Nationalcoach Greipel im Interview“Es muss klare Kommunikation geben”

Andreas Kublik

 · 04.08.2023

Nationalcoach Greipel im Interview: “Es muss klare Kommunikation geben”Foto: Andreas Dobslaff
André Greipel im TOUR-Gespräch
André Greipel hat anderthalb Jahre nach Ende seiner Profikarriere den Job als Nationalcoach der Straßenprofis übernommen. Der 41-Jährige über Ankommen im Familienalltag, seinen kaum beachteten Rücktritt aus der ­Nationalmannschaft und wie er das deutsche Team bei der Rad-WM in Glasgow erfolgreich machen will.

TOUR-Interview mit André Greipel

Das Gespräch wurde geführt von Andreas Kublik

TOUR: André, in Ihrer Biografie Aus dem Windschatten* hat Ihre Frau ­Kristina geschildert, dass Sie beide während Ihrer Zeit als Radprofi lange Zeit je ein Leben in zwei unterschiedlichen Welten geführt haben. Sind Sie mittlerweile in der Alltagswelt zu Hause in Hürth bei Köln angekommen – in ­einem Leben mit weniger Adre­nalin, weniger Siegesrausch, vielleicht aber auch weniger Enttäuschungen als im Leben als aktiver Radprofi?

André Greipel: Es dauert auf jeden Fall eine Zeit, bis man dort angekommen ist. Es war eine Umstellung, die nicht einfach war. Ich hatte immer einen Trainingsplan und habe danach gelebt, auf ein Ziel hingearbeitet. Jetzt musste ich mich erst einmal neu ordnen. Ich muss oder darf Auf­gaben zu Hause übernehmen, an die wurde ich früher gar nicht rangelassen, weil ich die Dinge nur durcheinandergebracht hätte. Definitiv haben meine Frau und die Kinder ihr eigenes Leben gehabt.

TOUR: Wie funktioniert das tatsächlich?

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André Greipel: Man muss lernen, mit der Situation umzugehen, man führt ein anderes Leben, hat andere Schwerpunkte. Momentan bin ich noch viel unterwegs. Aber meine Frau kann sich jetzt mehr auf mich verlassen. Insgesamt ist das Familienleben etwas Schönes und auch, dass ich jetzt öfter im eigenen Bett aufwache.

TOUR: Gerade als Sprinter haben Sie zeit Ihrer Karriere extrem viel von Energie und Aggressivität gelebt. Wo stecken Sie all diese Energie jetzt hin?

André Greipel: Einen Energie-Überschuss habe ich definitiv. Ich fahre natürlich noch Fahrrad. Das ist immer noch meine Passion und mein Ventil. Da kann ich abschalten, mich ordnen – das brauche ich auch. Ich fahre jetzt zum größten Teil alleine – und auch nicht mehr so lange, vielleicht mal zwei bis drei Stunden. Wenn ich alleine durch die Gegend fahre, ist das eine Art Meditation für mich.

André Greipel über Bundestrainer-Rolle

TOUR: Ihr Zeitplan ist durchaus eng getaktet. Sie haben einige Verträge mit Sponsoren, waren beim Giro, bei der Tour, auf Teneriffa. Seit April ist bekannt: Sie sind künftig der Bundestrainer für die Radprofis. Wie kam es dazu?

André Greipel: Von meiner Seite gab es nicht die Intention, dieses Amt übernehmen zu wollen. Der BDR (Bund Deutscher Rad­fahrer; Anm. d. Red.) ist auf mich zugegangen. Er hat das Gespräch aber nicht nur mit mir, sondern auch mit anderen Ex-Profis gesucht: Christian Knees, Marcel Sieberg, Marcel Kittel, Robert Wagner – sie alle wurden angesprochen. Ich wurde ausgesucht, weil ich keinem Team angehöre und damit unabhängig bin.

TOUR: Warum haben Sie sich entschlossen, den Job zu übernehmen?

André Greipel: Ich mache es für die Sportler, weil ich der Meinung bin, dass sie es verdient haben. Mir ist wichtig zu betonen, dass ich das nicht für mein Ego mache.

TOUR: Seit einiger Zeit sitzt Marcus Burghardt im BDR-Präsidium, ein anderer Ex-Profi. War das ein Grund für Sie, den Job zu übernehmen?

