Der Fahrradmarkt in Deutschland sendet derzeit sehr widersprüchliche Signale aus. Der lange, trockene und wunderbar sommerliche Sommer müsste die Geschäfte des Fahrradfachhandels eigentlich beflügelt haben, denn gutes Wetter ist gut für den Verkauf von Fahrrädern. Folgerichtig müssten die Geschäfte jetzt in den trüben Tagen des Herbstes leer sein und die Fahrradhändler zufrieden. Doch wenn man derzeit ein Fahrradgeschäft betritt, bietet sich vielerorts das gleiche Bild. Dicht an dicht stehen Fahrräder und E-Bikes in den Läden und warten auf Käufer; man könnte meinen, die Frühjahrssaison 2024 steht schon vor der Tür und die Händler hätten sich mit frischer Ware versorgt, um den zu erwartenden Ansturm zu bewältigen. Doch bei sehr vielen Fahrradhändlern ist das Gegenteil der Fall: Der Laden ist noch voll mit alter Ware, nicht selten findet man neben Bikes des aktuellen Jahrgangs auch welche aus dem Modelljahr 2022. Klickt man sich durch die Webseiten von Onlinehändlern, Fachmarktketten oder Einzelhändlern, regiert der Streichpreis, die Rabatte – 30, 50, 70 Prozent auf Fahrräder aller Art – springen einem ins Auge. Und hört man sich in der Fahrradbranche um, muss man feststellen: Euphorie klingt anders.
Tatsächlich war die Fahrradsaison 2023 geprägt von etlichen Hiobsbotschaften – oder Maßnahmen der Branchenteilnehmer, die zumindest aufhorchen ließen. Nach den fetten Corona-Jahren, die für die Fahrradbranche wie eine Sonderkonjunktur wirkten, ist der Markt derzeit alles andere als stabil: Zwar sind die während der Pandemie gerissenen Lieferketten wieder weitgehend intakt, aber die von vielen Händlern panikartig bestellten und von den Herstellern inzwischen gefertigten und gelieferten Räder und Teile verstopfen die Lager. Verkaufen tut not: Das Versandhandelsunternehmen Rose kündigte bereits Ende 2022 an, die Preise um durchschnittlich 15 Prozent zu senken. Preistreibende Effekte, so das Unternehmen mit Sitz in Bocholt, hätten sich beruhigt. Das mag ein Aspekt der aktuellen Preis- und Marktentwicklung sein, aber hinzukommt: Das Konsumklima leidet, und das nicht nur in Deutschland. Die monatlich erscheinende GfK-Konsumklimastudie, an der seit einiger Zeit auch das Nürnberg Institut für Marktentscheidungen (NIM) mitwirkt, kam für November zu dem Schluss: “Mit dem dritten Rückgang in Folge müssen wir die Hoffnungen auf eine Erholung der Konsumstimmung noch in diesem Jahr aufgeben”, so Rolf Bürkl vom NIM.
Das trifft den Fahrradhändler um die Ecke ebenso wie die Großen der Branche: Die US-amerikanische Radmarke Specialized kündigte bereits im Frühjahr an, weltweit acht Prozent der Stellen zu streichen. Allein in den USA sollte 120 Mitarbeitern gekündigt werden. Scott Maguire, CEO von Specialized, erklärte etwas unkonkret, es sei “notwendig, sich dem aktuellen Umfeld anzupassen”. Dass der Fahrradmarkt unter Druck steht, belegt auch ein Brief des größten Fahrradherstellers der Welt aus Taiwan an seine Zulieferer. Die Firma Giant bat in einem vertraulichen Papier Geschäftspartner um eine längere Zahlungsfrist für ausstehende Rechnungen. Begründet wurde dies mit einem starken Einbruch der Nachfrage nach Fahrrädern – besonders im unteren Preisbereich. In der Folge würden volle Lager zunehmend Chaos in der Lieferkette verursachen.
