auf Sieger Tom Dumolin war mit lediglich 3:11 Minuten deutlich geringer als in den anderen Jahren. Herausragend war auch nochmal das Jahr 2022. Mit 39 Jahren fuhr Pozzovivo als Achter nochmal in die Top 10 einer großen Landesrundfahrt. Dass es für einen der konstantesten Bergfahrer der 2010er Jahre dabei nie für ein Podium in der Gesamtwertung gereicht hat, ist auf seine vergleichsweise schwachen Leistungen im Zeitfahren zurückzuführen.
Bei jenem Giro 2017 beispielsweise mit knapp 70 Zeitfahr-Kilometern, verteilt auf zwei Etappen, verlor Pozzovivo fast sechs Minuten auf Dumoulin. Ohne den Kampf gegen die Uhr hätte er letztlich vor dem Niederländer gelegen. Und vor den ebenfalls vor ihm platzierten Ilnur Zakarin und auch Vincenzo Nibali. 1:16 Minuten hinter Nairo Quintana und 22 Sekunden hinter Thibaut Pinot hätte er den Giro als Dritter beendet.
Was der Karriere aber so oder so vorenthalten bleibt, ist ein Tag im Rosa Trikot. “Das hätte ich gerne noch geschafft”, sagte er mal in seiner vorletzten Saison. Auch in den Kampf ums Bergtrikot hat er sich nie eingemischt, gleichwohl das vielleicht besser zu seinen Fähigkeiten gepasst hätte. Und so bleibt die sportliche Laufbahn des Domenico Pozzovivo trotz ihres unglaublichen Umfangs in gewisser Hinsicht unvollendet. Denn auch bei den einwöchigen Rundfahrten gelang nie der Sprung nach ganz vorne. Vier Top-10-Plätze bei Tirreno-Adriatico, fünf bei der Tour de Suisse. Aber kein Podium. Das schaffte er lediglich einmal als Dritter bei der Katalonien-Rundfahrt 2015. Und als Nachwuchsfahrer, als er den U23-Giro im Jahr bevor er Profi wurde auf dem Treppchen beendete.
Pläne, wie es für ihn nach 20 Jahren im Sattel weitergehen könnte, hat Pozzovivo noch nicht bekanntgegeben. Ein wenig gemeinsame Zeit mit seiner Frau Valentina Conte, die er 2015 heiratete, wird gewiss abfallen. Zudem kündigt sich Nachwuchs an, wie ein Strampler, den er bei der Lombardei-Rundfahrt überreicht bekam, vermuten lässt. Ein Wechsel zum Sportlichen Leiter in einem Team wäre zwar keine Überraschung. Dennoch hatte Pozzovivo vor Jahren auch mal gesagt, dass für ihn die Zukunft als Politiker spannend sein könnte.