Sebastian Lindner
· 01.05.2024
Es gibt Menschen, deren Liste an Lebenszielen so aussehen soll: Ein Haus bauen, ein Kind zeugen, einen Baum pflanzen – und Paris-Roubaix gewinnen. Sehr wahrscheinlich gehört John Degenkolb dazu. Ich hingegen nicht. Auf meiner Liste fehlen gleich zwei dieser Punkte. Einer davon ist Paris-Roubaix.
Die reine Absurdität des Gedanken, dort auch nur in der Fahrzeugkolonne mitfahren zu können, ist aber nur einer der Gründe dafür. Ein weiterer: Ich habe schon einen Pflasterstein-Pokal in der heimischen Vitrine. Okay, der stammt zwar nur von einem Firmenstaffellauf rund um den Kirchturm. Aber wenn ich die gravierte Plakette abnehmen würde und ... na ja.
Auch wenn Paris-Roubaix für mich in erster Linie ein Fernsehevent ist, so schwingen jedes Jahr die Gedanken mit, dass es für einen Hobby-Radfahrer eigentlich auch mal einer ordentlichen Portion Kopfsteinpflaster bedarf, das über jenes auf dem lokalen Marktplatz hinausgeht. Per glücklicher Fügung ergab sich in diesem Jahr die Chance, an der Paris-Roubaix Challenge, dem Amateurrennen, teilzunehmen. Stilecht mit Ankunft im Velodrom und Fahrt über die übelsten Pavés. Und das alles kurz vor dem Profirennen der Frauen.
Noch besser wurde die ganze Nummer, als klar war, dass ich nicht mit meiner eigenen Fondriest-Möhre übers Pflaster zuckeln musste, sondern ein richtiges Rennrad gestellt bekommen würde. Und zwar nicht nur irgendeins. Seit Ivan Basso und Fabian Cancellara Mitte der 2000er Jahre im CSC-Team mit dem Cervélo R3 ihre Siege einfuhren, war für mich klar, dass ich auch irgendwann mal einen dieser schnellen Kanadier fahren will. Aus Budgetgründen ist daraus bis heute leider noch nichts geworden.
Das Budget spielte für die Roubaix-Aktion glücklicherweise nicht die Hauptrolle. Und so sollte ich tatsächlich die Möglichkeit bekommen, dem Pflaster mit dem neuen Cervélo Soloist gegenüberzutreten. Dass dieser Bolide für dieses Terrain mehr als tauglich ist, beweist allein schon der Umstand, dass die Jungs und Mädels vom Team Visma | Lease a Bike ebenfalls mit diesen Maschinen ins Rennen gehen würden.
Und so entwickelte sich die Vorfreude auf den 6. April - bis zu dem Punkt, als mir klar wurde, dass ich da dann ja auch irgendwie in halbwegs vorzeigbarer Form antreten muss. Anfang April! Da habe ich hier im hohen Norden direkt an der Ostseeküste als Schön- und vor allem Warmwetterfahrer in normalen Jahren kaum die ersten Kilometer auf der Straße absolviert. Um Ausreden nie verlegen, ging mir einiges durch den Kopf. Der eigentliche Formaufbau zielt immer auf den Höhepunkt im August ab, wenn es wie immer darum geht, im Höhentrainingslager am Brocken den Kollegen zu distanzieren, um dann in Bestform zu Hause nach dem nur vier Sekunden entfernten KOM am Silo in Kröpelin zu greifen, weil die Bestzeit im Waldsegment der Kühlung für alle Zeiten ohnehin an André Greipel vergeben ist. Daran ändert auch der neue Asphalt nichts.
Dann war da noch der schwierige Spätwinter. Wissen Sie, was ein Paukenerguss ist? Wusste ich auch nicht. Ich habe ihn gerade so überlebt, aber die ganzen Stunden zuvor auf der Rolle waren freilich völlig umsonst. Den Blick auf die mittelfristige Wettervorhersage - hätte ich besser bleiben lassen: Dauerregen und 13 Grad. Im Grunde war alles vorbereitet für den GAU.
Doch erstens kommt es meistens anders, und zweitens als man denkt. Gemeinsam mit Cervélos PR- und Kommunikationsmann Max Schumann, der die Gelegenheit eingefädelt hatte, machten wir uns also auf gen Frankreich. Erster Stopp am Freitag vor dem Rennen: Arenberg. Der wahrscheinlich berühmteste wie berüchtigtste Kopfsteinpflaster-Abschnitt des Rennens inklusive seiner neuen Schikane war unser erstes Ziel, zumal wir uns bei der Challenge für die kurze 70-Kilometer-Runde entschieden hatten, die den Wald aussparte.