Das deutsche Traditionsunternehmen Prophete, das seit 115 Jahren in Reda-Wiedenbrück Fahrräder unter anderem der Marken Kreidler, Rabeneick und VSF Fahrradmanufaktur herstellt, musste ebenfalls Insolvenzantrag stellen; ein Grund für die Zahlungsprobleme war ein großer Bestand an Rädern, die nicht fertig aufgebaut werden konnten, weil einzelne Teile fehlen. “Unser Lager ist voll mit Einzelteilen, wo immer die letzte Schraube fehlt, um ein vollständiges Fahrrad zu bauen”, erklärte Prophete-Geschäftsführer Felix Schwabedal gegenüber dem WDR. Nach dem Einstieg eines Investors aus Singapur konnte Prophete die Geschäfte zunächst weiterführen.
Müsing, eine Marke, die sich mit hochwertigen Rennradrahmen aus Aluminium in den 1990er-Jahren einen Namen gemacht hat, musste ebenfalls Insolvenzantrag stellen. In einer Pressemitteilung heißt es: “Trotz einer stabilen Auftragslage in Q1 2023 und einem guten Start in das Folgequartal kam es zu einer rückläufigen Nachfrage in den Kernmonaten Mai und Juni. Da die weitere Marktentwicklung in einer angespannten Branche und die anhaltende Konsumzurückhaltung, insbesondere auf dem deutschen Markt, zu einem Umsatzeinbruch führten, haben sich die Gründer und Geschäftsführer der GmbH dazu entschlossen, Antrag auf Insolvenz in Eigenverwaltung einzureichen.”
Die jüngste schlechte Nachricht schließlich stammt von der Internetstores GmbH. Das Unternehmen, das seit Beginn der 2000er-Jahre einen rasanten Aufstieg erfuhr, betreibt mehrere Online-Plattformen im Fahrrad- und Outdoor-Segment, übernahm 2010 die Marke Brügelmann und führt unter anderen die Eigenmarke Votec. Internetstores ist Teil der Unternehmensgruppe Signa Sports United des österreichischen Investors René Benko. Deren finanzielle Probleme rühren allerdings wohl eher aus den Engagements der Benko-Gruppe im Warenhaus- (Galeria Karstadt Kaufhof) und Immobiliengeschäft. Wie es mit Internetstores und dem Fahrradgeschäft weitergeht, war zum Zeitpunkt der Recherche noch nicht absehbar.
Last not least: Komponenten-Hersteller Shimano, aufgrund seiner weltweiten Aktivitäten eine Art Seismograf für die Branche, berichtet in seinen jüngsten Unternehmenszahlen von hohen Lagerbeständen und zwar stabilen Verkäufen in Deutschland und Benelux, aber schleppendem Absatz in Nord-, Mittel- und Südamerika sowie in Asien und Ozeanien. In den ersten neun Monaten sank Shimanos Umsatz im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 24,8 Prozent auf 1,8 Milliarden Euro, der operative Gewinn um 48,8 Prozent auf 350 Millionen Euro.
Wie sind diese Indizien nun zu bewerten? Rutscht die Fahrradbranche in eine Rezession? Oder ist das eine Stagnation auf hohem Niveau, begleitet von einer vielleicht sogar heilsamen Marktbereinigung? Der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) als Interessenvertretung der deutschen Fahrradbranche übt sich bei der Interpretation der von ihm selbst erhobenen Daten für den Fahrradmarkt in Deutschland noch in Vorsicht. Für die ersten fünf Monate des Jahres 2023 geht der ZIV im Vergleich zum Vorjahr beim Verkauf von 850.000 E-Bikes und damit einem Rückgang von 12 Prozent aus, beim Fahrrad sind es 830.000 Einheiten, was einem Rückgang von 20 Prozent im Vergleich zu den ersten fünf Monaten des Vorjahres entspricht.
“Angesichts des anhaltenden Kriegs in Europa, mit Inflation und allgemeiner Kaufzurückhaltung und noch dazu sehr schlechtem Wetter haben wir mit einer Eintrübung des Markts in den ersten Monaten gerechnet”, sagte Burkhard Stork, Geschäftsführer des ZIV, im Juni. Aktuelle Zahlen für das zweite Halbjahr 2023 sind derzeit noch nicht verfügbar.
