Zum Tod von Dario Pegoretti - Dario PegorettiStreben nach Vollkommenheit

Unbekannt

 · 24.08.2018

Zum Tod von Dario Pegoretti - Dario Pegoretti: Streben nach VollkommenheitFoto: Oliver Soulas

Der Italiener Dario Pegoretti gilt als eine der prägenden Figuren des Rennrad-Rahmenbaus. Pegoretti verstarb unerwartet am 23. August 2018.

Pionier des Rahmenbaus, kreativer Kauz, Arbeiter aus Leidenschaft - der Italiener Dario Pegoretti war eine besondere Persönlichkeit, die das Handwerk des Rahmenbaus jahrelang prägte. Pegoretti verstarb am 23. August 2018 im Alter von 62 Jahren an Herzversagen.

Pegoretti begann 1975 bei seinem späteren ­Schwiegervater Gino Milani mit dem Rahmenbauen. 1991 gründete er eine eigene Firma, seit 1998 verkaufte er Rahmen aus Aluminium und Stahl unter eigenem Label. Zu seinen ­Kunden zählten etwa der ­mittlerweile ­verstorbene Schauspieler Robin Williams oder der ­Musiker Ben Harper. Im März 2007 erkrankte ­Pegoretti an Lymphdrüsenkrebs, erholte sich aber noch im selben Jahr. Im Schnitt verkaufte er rund 350 Rahmen pro Jahr.

Im Jahr 2015 besuchte TOUR den Rahmenbauer in seiner damaligen Werkstatt in Valsugana:

Zu Besuch bei Dario Pegoretti

aus TOUR Magazin 10/2015

von Heidi Schmidt, Fotos: Oliver Soulas

Veneto. Mist, wir sind zu weit gefahren. Schuld daran ist diese Diskussion. Es geht darum, was den Unterschied ausmacht. Beim Fotografieren zum Beispiel. "Natürlich ist Mittelformat kompliziert, unhandlich, ­analog und teuer, aber da kommt was ganz anderes raus ­als dieser superscharfe, überzeichnete Einheitsbrei", sagt Oliver gerade, der Fotograf, der mich begleitet. Wir sind auf dem Weg zu Dario Pegoretti. Auch er macht keinen Einheitsbrei. Und die Kritzeleien auf seinen maßgefertigten Rahmen sind ein bisschen mehr als nur Geschmacks­sache; eine Art Markenzeichen, weswegen auch öfter von Kunst die Rede ist. Die Liste der Bestellungen ist lang. Wer einen Pegoretti-Rahmen will, braucht Zeit.

Suche nach dem Echten
Wir wenden mit dem Auto, und uns bleibt noch etwas Zeit zu philosophieren: Warum ist Handarbeit wieder gefragt? Wegen der Qualität, klar. Viele Leute haben die Schnauze voll von Dingen, die nach ein paar Monaten den Geist ­aufgeben. Und es scheint in unserer individualisierten ­Gesellschaft zudem ein gesteigertes Bedürfnis nach einzigartigen Produkten zu geben. Produkte mit Hintergrund, mit kleinen Geschichten, die es zu erzählen lohnt. Das sind die neuen Statussymbole. Etwa die handgegerbte Ledertasche, von der man berichten kann, dass man sie
im hintersten Winkel Österreichs abholen musste, dabei durch die Werkstatt geführt und ungefragt geduzt wurde. Der Handwerker selbst ist natürlich lässig, weil er nicht nur auf sein Äußeres pfeift, sondern auch noch mit Muße an den Dingen arbeitet. Das ist es, was der gestresste und zunehmend ­abstrakt arbeitende Mensch von heute will, wenn er es schon selbst nicht leben kann: das Ergebnis eines einzigartigen Arbeits­prozesses, von einem Typen mit Charakter. Hinzu kommt, dass Handgemachtes nachvollziehbar hergestellt wird: ein Handwerker, der Rohstoff, eine Werkstatt, das Endprodukt. Genau das Richtige für alle, die in unserer ­arbeitsteiligen, globalisierten, komplexen und leistungsgetrimmten Welt den Überblick verloren haben und sich nach Einfachem sehnen. So wie bei Dario? Wir werden sehen.

