Mailand-San RemoExperte Erik Zabel tippt ein Duell Pogačar - van der Poel

Andreas Kublik

 · 21.03.2025

Mailand-San Remo: Experte Erik Zabel tippt ein Duell Pogačar - van der PoelFoto: Getty Images/Fabio Ferrari
Gibt es wieder ein Duell zwischen Tadej Pogačar (rechts) und Mathieu van der Poel?
Es gibt wenige, die sich derart intensiv mit dem Rennen Mailand-San Remo auseinandergesetzt haben: Erik Zabel hat den ersten Klassiker der Saison viermal als Radprofi gewonnen und später Mark Cavendish vor dessen Sieg beraten. Der 54-jährige Ex-Profi glaubt an ein ähnliches Szenario wie vor 30 Jahren.

Es wird ein Tag vor dem Fernseher, der 22. März 2025. Da ist sich Erik Zabel recht sicher. Der Termin des Radrennens Mailand-San Remo hat noch immer einen festen Platz in seinem Leben. Auch rund ein Vierteljahrhundert, nachdem er dort letztmals selbst gewonnen hat. Er kennt alle Schlüsselstellen, er kennt alle Tücken des Rennens. Viermal hat er gewonnen: 1997, 1998, 2000 und 2001. Zwischendurch, im Jahr 1999 ist Andrej Tschmil auf der Zielgeraden, der Via Roma in San Remo entwischt. Zabel wurde Zweiter. Im Jahr 2004 war sich der Radprofi aus Unna, damals im Trikot von Team Telekom, dann sicher, dass er zum fünften Mal triumphiert hatte, er hatte die Arme zum Jubel hochgerissen. Doch dann schoss auf den letzten Metern noch Oscar Freire vorbei, quasi unter der Achsel Zabels hindurch. Ein typischer Fall von Denkste! Oder auch eine Warnung an alle, dass das längste Profi-Radrennen auch nach fast 300 Kilometern volle Konzentration, volle Kraft bis zum letzten Zentimeter, bis zur Ziellinie erfordert. Und voller Überraschungen ist – bis ganz zum Schluss.

Die richtige Taktik für Cipressa und Poggio

“Schwierige Frage!”, sagt Zabel, wenn er sich für Favoriten vor der 116. Auflage des Rennens entscheiden soll. Kaum einer weiß besser als Zabel, dass es bei Mailand-San Remo wenige Gewissheiten gibt. Selbst wenn man wie er die Schlüsselstellen, die Orientierungspunkte im Schlaf aufsagen kann. Sobald der Kirchturm von San Lorenzo al Mare am Horizont sichtbar wird, müssten die Alarmglocken bei Favoriten und deren Teams schrillen: Dann beginnt der “Leadout”, also eine Art Sprintanfahrt auf den Einstieg in den Anstieg “Cipressa” – rechts weg von der Hauptstraße. Das nächste Finale beginnt am Kreisverkehr, einen Kilometer vor dem Beginn des Poggio – letzter Anstieg im Rennen, dort fiel zuletzt meist die Vorentscheidung über den Sieg. Die richtige Linienwahl ist entscheidend. Innenbahn, fragt man – also rechts beim Abzweig nach rechts in den Anstieg? “Links!”, ruft Zabel ins Telefon, als sitze er gerade am Mikro des Teamfunks und hätte einen während des Rennens bei einem schweren taktischen Irrtum erwischt.

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Beobachter: Erik Zabel, zuletzt bei verschiedenen Teams als Berater tätigFoto: Getty Images/Christian Kaspar-BartkeBeobachter: Erik Zabel, zuletzt bei verschiedenen Teams als Berater tätig

Die zentrale Frage für alle Beobachter: Gewinnt Tadej Pogačar nun auch das vierte von fünf sogenannten Monumenten – wie die härtesten, längsten, ältesten Radrennen heißen? Bei Flandern-Rundfahrt, Lüttich-Bastogne-Lüttich und Lombardei-Rundfahrt steht er bereits in der Siegerliste. Nur die Primavera, wie der Frühjahrsauftakt Mailand-San Remo heißt, und Paris-Roubaix fehlen noch in seinen Palmarès.

Kaum Änderungen an der Strecke von Mailand-San Remo

Die Strecke des ersten großen Frühjahrsklassikers in der Saison sei seit Jahrzehnten weitgehend identisch, urteilt Zabel. Der Start erfolgt nicht mehr in der Innenstadt von Mailand, am Castello Sforzesco. Sondern nun zum zweiten Mal in Folge in Pavia, rund 30 Kilometer weiter südlich in der Po-Ebene. Die Gesamtdistanz mit aktuell 288 Kilometer und das Höhenprofil der Strecke haben sich aber dadurch bestenfalls marginal verändert. Was neu ist seit einigen Jahren? “Es gibt mehr Road furniture. Und das Grundtempo hat sich deutlich erhöht”, erläutert Zabel. Road furniture, wie verkehrsberuhigende Maßnahmen wie Verkehrsinseln und Temposchwellen auf Englisch heißen, haben das Rennen gefährlicher gemacht. Und die sogenannte Fahrt in den Frühling, aus der oft noch nebligen Po-Ebene an die oft sonnige Mittelmeerküste, ist noch weniger Kaffeefahrt als sie das früher war. Für die Zuschauer, die Radsportfans, zu denen sich auch Zabel zählt, hat sich vor allem das sichtbare Radsportangebot verändert. Viele Radrennen gibt es mittlerweile auf Eurosport/Discovery vom Start weg sehen. “Man konnte früher morgens 80 Kilometer selber Rad fahren, bevor es los ging”, scherzt Zabel. Jetzt will der Ex-Radprofi sehen, wie sich das Rennen vom Start entwickelt – ob sich die Teams an die stets von den Sportlichen Leitern gemachte Vorgabe halten, nur eine kleine Gruppe von maximal einer Handvoll Rennfahrer ziehen zu lassen. Dann beruhigt sich nach einer Startphase das Rennen weitgehend, bevor die Abfahrt vom Turchino-Pass die nächsten Stressmomente kreieren dürfte – etwa auf der Hälfte der Renndistanz. “Eigentlich kann man jetzt zwischen Kilometer 20 und 220 selbst Rad fahren gehen”, vermutet der Experte. Am Bildschirm wird wenig Interessantes zu sehen sein.