Wenn die Lieferketten des weltumspannenden Fahrrad-Business also wieder weitgehend intakt sind, woran liegt es dann, dass die Bike-Brache angesichts des hohen gesellschaftlichen Stellenwerts des Fahrrads als Problemlöser in der Klimakrise den runden Tritt der Corona-Jahre verloren zu haben scheint? Schon zu Jahresbeginn hatte TOUR sich in der Branche umgehört, und Sebastian Tegtmeier, beim Online-Händler BIKE-Components Direktor der Customer Experience, hatte damals prophezeit: “Es ist schon jetzt viel zu viel Ware im Fahrradmarkt und auf Seiten der OEM-Zulieferer (Erstausrüster, Anm.d.Red) steigt die Zahl der Stornierungen. Am Ende führt dies zu Preiskämpfen, die zwar für den Verbraucher kurzfristig attraktiv sein mögen, aber mittelfristig und zwangsläufig zur Folge haben werden, dass nicht alle Marken, Hersteller und Händler diese Krise überleben werden.”
Aktuell nach einem vorläufigen Fazit zur Saison 2023 befragt, ergänzt Tegtmeier: “Die Prognose war leider zutreffend, hat sich allerdings auch noch einmal anders entwickelt: Mittlerweile ist die Branche mit einer Reihe von Insolvenzen konfrontiert, die in dem Umfang nicht absehbar waren. Es zeigt sich, dass vor allem preisaggressive Anbieter in Schwierigkeiten geraten sind. Grundsätzlich liegt die Branche größtenteils nun auf dem Umsatzniveau, welches man vor Corona für das Jahr 2023 prognostiziert hätte. Marktwachstum ist also durchaus vorhanden, allerdings zehren die niedrigen Preise an den Margen und damit an den Reserven.”
Ob sich die Aussichten der Branche für den Fahrradmarkt 2024 wieder aufhellen, lässt sich derzeit noch schwer abschätzen. Es zeichnet sich aber ab, dass mehr Hersteller als in der Vergangenheit aus den Corona-Jahren und den krisenhaften Folgeerscheinungen den Schluss ziehen, den Zyklus der Modellwechsel zumindest zu verlangsamen. Das wäre sowohl für den Handel als auch die Fahrradkäuferinnen und -käufer eine erfreuliche Entwicklung. Für den Fahrradhändler verringert sich der Druck in doppelter Hinsicht. Er muss ein vermeintlich “altes” Modell nicht schon nach wenigen Monaten im Preis senken und keine nachdrückenden neuen Räder vorfinanzieren bzw. in seinen Laden stellen, was den Preisdruck auf seine noch nicht verkauften Räder zusätzlich erhöhen würde. Radlerinnen und Radler freuen sich auch darüber, wenn ihr neugekauftes Rad nicht schon nach wenigen Monaten durch ein Nachfolgemodell als “alt” abgestempelt wird.
Wichtig wäre allerdings auch, dass es der Fahrradbranche insgesamt gelingt, dem Publikum zu vermitteln, dass der Preis nicht das einzige und auch nicht das wichtigste Kriterium beim Fahrradkauf sein sollte. Auch Sebastian Tegtmeier betont: “Der Handel und die Hersteller haben die gemeinsame Mammutaufgabe, dem Kunden zu vermitteln, wie ein fairer Preis zustande kommt. Nur wenn der Handel und die Hersteller ihre Services wie beispielsweise weitreichende Garantien, hohe Kulanz und auch die fachkundige Beratung in der Preisfindung und -realisierung berücksichtigen können, kann der Kunde auch in Zukunft aus einem breiten Produkt- und Serviceangebot wählen. Mit dem aktuellen Preisniveau ist dies nicht realisierbar und wird mittelfristig nur Verlierer hervorbringen.”