Wir parkten den VW Bus auf der großen Stellfläche vor dem ikonischen Steinkohlebergwerk von Arenberg - neben zahllosen Wohnmobilen, die bereits massenweise Belgier den kurzen Weg über die Grenze gebracht hatten. War ja mittlerweile auch bestes Wetter, die Sonne schien. Der starke Wind hatte den befürchteten Regen kurz vor unserer Ankunft gegen Mittag aus der Region geblasen. Zunächst machten wir uns zu Fuß auf über das Pflaster, um ein erstes Gefühl für die tatsächliche Grobschlächtigkeit des Untergrundes zu bekommen.
Wir fanden Lücken zwischen einigen Steinen, die locker auch 32-Millimeter-Reifen verschlucken, und scharfe Kanten, die jedes Vorderrad über Gebühr strapazieren würden. Während wir die Situation analysierten, donnerten neben uns die Profis vom Team Movistar bei ihrer Trainingsfahrt an uns vorbei - ziemlich unbeeindruckt. Die Hobbyfahrer, die gleichermaßen am Start waren, wirkten nicht ganz so souverän. Weitere Teams folgten und auch wir beschlossen, es ihnen gleichzutun.
Konnte ich meine Neugier auf das neue Rad bisher noch zügeln, war nun der Moment gekommen. Max holte das Cervélo aus dem Bus - ein goldenes. Na klar. Bloß kein Druck. Der letzte Profi, der mit einem komplett goldenen Rahmen unterwegs war, dürfte der 2016er Olympiasieger Greg Van Avermaet gewesen sein. Doch der holte sein BMC mit Speziallackierung auch nur zu besonderen Anlässen heraus.
Aber: Im Grunde war das hier ja ein besonderer Anlass. Schließlich musste ich, der Straßen-Purist, der Mountainbikes oder Gravelräder eigentlich nur vom Hörensagen kennt, gleich zum ersten Mal in seinen Leben über echtes Kopfsteinpflaster. Und zwar das vielleicht fürchterlichste im gesamten Profiradsport. Wir rätselten noch etwas über den bestmöglichen Luftdruck. Während Max mit unter drei Bar sehr sparsam startete, waren die etwa 4,5 bei mir deutlich zu viel, wie sich etwas später herausstellte.
Zunächst standen aber erstmal ein paar sanftere Kilometer zum Warmwerden auf dem Plan. Wir fuhren nach Wallers und entschieden uns dann, den Pflasterabschnitt Richtung Haveluy zu unserem ersten zu machen. Es war der Sektor Bernard Hinault, benannt nach dem letzten französischen Tour-de-France-Sieger. Vier Sterne hat er auf der Schüttel-Rüttel-Skala, mit 2,5 Kilometern zählt er zu den längeren. Bei Paris-Roubaix ist es traditionell das letzte Pavé vor Arenberg.
Wir fuhren ihn in beide Richtungen. Dass es mir direkt die Trinkflasche aus der Halterung rüttelte, war nicht der erste Eindruck, den ich erhofft hatte. Max war cleverer und hatte gar nicht erst eine mitgenommen. Zum groben Pflaster gesellte sich auch noch die ein oder andere Pfütze, die der Wind nach den starken Schauern des Vormittags noch nicht hatte wegtrocknen können. Auf der eigentlichen Ideallinie in der Mitte der Straße, wo die Steine noch am besten beieinander liegen und wenig Lücken bilden - die sind ja das eigentliche Problem - war es schlammig, teils sogar bewachsen.
Doch mit den gängigen Tipps für die Fahrt über Kopfsteinpflaster - also sitzen bleiben, große Gänge treten und natürlich so schnell fahren wie’s geht - ging es dann doch irgendwie. Kurioserweise machte es sogar fast ein wenig Spaß. Doch das wird auch am Bike und seiner Ausstattung gelegen haben.
Das Cervélo Soloist ist im Markenkosmos das Rennrad für diejenigen, die sich nicht zwischen dem leichten R5 für die Berge und der Aerovariante S5 entscheiden können. Oder einfach Allround-Qualitäten schätzen. Die fehlende Spezialisierung ist der Grund, dass das Soloist vom Hersteller nicht als Profi-Rad angedacht war, sondern als Alternative für den rennorientierten Amateurbereich. Dass Visma | Lease a Bike für Roubaix dennoch darauf zurückgegriffen hat und Wout van Aert das Soloist auch für die Flandern-Rundfahrt in Betracht gezogen haben soll, bevor er sturzbedingt nicht antreten konnte, spricht für es.
