Viele Gesichter strahlten an diesem Nachmittag in San Remo mit der Sonne um die Wette – und die schien ohnehin schon prächtig, wie es sich für den Frühling an der italienischen Riviera gehört. Mathieu van der Poel, Tadej Pogačar und Jasper Philipsen hatten gut lachen, alle drei aus durchaus verschiedenen Gründen. Philipsen war selbstverständlich glücklich, das Rennen gewonnen zu haben. “Es ist ein Traum, bei einem Monument der Sieger zu sein, und dann noch bei dem, das mir am meisten liegt”, jubelte er. Pogačar umarmte als Dritter ganz ausgelassen Philipsen und den zweitplatzierten Michael Matthews. “Es ist ein tolles Podium. Und das Schöne ist: Michael und Jasper sind gute Freunde”, jauchzte der Slowene.
Mit Philipsen verbrachte er schon mal einen Urlaub. Matthews chauffierte er vor dem Rennen mit seinem Auto zu dessen Teamhotel. “Auf der Via Roma will ich ihn aber nicht so nah dabeihaben”, scherzte er. Das misslang dann allerdings. Übel nahm es Pogačar nicht; vielmehr schoss er bei der Siegerehrung noch ein Selfie mit den beiden. So sehr wie in San Remo hat sich der sieggewohnte Slowene wohl noch selten über einen dritten Platz gefreut.
Weltmeister und Vorjahressieger van der Poel hatte als Zehnter die Ziellinie auf der Via Roma überquert. Für Menschen, die nur auf Zahlen und Daten schauen, stellt das eine mittlere Katastrophe dar. Nicht so für den Niederländer. “Natürlich hätte ich gern selbst gewonnen. Aber ich kann es auch so genießen. Für das Team ist es super, zweimal nacheinander den Sieger zu stellen. Und Jasper und ich haben uns in der Vergangenheit schon viel gegenseitig geholfen”, erläuterte er im Ziel, lächelte und wirkte dabei zumindest ganz entspannt.
Van der Poel wusste: Sein Anteil am Erfolg des Teamkollegen ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Der Mann mit der Startnummer 1 hatte im Finale alles getan, damit nicht er selbst, sondern eben Philipsen gewinnt. Auf der Abfahrt vom Poggio machte er gerade nicht gemeinsame Sache mit dem enteilten Tadej Pogačar. “Jasper hatte mir mitgeteilt, dass er heute fantastische Beine hat. Zwar hätte es mir natürlich sehr gefallen, gemeinsam mit Tadej ans Ziel zu kommen. Aber als ich mitbekam, dass Jasper nach dem Poggio noch in Reichweite war, wurde mir klar, dass das Finale anders laufen wird”, sagte van der Poel später. Also verzichtete er auf Tempoarbeit im Duo mit Pogačar und setzte später auch keine eigenen Attacken.
Seine ganze Energie mobilisierte er, um Angriffe der Konkurrenz zu neutralisieren: den überraschenden Vorstoß von Bora-Hansgrohes Neuzugang Matteo Sobrero auf dem letzten Kilometer etwa, das halb beherzte, halb verzweifelte Nachsetzen von Tom Pidcock. Und auch beim cleveren Versuch vom Aerodynamik-Experimentator Matej Mohorič, der vor zwei Jahren bergab die Classicissima gewonnen hatte, war der Mann im Regenbogentrikot der Defensivspezialist, der die Lücke schließen half.
“Ohne Mathieu hätte ich das Rennen wahrscheinlich nicht gewonnen”, sagte Philipsen auch ehrlich. Er rechnete es seinem Teamkollegen hoch an, die eigenen Ambitionen hintangestellt zu haben. “Ins Rennen sind wir mit der klaren Ansage gegangen, dass Mathieu die Nummer eins ist. Er ist der Weltmeister, er hat San Remo im letzten Jahr gewonnen. Ich hatte eine eher freie Rolle, sollte Energie sparen und so gut wie möglich über die Anstiege kommen. Das hat ganz gut geklappt. An den Schlüsselstellen war das Team auch da. Aber ohne Mathieus Arbeit im Finale wäre es wohl nicht zu einem Sprint einer kleinen Gruppe gekommen”, meinte Philipsen auf die Frage nach der ursprünglichen Rollenverteilung im Team.
Die uneigennützige Hilfe des Vorjahressiegers für den Kollegen, der das Team zu Vertragsende im nächsten Winter möglicherweise verlässt, weckte viel Beifall in der Szene. Auch Alt-Star Eddy Merckx war schwer beeindruckt. “Die Abstimmung zwischen van der Poel und Philipsen war perfekt. Beide sind sehr loyal, und dieses Mal hat sich Mathieu geopfert”, lobte er. Über die Größe des Opfers darf man freilich spekulieren. Gut möglich, dass es van der Poel in seinem allerersten Saisonrennen nicht auf ein Duell mit Pogačar ankommen lassen wollte. Der hatte seine Top-Form schließlich schon bei seinem beeindruckenden Solosieg bei Strade Bianche Anfang März unter Beweis gestellt.
Und auch an diesem Samstagnachmittag riss der Slowene am Poggio zweimal eine Lücke. “Den ersten Antritt habe ich erwartet. Der zweite kam dann etwas überraschend”, meinte van der Poel später. Er selbst hatte sich auch nicht ganz in Top-Form gesehen. “Ich hatte nicht erwartet, in so guter Verfassung zu sein wie letztes Jahr”, gab er zu. Er fühle sich gut, aber noch nicht ganz so exzellent, um alles auf eine Karte – seine – zu setzen. Und seine großen Ziele kommen ja auch noch, mit der Flandern-Rundfahrt, die er gern ein drittes Mal gewinnen will, und Lüttich-Bastogne-Lüttich, dem Klassikermonument, das noch in seiner Siegessammlung fehlt.
