RückblickDas TOUR-Testjahr 2024

Jens Klötzer

 · 20.12.2024

Rückblick: Das TOUR-Testjahr 2024Foto: Wolfgang Papp
Schon wieder ein Jahr rum – die dunklen Wintermonate geben Anlass und Muße, zurückzuschauen. TOUR blickt auf besondere zwölf Monate mit neuen Testmaschinen und spannenden Rädern.

Haben Sie von der vergangenen Rennrad-­Saison etwas Besonderes in Erinnerung behalten? Wir auch. Vieles sogar. Das Jahr 2024 war in vielerlei Hinsicht ein besonderes für die Testredaktion von TOUR. Das gilt in erster Linie für die Räder, die wir im Labor und unterm Sattel testen konnten, denn in den Tests der vergangenen zwölf Monate wurde mancher Rekord gebrochen, es gab faustdicke Überraschungen, erhellende und faszinierende Momente auf Asphalt und Schotter – und natürlich besonders schicke Räder, an die wir uns schon der Handwerkskunst wegen sehr gerne erinnern. Aber auch ganz nüchtern betrachtet, wird das Jahr in Erinnerung bleiben. Denn dass wir an unser Testsystem und die Prüfstände in unserem Labor Hand anlegen, kam in nunmehr 30 Jahren der TOUR-Testhistorie nur sehr ­selten vor.

Gravelbikes entwickeln sich rasant, manche ­Modelle wirken wie ein Blick in die Zukunft – zum Beispiel das neue Rose BackroadFoto: Wolfgang PappGravelbikes entwickeln sich rasant, manche ­Modelle wirken wie ein Blick in die Zukunft – zum Beispiel das neue Rose Backroad

Anfang 2024 war der Schnitt ­vergleichsweise radikal, obwohl wir unser Testsystem eigentlich ständig und systematisch hinterfragen: Ob die Messungen dem Empfinden in der Praxis gerecht werden, ob die Bewertungsskalen den aktuellen Stand der Technik abbilden und ob es neue Trends gibt, die wir mit unseren Tests berücksichtigen sollten. Einige Prüfstände im TOUR­-Labor haben dennoch drei Jahrzehnte größtenteils unverändert überdauert, weil sie die Realität auf der Straße von Beginn an sehr gut abbildeten. Die Messungen wurden eher nach und nach um neue erweitert: Zuletzt kamen 2006 die Komfortmessung am Sattel, ab 2010 systematische Aerodynamik-Messungen für Wettkampfrenner im Windkanal hinzu.

Was Profis brauchen: Leicht, aerodynamisch, komfortabel und ­verwindungssteif – so charakterisiert sich ein gutes Wettkampf-Rennrad. Zu den ­besten zählt neuerdings das Canyon Aeroad, wie Mathieu van der Poel es fährtFoto: Getty Images; Luc ClaessenWas Profis brauchen: Leicht, aerodynamisch, komfortabel und ­verwindungssteif – so charakterisiert sich ein gutes Wettkampf-Rennrad. Zu den ­besten zählt neuerdings das Canyon Aeroad, wie Mathieu van der Poel es fährt

Noch näher an der Realität

Das vergangene Jahr, genauer gesagt die im Januar erschienene TOUR-Ausgabe 2/2024, markierte ein weiteres neues Kapitel. Zum einen haben wir für die Kategorie der Wettkampfräder ein neues Kriterium eingeführt, seit Anfang 2024 erfassen wir den Komfort am Lenker.

Die Fähigkeit, Stöße an den Händen abzufedern, haben wir zwar schon vorher erfasst, allerdings nur isoliert an der Gabel und nur bei Endurance-Rennrädern und Gravelbikes. Unser Gefühl sagte uns jedoch bei manchen Rädern: Hier stimmt was nicht. Zudem werben einzelne Hersteller wie beispielsweise Giant damit, dass ihre speziell konstruierten Lenker besser federn können als andere; auch gefederte Vorbauten werden an Rennrädern zunehmend ein Thema. Mit dem neuen Messverfahren bilden wir nun diese Realität besser ab. Und wir können ­zumindest für diesen Testjahrgang sagen: Die Firma Giant lügt nicht, vor allem die Frauen-Marke Liv ist in dieser Disziplin ganz vorne mit dabei. Großen Zuspruch bei unseren Lesern findet unsere Geometriemessung von Stack plus und Reach plus, die ebenfalls den Lenker mit ­einbezieht und die Sitzposition auf einem Rennrad so einordnet, wie sie tatsächlich ist. Unorthodoxe Lenkerkonstruktionen, die sich zudem nur mit hohem Aufwand tauschen lassen, verfälschen immer häufiger das Bild, welches die Rahmengeometrie zeichnet. Auch Herstellerangaben zu den Rahmenmaßen werden zunehmend wertlos, wenn man die Form des Lenkers nicht kennt. Unsere Messung an den tatsächlichen Griffpositionen trägt dieser Entwicklung Rechnung und ist für Leserinnen und Leser deutlich wertvoller. Hier haben die Hersteller noch viel Nachholbedarf.

Prüfstand - Steifigkeit

Rahmen und Gabel sind die nachgiebigsten Teile in der Steifigkeitskette des Rennrads und prägen den Fahreindruck: Ein steifes Rahmen-Set lenkt sich präzise und fährt auch bei hohem Tempo wie auf Schienen. Ein weiches Chassis lässt sich bei Unebenheiten, Windböen oder Lenkkräften leichter aus der Spur bringen und erfordert mehr Konzentration. Im Extremfall kann sich das Rad aufschaukeln und entwickelt ein gefährliches Eigenleben – je höher das Systemgewicht, umso größer ist die Gefahr. Bei modernen Rennrädern passiert das aber nur noch selten. Gemessene Werte liegen zwischen 7,5 und 11,5 Newton pro Millimeter (N/mm) Auslenkung. Als “Sehr gut” bewerten wir Räder mit 9 N/mm und mehr.