Auf dem unberechenbaren Untergrund ist vor allem auch eine exakte Steuerung von Vorteil. Wer besonders reifenunfreundliche Steinkanten rechtzeitig erkennt, was aufgrund der Erschütterungen nicht immer ganz einfach ist, kann sie mit dem Soloist präzise umsteuern, denn das Rad bewegt sich ohne Verzögerungen exakt so, wie es ihm über den Lenker befohlen wird.
Was das Bike auf dem rauen Pflaster ebenso attraktiv macht, ist trotz seiner Steifigkeit eine ordentliche Portion Komfort. Zu der dürften allerdings auch die Reserve-Laufräder und die Bereifung ihren Teil beigetragen haben. Dabei war ich mit 28 Millimetern schmaler unterwegs als die Profis, die auf 32 Millimeter gesetzt haben. Platz böte das Rahmenset sogar bis 34 Millimeter. Die Kombination reichte aber in jedem Fall aus, um auf den meisten Pflasterabschnitten zwar unvermeidlich durchgerüttelt zu werden, aber doch ohne größere Probleme oder gar Schmerzen durchzukommen. Auch doppeltes Lenkerband zur Schonung der Handgelenke war nicht notwendig.
Die Ausnahme: Arenberg. Nach unserem Warm-Up machten wir uns auf den Rückweg nach Arenberg und steuerten auf den Wald zu. Natürlich durchfuhren wir auch die Schikane. Nach 300 Metern des fiesesten Pflasters wurden wir dann erneut ausgebremst. Max war vielleicht etwas zu aggressiv unterwegs und nahm bei einem Überholmanöver abseits der Ideallinie einen Stein mit, der zu viel für den Vorderreifen war.
Glücklicherweise war die mobile Werkstatt nicht allzu weit weg. Wir konnten bis zum Bus schieben und uns unterwegs nochmal Gedanken über ein paar Details machen, die sich vor allem um den Luftdruck drehten. Letztlich gingen wir beide etwa mit 3,5 Bar in den zweiten Anlauf. Und ich hatte meinen Helm noch ein bisschen enger geschnallt.
Als wir wieder auf die Straße zum Wald abbiegen wollten, pfiff vor uns ein Fahrer mit weißer Hose und weißem Trikot vorbei. Inklusive Regenbogenstreifen. Weltmeister waren viele auf der Strecke unterwegs - was gut war, denn so fiel das goldene Rad nicht ganz so sehr auf - aber das war unverkennbar der echte: Kurz vor uns war Mathieu van der Poel in den Fünf-Sterne-Sektor eingefahren. Teamkollegen oder ein Begleitauto waren weit und breit nicht zu sehen. Vermutlich probte er schon den Ernstfall und wollte den Wald unter Solo-Bedingungen testen. Schade, dass wir nicht 30 Sekunden eher vom Bus gestartet waren. Der Weltmeister ist einer der wenigen, bei denen es mich nicht gestört, wenn er mich überholt hätte.
Im zweiten Anlauf passierten wir den Wald von Arenberg ohne weitere Schwierigkeiten. Während die eine Legende längst außer Sichtweite war, machten wir uns auf den Weg, die nächste zu treffen. Das Gute daran: Sie konnte uns nicht entkommen. Denn John Degenkolb hat seit 2020 seinen eigenen Sektor - als erster noch Aktiver Profi überhaupt. Nachdem er ein Jahr zuvor das Jugend-Rennen durch eine Crowdfounding-Aktion gerettet hatte, ehrte ihn der Verein Les Amis de Paris-Roubaix, der sich um den Erhalt des historischen Pflasters kümmert.
Es ist der übernächste Abschnitt nach Arenberg und hat auch nochmal vier Sterne, was aber eher seiner Länge über 3700 Meter - der längste im Rennen - als der Grobheit des Untergrundes geschuldet sein dürfte. ‘Dege’ selbst war, wie sich später herausstellte, am gleichen Tag nach “Rempeleien” mit den Teamkollegen in seinem Sektor zu Fall gekommen.
Wir hingegen kamen uns nicht zu nahe und schafften es ohne Sturz durch den Vierer und noch einen weiteren Abschnitt, ehe wir den Rückweg antraten. Am Bus wartete dann Volksfeststimmung. In unserer Abwesenheit wurden mehrere Zelte auf dem Parkplatz aufgebaut, Musik dröhnte aus Boxen, es gab Verpflegung jeglicher Art. Wir hielten uns aber an klassische Sportlernahrung, also Gummibärchen, die für die Trikottaschen am nächsten Morgen bestimmt war, und machten uns auf den Weg nach Roubaix.