Bei den meisten belgischen Klassikern kann er nun ganz besonders darauf hoffen, dass Philipsen sich als Helfer revanchiert. “Wir fahren oft zusammen. Wir sind es gewohnt, ehrlich zueinander zu sein”, beschrieb van der Poel das besondere Band, das den Klassikerkönig der letzten Jahre mit dem Sprintkönig der Tour verbindet. Der Weltmeister hofft auch, als Duo mit Philipsen noch länger gemeinsam auftrumpfen zu können. “Ich wünsche mir, dass er noch viele Jahre bei uns fahren wird”, sagte er unmittelbar nach Zieleinlauf.
Auch Philipsen betonte, dass er gern weiter in dieser Kombination auf der Jagd nach Siegen unterwegs sein möchte. Aber das große Geld könnte dem im Wege stehen. Der Belgier verpflichtete den Radsport-Manager Alex Carera als neuen Agenten, zu dessen Klienten auch Pogačar zählt. Das ist ein starker Hinweis darauf, dass er beim Poker um eine Vertragsverlängerung “all in” für ein Millionen-Salär geht, was die Möglichkeiten des Rennstalls Alpecin-Deceuninck übersteigen könnte. Team UAE mit Kapitän Pogačar ist ein ganz heißer Kandidat für einen Wechsel. Dort begann Philipsen schon seine Profikarriere, gemeinsam mit Pogačar übrigens.
Und die beiden sind, wie der Slowene unmissverständlich klarmachte, dicke Kumpels. Pogačar selbst hatte nach dem Rennen in den Frühling nur eher kleine Motive für seine große Freude. Denn die taktischen Pläne seines Teams erfüllten sich bestenfalls zur Hälfte. “Pogi” hatte angekündigt, das Rennen früh schwer machen zu wollen. Teamdirektor Matxin Fernandez stellte gar eine neue Rekordzeit für den Anstieg auf die Cipressa von unter neun Minuten in Aussicht.
Und tatsächlich spannten sich die Männer in den weißen UAE-Trikots bereits ab der Capo Berta vor das Feld. Es zog sich in die Länge, Lücken klafften auf. Noch größer wurde die Selektion dann an der Cipressa. Etwa zwei Kilometer vor der Kuppe ging UAE aber der Treibstoff aus. Der bis dahin enorm starke Neoprofi Isaac del Toro scherte erschöpft aus, und plötzlich hatte Pogačar nur noch einen Helfer, den Belgier Tim Wellens. Beide zögerten, drosselten das Tempo. Andere Fahrer schlossen auf; die ganze schöne Vorarbeit für die Katz.
Die Konkurrenten schüttelten die Köpfe. “Sie haben ziemlich viel Energie verschwendet und sich selbst auch leergefahren. Attackiert haben sie dann, wo wir es erwarteten”, meinte Philipsen verwundert. Er räumte allerdings auch ein, dass es wenig Möglichkeiten gegeben hatte, das Rennen für einen Fahrer wie Pogačar vorteilhaft zu gestalten. “Wir haben getan, was wir konnten und was in unserer Macht stand. Wenn du einen Unterschied machen willst, passiert es leider immer wieder, dass dir dann zwei Beine fehlen”, konstatierte Andrej Hauptman, sportlicher Leiter bei UAE, mit leichtem Sarkasmus.
In der Analyse waren es vor allem die Beine des Schweizers Marc Hirschi, die fehlten. Del Toro musste deshalb früher als geplant die Tempoarbeit übernehmen. Und mit der Rekordzeit auf der Cipressa wurde es nichts. Bereits dort hatte Pogačar Mailand-San Remo verloren, auch wenn es ihm anschließend noch gelang, auf dem Poggio zwei Attacken zu setzen. Aber die Gruppe war zu groß, die Konkurrenz zu stark, als dass er als Solist das Ziel hätte erreichen können.
Eine Rekordfahrt wurde Mailand-San Remo 2024 trotz verpasster neuer Cipressa-Bestzeit dennoch. Durch die Beschleunigungen von UAE bereits ab der Capo Berta wurde zumindest die höchste Durchschnittsgeschwindigkeit in der Geschichte des Rennens erzielt (46,11 km/h). Bisheriger Rekordhalter war Gianni Bugno 1990 (45,806 km/h). “Ich hätte nicht gedacht, dass meine Marke so lange hält. Aber die Aktionen von UAE haben das Rennen so schnell gemacht”, meinte der frühere Profi. Rekordhalter für die Strecke von Mailand nach San Remo bleibt Bugno dennoch. Denn die diesjährige Classicissima begann ja erst in Pavia.
“Es gab in den letzten Jahren immer mal wieder Probleme mit Mailand. Deshalb sind wir im letzten Jahr bereits in Abbiategrasso gestartet. Aber die Aufnahme jetzt in Pavia war sehr gut. Und ich kann mir vorstellen, dass es auch in den nächsten Jahren Pavia-San Remo sein wird”, meinte Renndirektor Mauro Vegni. Der Poggio immerhin steht nicht zur Disposition. “Der Anstieg kurz vor dem Ziel ist einfach klassisch. Er bietet den einzigen Angriffspunkt für jene, die nicht im Massensprint ihr Glück versuchen können”, so Vegni.
Auch Pogačar wird im nächsten Jahr wieder deutlich vor der Via Roma versuchen müssen, das Rennen zu entscheiden. Davon zumindest ging Landsmann und Sportchef Hauptman aus. Vielleicht hat UAE dann aber auch schon als zweite Karte Jasper Philipsen im Spiel. Und van der Poel muss dann wieder auf eigene Kappe fahren. In diesem Fall am besten mit dem einen oder anderen Rennen mehr in den Beinen.