André Greipel: Natürlich hat auch das eine große Rolle gespielt. Es ist ein sehr schönes Zeichen vom BDR, dass man dort versucht junge Leute, die noch sehr nah am Radsport sind, ins Präsidium zu holen. Es wird auf jeden Fall eine sehr schöne Aufgabe, weil ich weiß, dass “Burgi” immer zu seinem Wort steht und auch das Beste für den Verband möchte.



TOUR: Sie beide haben so etwas wie eine gemeinsame Vision?

André Greipel: Natürlich. Aber es geht nur gemeinsam mit den Sportlern. Ich bin loyal und weiß, was der BDR in der Vergangenheit hier und da falsch gemacht hat im Umgang mit den Profi-­Radsportlern. Und ich versuche gemeinsam mit “Burgi”, das besser zu machen.

TOUR: Im Radsport gewinnen anders als im Fußball nicht alle Elf, sondern bestenfalls einer. Wie haben Sie sich einst motiviert?

André Greipel: Für mich war es immer eine Ehre, das Nationaltrikot anziehen zu dürfen – natürlich nur, wenn es einen Plan gab. Wenn der verfolgt wurde, war ich immer sehr gerne bereit, mich in die Mannschaft einzubringen, mich unterzuordnen beziehungsweise als Leader Verantwortung zu übernehmen.

André Greipel über Rad-WM 2011

TOUR: Sie sind der bislang letzte deutsche Profi, der im WM-Straßenrennen eine Medaille gewonnen hat – 2011 in Kopenhagen als Dritter hinter Mark Cavendish und Matt Goss. Welchen Wert hat dieser Erfolg?

André Greipel: Am Ende war ich damals froh, dass es zum dritten Platz gereicht hat. Auf der anderen Seite ist es natürlich auch so: Wenn man damals bei der Nominierung andere Entscheidungen getroffen hätte, wäre mehr drin gewesen.

TOUR: Sie hätten gerne mehr loyale und geeignete Helfer im Team gehabt. Fünf Jahre später gab es das Fiasko bei der WM in Katar. Das deutsche Team wollte Weltmeister werden. Aber man verzettelte sich beim BDR mit drei Kapitänen, ohne Hierarchie: Marcel Kittel, John Degenkolb und Ihnen. Alle Deutschen waren früh abgehängt. ­Was lief damals falsch?

André Greipel: Ich halte mich nicht mit der Vergangenheit auf, weil man da nichts mehr verändern kann. Aber es war ein klassisches Beispiel für schlechte Kommunikation, für schlechten Umgang seitens des BDR mit den Sportlern. Es gab interne Absprachen bereits ein Jahr zuvor, dass ich derjenige hätte sein sollen, für den gefahren wird – wenn ich in Top-Form bin.

TOUR: Sie gewannen bei der Tour de France in jenem Jahr wie Marcel Kittel eine Etappe und holten zusätzlich den Deutschen Meistertitel – die Form hat gestimmt. Mit wem hatten Sie sich zuvor abgesprochen?

André Greipel: Die Absprachen wurden nicht eingehalten. Wer genau damals beteiligt war, das tut aktuell nichts mehr zur Sache. Ich habe das ausführlich in einem Kapitel in meinem Buch beschrieben – mehr will ich dazu nicht mehr sagen. Aber das war für mich kein fairer Umgang mit einem Sportler. Es geht bei einer Weltmeisterschaft nicht darum, es sich mit dem einen oder anderen Sportler nicht für die Zukunft verscherzen zu wollen. Ich kann nur für mich reden: Ich war damals in Katar mental schon kaputt, bevor das Rennen überhaupt losging.

Ich möchte einen klaren Plan verfolgen und die besten deutschen Radprofis an den Start bei der WM stellen. Alle Sportler, die wir kontaktiert haben, sind bereit! (André Greipel)

TOUR: Danach sind Sie leise und ziemlich unbemerkt aus der Nationalmannschaft zurückgetreten …

André Greipel: Ich bin jemand, der die Dinge mit den Beteiligten direkt anspricht und nicht den Medienrummel sucht. Nach dem Rennen habe ich ganz klar mit den zuständigen Leuten kommuniziert und gesagt: Ruft mich einfach nicht mehr an. Es war sehr schlechter Umgang – nicht nur mit mir, sondern auch mit den anderen, die in Katar gefahren sind. Das haben auch die anderen beteiligten Sportler so gesehen.