Frauen-Rennen feiert Comeback bei Mailand-San Remo

Das gilt, wenn man allein auf die Männer blickt. In diesem Jahr gibt es erstmals seit 20 Jahren wieder ein Frauen-Rennen bei Mailand-San Remo. “Es wäre schade, wenn man das nicht sehen könnte”, findet Zabel, der auch das Frauen-Team CANYON//SRAM um Tour-de-France-Siegerin Kasia Niewiadoma berät. “Bei den Frauen ist das Rennen viel offener”, schätzt er. Das Finale der Frauen, das rund zwei Stunden vor den Männern steigen dürfte, könnte ein guter Pausenfüller sein, wenn bei den Männern gerade nicht viel passiert. Die Frauen starten in Genua, haben rund 150 Kilometer Renndistanz vor sich, gleiches Finale wie die Männer. Weltmeisterin Lotte Kopecky hat sich das Comeback des Rennens für ihren Saisonstart herausgepickt – wie auch Olympiasiegerin Kristen Faulkner. Zu Zabels Zeiten wäre das unvorstellbar gewesen. “Früher hätte ein Team gar niemanden ins Aufgebot genommen, der vorher keine Rennen gefahren ist”, erinnert sich der langjährige Radprofi. Die Zeiten ändern sich. Radprofis, Männer wie Frauen, trainieren viel gezielter auf die Höhepunkte. Weltmeisterin Kopecky gegen die Tour-Siegerin von 2023, Demi Vollering – das könnte das Duell bei den Frauen sein.

Und wenn die Konkurrenz Kopecky nicht ziehen lässt, hat deren Team SD Worx - Protime quasi als Drohung die aktuell beste Sprinterin Lorena Wiebes im Aufgebot, gegen die im Finale auf der Via Roma kaum ein Kraut gewachsen sein dürfte. Aber für die Sprinter sieht es in diesem Jahr schlecht aus. Die Vorhersage kündigt Rückenwind an – aus östlicher Richtung schiebt er die Radfahrer auf der Via Aurelia an der Küste entlang. Wenn es so kommt, hieße das: Vorteil für Angreifer. “Schneller als schnell geht nicht”, pflegt Zabel als eine der zahlreichen althergebrachten Radsportweisheiten wiederzugeben. Genauer gesagt: Bei Rückenwind spielt Windschatten von Teamkollegen eine geringere Rolle, schon ein einzelner kann sehr schnell fahren. Nachteil für Verfolger und die Sprinter.

Erik Zabel bei seinem Sieg im Jahr 1998Foto: Getty Images/ Pascal PavaniErik Zabel bei seinem Sieg im Jahr 1998

Die Szenarien gleichen sich über die letzten Jahrzehnte bei den Männern. Attacken an Cipressa oder Poggio, Sprint kleiner Gruppen oder eines stark reduzierten Felds auf der Via Roma. Lange Soloritte wie der von Fausto Coppi in den Nachkriegsjahren sind im modernen Radsport unvorstellbar. Um eine Prognose für die 116. Auflage des Rennens zu wagen, blickt Zabel bis ins Jahr 1995 zurück. Damals duellierten sich Maurizio Fondriest und Laurent Jalabert ab der Cipressa um den Sieg bei La Classicissima. Dem Italiener Fondriest, Weltmeister von 1998, gelang es nicht, sich wie zwei Jahre zuvor bei seinem Sieg solo abzusetzen. Der tempofeste, kletterstarke und endschnelle Jalabert setzte sich im Zweiersprint durch. Mit neuen Gesichtern ein ähnliches Szenario vermutet Zabel: Seine beiden Topfavoriten sind Pogačar und van der Poel – mit Nachteilen für den Slowenen im direkten Duell: Sein Weltmeister-Trikot und die Favoritenrolle heben ihn und sein Team UAE heraus. “Es ist, als hätte er eine Warnlampe auf dem Helm”, so beschreibt es Zabel. Und im direkten Duell ist der Niederländer van der Poel im Sprint schneller - er muss dem Rivalen nur folgen. Aber alles das bleibt am Renntag graue Theorie. Und deshalb werden Zabel und Tausende andere Radsportfans vor TV-Bildschirmen und Live-Streams sitzen – weil es am Ende doch spannend und unvorhersehbar ist. Jedes Jahr wieder.

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