Fast glaubte man, zu den Szenen auf dem Bildschirm Klänge von Ennio Morricone zu hören, dem großen italienischen Filmkomponisten, der die Bilder des Westernklassikers „Spiel mir das Lied vom Tod“ vertont hat. Drei Verwegene verteilen sich auf der Hauptstraße einer Kleinstadt, um die Dinge final zu regeln. So sah es aus, als Tadej Pogačar, Filippo Ganna und Mathieu van der Poel sich zu einer Dreiecksformation auffächerten, auf den letzten Metern zum Showdown auf der Via Roma in San Remo. Nicht mit gespannten Colts, aber mit gespannter Beinmuskulatur.
Nach 289 Kilometern Radrennen war bei der 116. Auflage von Mailand-San Remo noch nichts entschieden. An der 300-Meter-Marke trat van der Poel an, die beiden Verfolger schafften es nur in seinen Windschatten. „Ich wollte sie überraschen“, betonte der Niederländer. Überraschung gelungen, kann man sagen – meist sieht man die entscheidenden Antritte rund 200 Meter vor der Ziellinie. Der Sieger des ersten Frühjahrsklassikers 2025 hat sich auf dieses Szenario vorbereitet. „Ich habe noch nie so hart trainiert wie im vergangenen Winter“, betonte der Sohn von Adrie van der Poel und Enkel von Raymond Poulidor. Auch ungewöhnlich lange Sprints zählten zu seinem Programm; er 30-jährige Radsport-Star ruht sich nicht auf dem Geschenk guter Gene aus, er tut immer noch alles für große Siege. Zum dritten Mal in Folge war sein Team Alpecin-Deceuninck bei „La Classicissima“ erfolgreich. Vor zwei Jahren war es van der Poel selbst, im Vorjahr bereitete er den Sprint seines belgischen Teamkollegen Jasper Philipsen vor. Der Vorjahressieger, gehandicapt durch einen Rennunfall in den Tagen vor Mailand-San Remo, war früh aus dem Rennen, abgehängt am Fuße der Cipressa, wie viele andere Sprinter auch.
RG | Fahrer | Zeit |
---|---|---|
1 | Alpecin - Deceuninck | 06:22:53 |
2 | INEOS Grenadiers | +00:00:00 |
3 | UAE Team Emirates - XRG | +00:00:00 |
4 | Team Jayco AlUla | +00:00:43 |
5 | Alpecin - Deceuninck | +00:00:43 |
6 | Uno-X Mobility | +00:00:43 |
„Ich habe alles versucht“, konnte Tadej Pogačar zu Recht behaupten, obwohl ihm wie im Vorjahr nur Rang drei auf der Via Roma blieb. Zuvor hatte es Radsport wie aus lange vergangenen Zeiten zu sehen gegeben. Das Finale war ein archaischer Kampf Mann gegen Mann, mit offenem Visier, ein Duell der beiden Besten im Peloton. Der Rest des Feldes war zu vorbereitenden Assistenten oder zu chancenlosen Beobachtern mit dem Fernglas degradiert. Nach Rang drei für Pogačar im Vorjahr hatte man bei UAE Team Emirates-XRG nochmals an der Rennstrategie gefeilt. Der Versuch im Jahr 2024, mit vereinten Kräften an der Cipressa so viele Widersacher wie möglich auszusortieren, war seinerzeit gescheitert – den Helfern ging zu früh die Puste aus, man musste das Tempo drosseln.
Diesmal wollte der Chef die Sache früher selbst in die Hand nehmen – nach kurzer, aber perfekter Vorarbeit für seine Attacke: Der Belgier Tim Wellens hatte das Peloton wie ein Sprintanfahrer in die Cipressa pilotiert, der neuverpflichtete Teamkollege Jhonatan Narvaez übernahm und beschleunigte früh ein letztes Mal. Danach sprintete Pogačar wie im Flachen auf eine imaginäre Ziellinie zu. Da waren allerdings noch mehr als 20 Kilometer zu fahren. Die Aktion hatte Erfolg – oben, an der engen Durchfahrt an der Kirche, am Scheitelpunkt des vorletzten Anstiegs, waren die beiden aktuell besten Klassikerspezialisten unter sich, das erste Verfolgerfeld deutlich distanziert. Nur der aufopferungsvoll kämpfende zweimalige Zeitfahr-Weltmeister Filippo Ganna arbeitete sich mit gleichmäßigem Tempo wieder heran, doch schon am Fuße des letzten Anstiegs zum Poggio ging Pogačar wieder vehement aus dem Sattel. „Die zwei Jungs haben mich Jahre meines Lebens gekostet“, befand der ausgepowert hustende, bärtige Ganna später. Einen Kilometer vor dem Ziel hatte er die Führenden gestellt – und sprintete schließlich auf Rang zwei. „Ich bin glücklich, ich habe das Maximale getan“, bilanzierte er.
Mathieu van der Poel hingegen wusste: Mit jedem Tritt, mit dem er dem großen Rivalen folgen konnte, kam er seinem zweiten Sieg bei der „Primavera“ näher. Seine Trümpfe: Sprintschnelligkeit und das psychologische Momentum, denn Tadej Pogačar musste geradezu verzweifelt versuchen, den auf der Zielgerade mutmaßlich überlegenen Gegner abzuschütteln. „Er wusste, dass er an meinem Hinterrad bleiben konnte, während ich attackieren musste“, erläuterte Pogačar. Immerhin gelang es dem Mann im Regenbogen-Trikot, einen Konter kurz unter dem Gipfel des Poggio di San Remo zu parieren – der Niederländer war auf Augenhöhe, er und Pogačar verbesserten im Verbund die Rekorde für die Auffahrten auf Cipressa und Poggio.
„Das Rennen bringt mich noch ins Grab“, hatte „Pogi“ vor dem Start geulkt. Als hätte er geahnt, dass er wieder leer ausgehen würde. „Alle – nicht nur ich, das ganze Team – haben alles getan. Jedes Jahr machen wir es besser. Wir zeigen mehr Aggressivität, mehr Willenskraft an der Cipressa. Ich wollte es zu Ende bringen – aber es waren am Schluss einfach zwei Jungs schneller als ich“, fasste der Weltmeister den Renntag zusammen. Er fand seinen Meister in Mathieu van der Poel – der nicht alleine über die Physis kommt, sondern seine Trümpfe in den Rennen sehr konzentriert ausspielt. Immerhin versprach der niederländische Sieger von mittlerweile sieben Monumenten (dreimal Flandern-Rundfahrt, je zweimal Paris-Roubaix und Mailand-San Remo), dass er nicht im „Artenschutzgebiet“ der Rundfahrtspezialisten auf Trophäenjagd gehen wolle. Er müsse Gewicht verlieren, um bei Lüttich-Bastogne-Lüttich oder der Lombardei-Rundfahrt gegen Pogačar um den Sieg mitmischen zu können, meinte er. „Ich bleibe bei diesen Rennen“, betonte er nach dem Sieg. Er weiß, was er kann. Und was nicht.