TOUR: Welche Konsequenzen ziehen Sie aus den Vorgängen damals für Ihre eigene Arbeit als Bundestrainer?

André Greipel: Das sind Dinge, die wir auf jeden Fall nicht mehr so machen wollen. Ich möchte ganz klar einen Plan verfolgen und die besten deutschen Radprofis dafür an den Start stellen. In der jetzigen Phase, in der sich der deutsche Radsport befindet, mit lediglich sechs WM-Startplätzen (nur die ersten zehn in der Nationen-Weltrangliste erhalten acht Startplätze, Deutschland lag auf Rang 15; Anm. d. Red.), kann man nicht Nachwuchssportler mitnehmen, um sie mal WM-Luft schnuppern zu lassen. Die Besten müssen am Start stehen.

“Ich bin ein Verfechter von Plan A”

TOUR: Was war vor dem Hintergrund Ihrer eigenen WM-Enttäuschungen die Motivation, den Job als Nationalcoach zu übernehmen?

André Greipel: Wir sind alle nur Menschen. Es geht um offene Kommunikation mit den Sportlern, was man bei WM, EM oder Olympia umsetzen möchte. Wenn man vernünftig und respektvoll miteinander redet, einen klaren Plan vernünftig formuliert, was man im Rennen vorhat, dann kann man immer noch ein Nein von einem Sportler bekommen. Und das ist dann auch okay. Am Ende geht es darum, eine schlagkräftige, vielseitige Truppe an den Start zu stellen – und vor allem: ein Team! Und ich bin ein Verfechter von Plan A – das heißt klare Struktur im Team, die unabhängig vom Rennverlauf steht und sich an einem einzigen Leader orientiert.

André Greipel hat ein Buch* geschrieben, “Aus dem Windschatten. Wie ich den Radsport lieben und das Siegen lernte”Foto: Andreas DobslaffAndré Greipel hat ein Buch* geschrieben, “Aus dem Windschatten. Wie ich den Radsport lieben und das Siegen lernte”

TOUR: Sie geben also eine klare Marschrichtung, ein Konzept Greipel vor …

André Greipel: Man muss nicht von einem Konzept Greipel reden. Ich bin auch nicht derjenige, der die Selektion alleine macht: Für die Nominierung sind Marcus Burghardt (Vizepräsident Vertragssport), Günter Schabel (Vizepräsident Leistungssport), Patrick Moster (Sportdirektor), Robert Pawlowsky (Trainer) und ich verantwortlich.

TOUR: Auch wenn der damalige BDR-Vizepräsident Udo Sprenger nicht mehr dabei ist, den Sie in Ihrem Buch wegen der Vorgänge rund um die WM in Katar kritisiert haben: Es ist ein großes Gremium. Besteht da nicht die Gefahr, dass zu viele mitreden und Absprachen wieder nicht eingehalten werden?

André Greipel: Ich habe ein gutes Gefühl, dass dieser Fall nicht mehr eintritt, dass die Leute, die jetzt entscheiden, auch zu ihrem Wort stehen. Das war für mich Voraussetzung.

TOUR: Worin sehen Sie Ihre Aufgabe genau?

André Greipel: Ich kann nur meine Fachkompetenz einbringen: formulieren, welche Taktik ich plane und welche Sportler ich dafür brauche. Bei der WM kann man natürlich im Radio nicht mehr viel sagen.

TOUR: Dort gibt es keine Funkverbindung zwischen den Rennfahrern und der sportlichen Leitung.

André Greipel: Das heißt, man muss vorher die Gespräche über die Rollen und die Taktik intensiv führen. Ich möchte, dass die Sportler eine klare Vision vom Rennen haben und das richtige Mindset für eine WM.

TOUR: Zuletzt war die Bereitschaft, für die deutsche Nationalmannschaft zu fahren, nicht mehr besonders groß …

André Greipel: Wir wollen auf jeden Fall davon wegkommen, dass wir noch einmal so eine WM wie letztes Jahr in Australien erleben, als viele Radprofis gar nicht hinwollten. Wir wollen die besten Sportler am Start haben. Sie sollen lange vorab wissen, dass sie nominiert sind, dass sie sich auf ein Ziel vorbereiten können. Und wir suchen die Kommunikation mit den Teams, damit die Fahrer auch freigestellt werden. Das hat im Hinblick auf Glasgow gut geklappt.