  Pegoretti malt nicht, er bekritzelt Rahmen mit AcrylstiftFoto: Oliver Soulas
Pegoretti malt nicht, er bekritzelt Rahmen mit Acrylstift

Endlich im Valsugana angekommen, einem Tal im Südosten des Trentino, geht es unter einer Schnellstraße durch, über Bahngleise, entlang einer einspurigen, holperigen Straße. Die Sonne steht hoch am Himmel, davor strahlen weiße Schneegipfel; das Tal bleibt ­davon seltsam unberührt, leblos und grau. Wir biegen um eine Ecke: "Dario Pegoretti", steht da ganz unaufgeregt über einer Eingangstür. Ein junger Kerl öffnet, Oliver drückt ihm einen Kasten Augustiner-Bier in die ­Hände. "You are welcome", begrüßt uns Marco und nimmt den Kasten grinsend entgegen. Das Vorzimmer verschluckt uns. Die Sonne, die Berge, der Schnee – all das bleibt draußen. Hier herrscht das Licht einer Neonlampe über einem niedrigen Couchtisch, ­Zigarettenstummel quellen auf einem Teller neben einer Flasche Wein. Leere Kaffee­becher aus Plastik stehen herum. Es riecht nach ­kaltem Rauch, die Wände sind ­beschmiert. Zwischen zerwohnten Möbeln ragen zwei Lautsprecherboxen auf, überall stapeln sich Bücher, Magazine, Kataloge, CDs, davor ­stehen ein paar alte Räder. Wie im Kiffer­zimmer einer Studenten-WG.

Marco zieht uns gleich weiter in die große Halle, in der ein italienischer Radiosender im Hintergrund krakeelt. Dann betritt Dario die Szene, füllt sie aus, bis er sie beherrscht. Eine Erscheinung, eine ungepflegte. Zwischen den Lippen hängt eine Zigarette, die zotteligen Haare sind lang und grau. Irgendwann eimal muss es auf seinem Kopf einen Haarschnitt gegeben haben. Über seinen breiten Schultern hängt ein Strickpulli, bei dem nicht klar ist,
ob der Kordkragen dazu oder zum Hemd ­darunter gehört. An den Beinen schlabbert eine fleckige Jeans, aus der nackte Füße in ­geschlossenen Hauschuhen ragen.

Dario hasst Druck
Er begrüßt uns mit tiefer Stimme und festem Händedruck. Kaffee? Sicher. Er drückt Marco ein Geldstück in die Hand und schickt ihn zum Automaten. Es kommen zwei Espresso zurück, die man dem hässlichen Gerät gar nicht zugetraut hätte. Dario spricht englisch. Sobald er merkt, dass Oliver gut italienisch versteht und ich nicht nur verstehe, sondern auch spreche, wechselt er in seine Mutter­sprache. "Ma Heidi", wird er immer wieder sagen, "parla italiano!", wenn ich der Einfachheit halber ins Englische flüchte.
Neben Dario und Marco sind noch Pietro und Diego da. Zusammen sind die vier die Firma "Dario Pegoretti". Dario erklärt kurz, dass es viel zu tun gebe. "Alle wollen immer alles ­sofort und denken, sie können mit Geld alles bekommen." Er, Dario, hasse Druck. Schon sitzt er wieder an einem Arbeitsplatz. Zeit zum Umsehen, zurück ins Kifferzimmer. Hier hängt die in Werkstätten obligatorische Nackte, immerhin eine stilvolle. Sie steigt gerade auf einen Brooks-Ledersattel. Darunter, auf einer Kommode, ein geöffneter Brief. Ein Fan hat sich erlaubt, Dario zu schreiben und ihm CDs von Jaco Pastorius geschickt. An der Wand steht auf einer großen Tafel: "Dario ist 1. böse, 2. Materialist, 3. von der Familie aus Verona ruiniert worden, 4. nicht demütig." Und weiter: "Dario hat 1. das Herz seiner Mutter gebrochen, 2. nur Ärger gemacht, 3. alles, 4. Mechaniker werden wollen, ­obwohl seine Familie in ihm einen Lehrer gesehen hat."

Zurück in der Halle lässt sich niemand von uns stören. Der Druck, von dem Dario sprach, ist weder zu spüren noch zu sehen. Pietro versucht unmotiviert, eine der Stahlschneidemaschinen zu reparieren und angelt mit einem Magneten nach einem abgebrochenen Zahnrad. "Lavoro di merda". Scheißarbeit. Marco steht an der Rahmenlehre und bastelt in aller Ruhe akribisch Stahlrohre zu einem Rahmen: zuschneiden, feilen, anlegen, nochmal schneiden, feilen, anlegen, schneiden, feilen, anlegen ...