Prüfstand - Lenkerkomfort

Neu im Prüfkonzert. Zwar übernimmt der ­Reifen den Löwenanteil des Komforteindrucks an der Front. Er ist über Breite und Luftdruck in einem recht großen Bereich einstellbar, sein Potenzial aber begrenzt. Einen durchaus spürbaren Anteil liefert auch die Federkette aus Gabel, Vorbau und Lenker: Bis zu sechs Millimeter kann der Lenker an den Bremsgriffen einfedern, wenn 40 Kilogramm Last darauf liegen. Das glättet feine Vibrationen auch mit schmalen, prall aufgepumpten Reifen.

Zudem haben wir die Steifigkeitsmessung von Rennrädern, eine Art Urknall unseres Testverfahrens, in einen völlig neuen Prüfstand überführt. Seit Beginn der TOUR-Tests sind die Steifigkeitsmessungen des Rahmens ein unverändert hoch gewichteter Bestandteil unserer Labortests und in der Branche weltweit als Standard für die Bewertung der Fahrstabilität von Rennrädern etabliert. Seit Anfang des Jahres messen wir die Fahrstabilität, also die Steifigkeit gegen Verformung durch seitliche Kräfte, nicht mehr getrennt in Rahmen und Gabel, sondern kombiniert am montierten Rahmen-­Set. Hintergrund ist nicht nur ein neuer Systemgedanke, den wir bei TOUR zunehmend verfolgen: Rahmen und Gabel, immer öfter auch Lenker, Vorbau und Sattelstütze, sind immer häufiger eine vom Hersteller gemeinsam konstruierte Einheit, deren Einzelteile aufeinander abgestimmt sind. Ein Austausch der Teile ist oft nicht mehr vorgesehen und manchmal gar unmöglich, weil sie keine gängigen Standardabmessungen mehr aufweisen. Das führt zum einen dazu, dass wir die Realität besser abbilden als an isolierten Einzelteilen.

Wie gefällt Ihnen dieser Artikel?


Zum anderen lässt nur dieser Aufbau überhaupt eine Messung der wichtigen Eigenschaft zu, denn nicht selten werden die Bauteile so einzigartig und komplex, dass sie sich der messtechnischen Untersuchung auf einem klassischen Prüfstand entziehen. Das Ergebnis ist dabei das Gleiche – nur ­besser: Die Kriterien und Maßstäbe, die ein gutes Rennrad zu einem sehr guten oder he- rausragenden Produkt qualifizieren, blieben weitgehend erhalten – beziehungsweise sind sie so fein abgestimmt, dass sie die Ergebnisse unserer vorherigen Verfahren möglichst gut treffen. Denn die physikalischen Gesetze haben sich nicht verändert. Wir leiten vergleichbare Kräfte an den gleichen Stellen des Rades ein, wie sie auch in der Praxis auftreten. Die Messweise und die absoluten Zahlen sind aber andere und lassen sich mit vorherigen Tests nicht mehr direkt vergleichen. Ein bis dahin sehr gutes Rennrad bleibt aber auch mit dem neuen Verfahren ein sehr gutes, wie beispielsweise das neue Canyon Aeroad zeigt.

Meistgelesene Artikel

1

2

3

Weniger Zeit für mehr Räder

Zugegeben, die Umstellung auf das neue, integrierte Testverfahren hat auch einen ganz pragmatischen Hintergrund: Das Zerlegen und Zusammensetzen der Testräder nahm immer mehr Zeit in Anspruch, zuletzt etwa 80 Prozent des Labordurchlaufs. Die immer komplizierter aufgebauten Räder benötigten immer mehr Montage- und Rüstzeiten, die uns bei der eigentlichen Beschäftigung mit dem Rad verloren ging – ganz abgesehen vom immensen Zeitaufwand, die Räder nach den modularen Messungen wieder zu komplettieren. Verschlungen im Rahmen verlegte Züge und Leitungen kosteten unsere Werkstatt-Mechaniker viel Zeit und Nerven, um sie wieder wie vom Hersteller vorgesehen zu installieren. Auch Defekte, beispielsweise an gepressten Innenlagern, ließen sich bei Aus- und Wiedereinbau nicht immer vermeiden.

122 Räder durchliefen 2024 das Testlabor von TOUR. Darunter waren 68 Straßenräder und 54 Gravelbikes.

Mit unserem neuen Verfahren gehen die Messungen nun deutlich schneller, im Umkehrschluss können wir also wieder mehr ­Räder testen und bewerten. 68 Straßenrennräder und 54 Gravelbikes, von Letzteren ein großer Teil in den beiden Spezial-­Heften zum Thema, haben in den vergangenen zwölf ­Monaten den Parcours in unserem Testkeller absolviert und waren mit uns auf der Straße. Das ist kein umfassender Marktüberblick, bildet aber sehr gut die technische Entwicklung ab und zeigt, welche Trends den Markt prägen. Zum Beispiel, dass die Schotterrenner auf dem Markt immer mehr Raum einnehmen. Die Hauptdarsteller waren natürlich dabei, die großen Marken der Branche. Aber ebenso kleine Anbieter und Exoten aus ­Titan oder Stahl, sündteure Luxusgefährte oder überraschende Schnäppchen. Was uns besonders in Erinnerung geblieben ist, welche Rekorde gefallen sind und was uns im Rennradjahr 2024 sonst noch überrascht hat, haben wir in diesem Artikel zusammengefasst.

Meistgelesen in der Rubrik Kaufberatung