Denn am Samstag nun wartete die Paris-Roubaix Challenge. Statt Regen waren nun 25 Grad und ganz viel Sonne angekündigt. Doch das Beinahe-Jan-Ullrich-Wetter wurde kurzerhand noch vom Saharastaub ausgebremst, der sich als Wolkenersatz vor die Sonne schob. Aber: immerhin trocken, was im Pulk teils ungeübter Fahrer - die mitunter auf Cityrädern starteten - sicher nicht zum Schaden war.
Ich hatte allerdings auch bei diesem Wetter mehr Unheil erwartet, immerhin schoben sich 6000 Fahrer über die Strecke. Und im fließenden Straßenverkehr waren wir auch unterwegs. Die gröbsten Pflasterabschnitte waren jedoch für Autos gesperrt, auf den anderen hatte sich die Bevölkerung überwiegend auf die Radler-Horde eingestellt und verzichtete auf den Pkw. Und generell ist in der französischen Provinz - nicht zu verwechseln mit der Provence - ja nicht allzu viel los.
Was es hingegen zahlreich gab, waren Defekte. Kaum ein Abschnitt, in dem nicht Athleten am Straßenrand standen, ihr Rad auf den Kopf stellten und daran herumwerkelten. Wir hatten einen guten Überblick, denn wir zählten zu den letzten Fahrern, die im Startzeitraum zwischen 9 und 11 Uhr direkt neben dem Velodrom das Rennen aufnahmen. Das war ursprünglich nicht ganz so geplant, erwies sich letztlich aber auch als nicht schlecht.
Acht Pflastersektoren warteten noch auf uns, darunter auch ein weiterer Fünf-Sterne-Sektor mit Carrefour de l’Arbre. Doch mit den Erfahrungen des Vortages war selbst der relativ entspannt zu fahren. Dabei war es relativ kurz vor dem Ende des Rennens dann doch noch voll geworden, die Ideallinie war so nicht immer zu halten und auch die eine oder andere Gefahrenstelle mussten wir nach dem Motto ‘Augen zu und durch’ passieren. Zumindest war das meine Devise. Mountainbiker Max hatte grundsätzlich eh weniger Sorgen.
Was sollte einen mehr motivieren, als ein Stückchen von einer zweieinhalb Meter großen, französisch schreienden Banane begleitet zu werden?
Was aber auch geholfen haben dürfte, war die Atmosphäre. Carrefour de l’Arbre war vor allem auf den letzten Metern bereits voller Menschen am Straßenrand, mitunter auch schon kostümiert. Sie waren bereits in Stellung, um die Frauen anzufeuern, die aber zu diesem Zeitpunkt noch fast drei Stunden entfernt werden. Also bejubelten die Fans auch uns Amateure, als würden wir mit 40 km/h übers Pflaster knallen. Und, Hand aufs Herz: Was sollte einen mehr motivieren, als ein Stückchen von einer zweieinhalb Meter großen, französisch schreienden Banane begleitet zu werden?
Mir fällt da nichts ein, und deshalb war Carrefour de l’Arbre zumindest mein Highlight. Das liegt aber auch daran, dass Roubaix beziehungsweise das Velodrom selbst nicht an die Erwartungen heranreichte. Dort war es nicht nur deutlich ruhiger. Vor allem die Streckenführung war nicht so, wie sie eigentlich hätte sein sollen. Das ist bei einem einfach Oval eigentlich kaum möglich. Es sei denn, man fährt es “falsch herum”. Statt wie die Profis rechts herum zu fahren, wurden wir nach links geleitet. Und bevor die Verwunderung darüber so richtig verdaut war, ging es auch schon zu Ende. Denn wir fuhren auch nicht anderthalb Runden, sondern nur eine halbe.
Da sind wir also wieder bei der Feststellung, die ich bereits vor einigen Absätzen treffen musste. Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. Was auf jeden Fall genau so lief, wie ich mir das vorgestellt hatte, war - abgesehen von der Farbe natürlich - mein goldener Begleiter. Zwei Tage über Kopfsteinpflaster ohne Defekt sind sicher nicht meinen Fahrkünsten zu verdanken. Sondern vielmehr der Qualität des Rades, das sich auch mit einer Schlammpackung unverwüstlich zeigte.