Diego sucht ausführlich nach den runden, durchsichtigen Aufklebern, die er zum Schutz für den Lack auf die Montagepunkte der fertigen Rahmen klebt, auf kleine Dreh­gewinde für Flaschenhalter, etc. Und Dario sitzt, mit ­Kippe in der einen, Acrylstift in der anderen Hand, an ­einem Rahmen und bekritzelt ihn. Ja, bekritzelt. Er malt nicht, er zeichnet nicht, er kritzelt wie ein viel zu groß ­geratenes Kind. Voller Stolz und ganz ernst setzt er einen kurzen Strich neben den nächsten. Als hätte er einen Plan, der nur für ihn erkennbar ist. Auf seiner Nase sitzt eine dunkel umrahmte Brille. Das Brillenband hängt ihm vor den ­Augen. Volle Konzentration. Alles passiert in lähmender Langsamkeit. Oder ist es Vollkommenheit, die keine Hektik erlaubt? Ist das der kleine Unterschied, von dem Oliver und ich vorhin im Auto gesprochen haben? Das Mehr an Achtsamkeit und Genauigkeit?

  Eine in vielen Jahren ­gewachsene Freundschaft: Pietro Pietricola herzt seinen Chef Dario PegorettiFoto: Oliver Soulas
Eine in vielen Jahren ­gewachsene Freundschaft: Pietro Pietricola herzt seinen Chef Dario Pegoretti

Keine Rahmen für Landsleute
Diego und Pietro gucken mittlerweile eine gefühlte Ewigkeit lang auf eine Gabel, an der sie eine Unebenheit im Lack erkannt haben wollen. "Das muss noch einmal gemacht werden." "Ich habe wenige deutsche Kunden", sagt Dario im Hintergrund ohne Zusammenhang, "bei denen ist eins plus eins immer zwei, und sie sehen alles nur technisch. Aber im Leben kann man nicht immer alles messen." Dario hat es nicht so mit nettem Small Talk. Er wirkt nicht nur ungepflegt, sondern unwirsch. Dazu passt, dass er Besucher seiner Internetseite provokativ damit begrüßt, nicht mehr an ­Italiener zu verkaufen. Warum? Die reden ihm zu viel in sein Handwerk rein. Das kann er nicht leiden, das zeigt sich beim Design. Da kann der Kunde nur den Stil der Lackierung wählen, aber nicht genau bestimmen, wie sie am Ende aussehen wird. Individualität. Dafür ist der Rahmen dann in allen Maßen und in der Geometrie exakt an den Kunden angepasst. Qualität.


Und was ist die Geschichte? Sie ist kurz erzählt: Eigentlich wollte Dario in seiner Jugend Rennen fahren und war auf der Suche nach einem Job, mit dem sich Geld verdienen ließ. Also stieg er 1975 bei seinem späteren Schwiegervater Gino Milani in den Rahmenbau ein. Es wurde nichts aus der Rennfahrerkarriere, dafür verliebte er sich ins Rahmenbauen. Bis heute. Verlieben, das ist für ihn Lust, Hin­gabe, Leidenschaft, Muse – und eben auch ein wenig Starrsinn. Die Geschichte hinter seinen Rahmen ist ein Versprechen. Das Versprechen, mit einem Rahmen auch etwas von ­diesem Typen zu kaufen, der sich markt­wirtschaftlichen Prinzipien verweigert und mit seiner Firma absolut nicht wachsen will. Verknappung des Angebots. Handmade in Italy. ­Diesem Versprechen glauben Rennrad-Fans bis ins ferne Taiwan. 16.40 Uhr: Feierabend für Marco, Diego und Pietro.