Darauf kommt es bei der Rad-WM in Glasgow an

TOUR: Was für eine Strecke dürfen Profis und Fans im Straßenrennen von Glasgow am 6. August erwarten, wie kann der Plan für das Rennen aussehen?

André Greipel: Den Kurs gab es ja schon in abgewandelter Form bei der Europameisterschaft 2018 (damals siegte Matteo Trentin vor Mathieu van der Poel und Wout van Aert; Anm. d. Red.). Es wird ein ähnliches Rennen werden. Wenn es regnet, dann wird es ein Ausscheidungsfahren. Es wird ganz wichtig sein, eine starke Mannschaft zu haben, die das Rennen in die Hand nimmt und den Kapitän vorne platziert. Es gibt 2,7 Kurven pro Kilometer. Das zeigt: Positionskämpfe werden auf jeden Fall ausschlaggebend sein. In Verbindung mit den kurzen knackigen Anstiegen kann schon früh im Rennen eine Vorentscheidung fallen. Es gibt nur kurze, 400 bis 500 Meter lange Geraden, auf denen ein Feld nicht viel schneller ist als eine Spitzengruppe.

TOUR: Mit welcher Strecke kann man es vergleichen?

André Greipel: Ich glaube, man kann es ganz gut mit der WM-Strecke in Leuven 2021 vergleichen. Dort waren die Straßen vielleicht etwas schmaler und die Anstiege etwas länger. Es wird in meinen Augen ein Klassiker-Rennen – gerade auch von der Länge her (271 Kilo­meter mit rund 3500 Höhenmetern; Anm. d. Red.). Ein Rennfahrer muss hier explosiv sein.

TOUR: Ihren ersten Auftritt als Nationalcoach haben Sie bei der Premiere der sogenannten Super-WM in Glasgow mit fast allen Radsportdisziplinen. Wie gefällt Ihnen das Konzept?

André Greipel: Von Radball über Kunstradfahren bis zu BMX ist alles dabei. Es ist auf jeden Fall eine große Chance, dass dort dieses große Bild vom Radsport zusammengepuzzelt wird. Gucken wir mal, wie es vor Ort umgesetzt wird.


André Greipel - zur Person

  • Nationalität: Deutscher
  • Geboren: 16.7.1982 in Rostock
  • Wohnort: Hürth
  • Familienstand: verheiratet, zwei Töchter
André Greipel ist verheiratet und hat zwei TöchterFoto: Andreas DobslaffAndré Greipel ist verheiratet und hat zwei Töchter

Als André Greipel Ende 2021 seine Karriere als Radprofi beendete, war er mit 158 Siegen einer der Erfolgreichsten im internationalen Peloton. Nach Anfängen beim U-23-Team der Telekom fuhr er im Trikot der Rennställe Wiesenhof (2005), T-Mobile (2006–2007) und Columbia/HTC (2008–2010). Seine erfolgreichste Zeit hatte er in der belgischen Equipe Lotto (2011–2018), ehe er seine Karriere bei Arkéa-Samsic (2019) und Israel Start-Up Nation (2020–2021) ausklingen ließ.

Der Sprintspezialist André Greipel bei der Tour of Turkey 2021Foto: Getty VeloDer Sprintspezialist André Greipel bei der Tour of Turkey 2021

Der Sprintspezialist feierte zahlreiche Etappensiege bei Tour de France (11), Giro d’Italia (7) und Vuelta a Espana (4). Zudem gewann er zweimal die Gesamtwertung der Tour Down Under in Australien sowie das Eintagesrennen Cyclassics in Hamburg. Bei der Straßen-WM 2011 in Kopen­hagen holte er hinter Mark Cavendish und dem Aus­tralier Matt Goss Bronze. Ende April gab der Bund Deutscher Radfahrer bekannt, dass Greipel als sportlicher Leiter für die Profis im Straßenradsport bei Europa- und Weltmeisterschaften sowie Olympischen Spielen verantwortlich sein soll. Er folgt in dieser Position auf Jens Zemke.


* “Aus dem Windschatten. Wie ich den Radsport lieben und das Siegen lernte”

André Greipel mit Tim Farin, Riva, 18,00 Euro >> z.B. hier erhältlich.

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