Sven Bremer
· 18.04.2024
Eigentlich hatte der Pesant Club Liegeois und die Liege Cyclist’s Union das Rennen Lüttich-Bastogne-Lüttich nur als Vorbereitung auf den Radmarathon Lüttich-Paris-Lüttich über 845 Kilometer vorgesehen. Aber aus dem “Vorbereitungsrennen” wurde ein Monument des Radsports. “La Doyenne” (die Älteste) nennt man den seit 1892 ausgetragenen Ardennen-Klassiker auch – was nicht ganz korrekt ist: Mailand-Turin fand bereits 1876 erstmals statt, dann aber erst wieder von 1894 bis heute. Unbestritten ist, dass die Strecke durch die Hügel der Wallonie den Fahrern alles abverlangt und als eines der schwersten Eintagesrennen der Welt gilt.
Tragödien und Heldentaten spielen sich im französischsprachigen Teil Belgiens seit mehr als hundert Jahren ab. Das beginnt schon mit der Geschichte des ersten Siegers Léon Houa. Der Belgier musste die letzten zehn Kilometer Richtung Lüttich “einbeinig” absolvieren, nachdem an seinem Rad ein Pedal abgebrochen war. Die wohl denkwürdigste Ausgabe gewann Bernard Hinault im April 1980. Beim Start wehte ein eiskalter, mörderischer Wind – immerhin war es trocken. Doch schon bald setzte dichter Schneefall ein. Ein Fahrer nach dem anderen rettete sich in die Cafés und Bars am Straßenrand. Am besten mit den Bedingungen kam Hinault klar, der mit knapp zehn Minuten Vorsprung vor Hennie Kuiper ins Ziel kam.
174 Profis waren gestartet, auf dem Fahrrad erreichten Lüttich lediglich 21. Eigentlich fuhr Hinault auch bei Wind und Wetter im Kurzarmtrikot. Diesmal hatte er sich breitschlagen lassen und trug eine wärmende Jacke. Aber erst, so erzählte man sich, als Hinault die Jacke auszog, fuhr er den entscheidenden Vorsprung heraus. Eine belgische Zeitung titelte nach dem Rennen: “Een Breton van Beton” (Ein Bretone aus Beton). Bis heute kann Hinault als Folge des Schneerennens übrigens die vorderen Glieder zweier Finger nicht mehr richtig bewegen.
Ähnlich frostig war es 1957 und es heißt, die Fahrer hätten sich unterwegs auf die Finger gepinkelt, um die eiskalten Hände wenigstens ein bisschen aufzutauen. Nur 15 von 107 Fahrern erreichten Lüttich und es gewann in Germain Derijcke ein Fahrer, der stets behauptet hatte, bei Hitze am besten drauf zu sein. Der Sieg Derijckes hatte jedoch ein Nachspiel. Frans Schoubben legte Protest ein, weil Derijcke an einem geschlossenen Bahnübergang über die Schranke geklettert sein soll. Wenig später zog Schoubbens Sportlicher Leiter den Protest zurück und beide Fahrer werden seitdem als Sieger geführt.
Eddy Merckx, Rekordsieger mit fünf Erfolgen, musste 1970 erleben, wie sich die Brüder Roger und Erik De Vlaeminck zusammenschlossen und ihn ausbremsten. Im engen und für Publikum und Jury nicht einsehbaren Tunnel vor dem Velodrom zu Lüttich – damals noch Zielankunft – soll Erik mit einem Pfiff das Signal für die entscheidende Attacke seines Bruders gegeben haben, während er selbst Merckx im Weg herumfuhr.
Merckx’ langjähriger Freund Patrick Sercu erzählte einmal folgende Geschichte: Nachdem der “Kannibale” Merckx drei Tage zuvor den Sieg beim Fleche Wallone als Zweitplatzierter verpasst hatte, entdeckte Sercu auf dem Weg nach Lüttich aus dem Auto einen einsamen Radfahrer. Ein stürmischer Schneeregen ging übers Land, keinen Hund hätte man vor die Tür schicken wollen. Sercu erkannte den Mann auf dem Velo sofort. Es war Merckx, der sich selbst 100 Kilometer “Strafarbeit” auferlegt hatte. Am Tag darauf holte Merckx bei Lüttich-Bastogne-Lüttich seinen vierten von fünf Siegen.
1988 klaffte auf der Strecke eine etwa 30 Zentimeter tiefe und einen Meter breite Lücke quer über die Fahrbahn. Weil die Streckenposten in Houffalize nicht aufpassten, raste das Peloton mit Tempo 60 km/h auf die Gefahrenstelle zu. Nicht allen gelang es, den Graben zu überspringen – und es kam zum Massensturz.
Der Sieg im Jahr 2010 soll gekauft worden sein. Der Kasache Alexandr Vinokourov vom Team Astana soll dem Russen Alexandr Kolobnev 100.000 Euro dafür geboten haben, wenn dieser ihn gewinnen ließe. Das Schweizer Magazin “L'Ilustré” veröffentlichte dazu einen E-Mail-Verkehr zwischen den beiden Rennfahrern, der den Verdacht des abgesprochenen Rennens und der Zahlung nahelegt. Kopien von Überweisungen lagen vor, Vinokourov wies die Vorwürfe dennoch zurück und sah sich als Opfer einer Hacker-Attacke. 2019 sprach ein Gericht Kolobnev und Vinokourov aus Mangel an Beweisen vom Bestechungsvorwurf frei.