  Dario Pegoretti skizziert auf dem Küchentisch einen Rahmen auf der KüchenrolleFoto: Oliver Soulas
Dario Pegoretti skizziert auf dem Küchentisch einen Rahmen auf der Küchenrolle

Das Geheimnis seines Erfolgs?
20 Uhr. Wir sind mit Dario zum Abendessen verabredet. Er kommt 20 Minuten zu spät und sieht so aus, als käme er direkt aus der Werkstatt: gleicher Pulli, gleiche Hose, gleiche Hausschuhe – seine Finger und Nägel sind noch schwarz. Was ist das Geheimnis deines Erfolgs? "Ich weiß es nicht." Pause. Guter Stahl, sagt Dario, das sei ein Problem. ­Columbus, die italienische Stahlschmiede, habe die Produktion verringert. Für mehr als 300 Rahmen bekomme er kaum noch Mate­rial. ­Einer sei ständig mit der Stahlbeschaffung beschäftigt. Er jammert noch ein wenig über die ­vielen Abgaben, die er an den Staat zahlen muss. "Dario, was ist das Problem des italienischen Rahmenbaus?" "Die Alten sterben weg. Denen ging es noch um die ­Rahmen. Den ­Jungen geht es nur ums Geld", antwortet er ohne zu zögern. "Aber eigentlich geht es doch gar nicht so schlecht. Italiener ­jammern bloß gern."

Nächster Tag. Als wir kommen, sind schon alle an der Arbeit. Außer Pietro, der fehlt. Er ist bei der Blutspende. Ich sehe mir die ­Rahmentypen genauer an. Mir fallen drei große Unterschiede auf. Am Hinterbau. Dario erklärt, dass die eine Variante die von ganz früher sei (da schwingt sich das Ausfallende formschön und schmal um die Achse) und die mit Muffe von mittelfrüher (auch eher schmal); die dicke sei die moderne – bei der die Stahlrohre durch einen Stahlhalbkreis abgefangen werden. Mittlerweile riecht es ein bisschen nach ­erhitztem Fondue-Topf. Pietro ist zurück und hat ­angefangen zu schweißen. Schweißen, das ist die ­Königsdisziplin, das macht entweder er oder Dario.

Mittagspause. Jeder hat sein Essen dabei, außer Dario, der zieht sich ins Kifferzimmer zurück, legt die Beine hoch, schließt die Augen und hört Musik. Sie spielt für Dario eine wichtige Rolle. Er benennt sogar Rahmen nach Alben. "Wish you where here" von Pink Floyd zum Beispiel. Die anderen sitzen in der Küche um ­einen Tisch mit Plastikdecke, wieder einmal beleuchtet von ungnädigem Neonlicht.

Das Streben nach Vollkommenheit
Zeit, auch sie zu fragen: Was ist Darios Geheimnis? Seine Erfahrung, da sind sich alle einig. Denn trotz Vermessung, Zahlen, Berechnungen und Computerprogrammen braucht es einen erfahrenen Blick, um den Kunden mit dem richtigen Rahmen glücklich zu machen. Da ist es wieder: Das Leben besteht nicht nur aus Zahlen. Dario empfiehlt seinen Kunden gern mal gegen ihren Willen ein Rahmenmodell. Dann, wenn er sich sicher ist, dass der eine doch eher der sport­lichere oder der andere der gemütlichere Fahrer ist. ­Einer, der eher aus Spaß an der Freude fährt, kommt mit einer komfortableren Geometrie besser zurecht als einer, der sehr sportliche Ambitionen hat.

  Dario Pegoretti (18. Januar 1956 – 23. August 2018)Foto: Oliver Soulas
Dario Pegoretti (18. Januar 1956 – 23. August 2018)

Dann kommt Lorella. Dario hat sie bisher mit keiner Silbe erwähnt. Seine Freundin. Von der Tochter seines einstigen Rahmenbaumeisters lebt er schon lange ­getrennt. Wie lebt es sich mit Dario? "Schwierig", sagt sie leise. Eine stille Person mit zartem Händedruck. "Er lebt hier in seiner Werkstatt und seinem Büro", sagt sie, "auch am Wochenende." "Um in Ruhe arbeiten zu können", ergänzt er herrisch und zieht an seiner Zigarette, "vor allem die Büroarbeiten erledigen." Über dem Tisch hängt ein Schild: Rauchen verboten.

Und dann sagt Dario noch etwas. Über Perfektion: Das Schöne daran sei, dass sie nie erreicht werde, man aber immer und immer wieder nach ihr streben ­könne. Mittlerweile bin ich mir sicher: Dario und ­seine Kollegen sind nicht langsam, sie geben den ­Dingen Zeit; sie verweigern sich starrsinnig jeder Hektik – und das mit Hingabe. Hier gelten Effizienz und Wachstum nichts. Nur Präzision. Wahrscheinlich, weil sie nach Vollkommenheit streben.