“Hookless” ist eine Felgenbauart ohne Fanghaken in der Felgenflanke. Carbon-Felgen ohne Haken sind einfacher und günstiger zu fertigen, aber weniger sicher gegen Reifenabsprünge, weshalb die Technik umstritten ist, insbesondere bei hohem Reifendruck.
Bilder sagen mehr als Worte. Von Thomas De Gendts Sturz bei der UAE-Tour im Februar bleibt vor allem das Foto vom Rad mit dem abgesprungenen Vorderradreifen hängen, mit der verspritzten Tubeless-Milch und dem gerissenen, schlaff am Rad hängenden grünen Durchschlagschutz, der mehr noch als der Reifen selbst illustriert, dass hier etwas schiefgegangen ist. De Gendt stürzte auf der fünften Etappe ohne sichtbaren Grund. Zum Glück trug er keine schweren Verletzungen davon. Als Ursache stand sofort das Vorderrad im Verdacht, ein Zipp NSW 353 mit hakenloser Felge (hookless) und 28 Millimeter breitem Vittoria Corsa Pro. War der Reifen abgesprungen und hatte den Sturz ausgelöst? Die Fernsehbilder gaben dazu nichts her. De Gendt sagte später, er habe mit dem Vorderrad etwas getroffen und dadurch die Kontrolle verloren. Zipp untersuchte das Laufrad und zeigte Bilder der gebrochenen Felge, die einen massiven Schaden aufweist, der nach einem Schlag aussieht. Auch Vittoria schloss sich der Theorie eines überfahrenen Steins an.
Kurze Zeit später wurde ein Foto von De Gendts Teamkollegen Johannes Adamietz veröffentlicht, das ihn mit abgesprungenem Vorderreifen bei Strade Bianche zeigte – der Defekt mit der gleichen Materialkonstellation wie bei De Gendt passierte vor Beginn der Fernsehübertragung. Die Vorfälle alarmierten die Fahrergewerkschaft CPA. Deren Vorsitzender Adam Hansen forderte umgehend einen Bann für Hookless und berichtete, dass ihm aus dem Peloton zahlreiche Vorfälle mit von hakenlosen Felgen abgesprungenen Reifen zugetragen worden seien. Die UCI versprach, das Thema mit Dringlichkeit anzugehen, veröffentlichte Ende März dann ein Statement, dass man am Thema arbeite und perspektivisch eine sichere Lösung für 2025 schaffen wolle. Die UCI verwies ferner darauf, dass die gängigen Normen einzuhalten seien.
Bevor wir auf die Norm eingehen, ein kurze Erklärung, worum es geht. “Hookless” steht für eine Felgenbauart mit geraden Seitenwänden, die im Gegensatz zu klassischen Felgen kein ausgeprägtes Felgenhorn (= Haken) haben. Das Horn hat eigentlich keine tragende Funktion, es erhöht aber den Absprungdruck, bei dem der Reifen von der Felge springt, ist also ein Sicherheitsmerkmal. Carbon-Felgen lassen sich leichter ohne diesen Haken herstellen, weil dazu ein Hinterschnitt in der Form notwendig ist, der mehrteilige oder aufblasbare Kerne erfordert. Für Hookless sprechen aus Sicht der Hersteller die einfachere Produktion, eine bessere Verdichtung des Laminats und bessere Maßhaltigkeit der Felge. Dagegen spricht die geringere Sicherheit gegen Absprung des Reifens.
Und hier kommt die Norm ins Spiel. Die ISO 5775 regelt im Detail, wie eine Hookless-Felge aussehen soll – mit Maßen und Toleranzen. Außerdem sagt die Norm, dass die Reifen – alle, also sowohl für Hookless wie normale Felgen – mindestens 110 Prozent des maximalen Nenndrucks für fünf Minuten halten müssen. Breitenempfehlungen, welcher Reifen mit welcher Felge kombiniert werden kann, spricht die ETRTO aus, eine Vereinigung von Reifen- und Laufradherstellern, die sich um Kompatibilitätsfragen kümmert.
Die Breitenempfehlungen der ETRTO wurden 2023 geändert. 28er-Reifen – wie der von De Gendt – sind nicht mehr für 25er-Felgen zugelassen. Das steht im Widerspruch zu dem, was die Hookless-Pioniere Enve und Zipp verkünden. Auch Reifenhersteller Schwalbe hält seine Empfehlungen von 2022 nach wie vor für sicher. Die Breite ist also ein kontrovers diskutiertes Thema, wobei allgemein anerkannt wird, dass breitere Reifen bei gegebenem Felgeninnenmaß sicherer sind.
Interessanterweise finden alle Experten, mit denen wir sprachen, die 110-Prozent-Regel der Norm für den Druck völlig unzureichend. Nach unserer Berechnung führt ein Temperaturanstieg um 40 Grad zu 0,5 Bar mehr Druck im Reifen; das entspricht 110 Prozent bei 5 Bar Maximaldruck, den die ETRTO für Hookless empfiehlt, sofern Reifen oder Felge keinen geringeren Grenzdruck haben. Die Norm bietet hier also keine nennenswerte Sicherheitsreserve.
Intern testen die Hersteller deshalb durchgängig höher – mit 150 bis 160 Prozent des gültigen maximalen Drucks, also mit 7,5 bis 8 Bar, Giant auch noch höher. Auch das klingt nach wenig, ist aber in der Welt der breiten Reifen und Felgen, in der überwiegend Drücke unter 4 Bar gefahren werden, durchaus eine ganze Menge.
Vielen Felgenherstellern ist das aber nicht sicher genug. DT Swiss zum Beispiel, der Größte der Branche, baut keine Hookless-Felgen für Reifen unter 33 Millimetern Breite. Philipp Lüdi, Leiter des DT-Testlabors, begründet dies so: “Wir müssen naheliegenden Fehlgebrauch einkalkulieren. Dazu gehören zu hohe Drücke oder Reifen, die nicht für Hookless freigegeben sind.”
Und diese Freigabe ist in der Tat ein großes Problem in der bastel- und tauschfreudigen Rennradszene, wo gerne Material nach eigenem Gusto kombiniert wird. Denn hier kocht jeder Hersteller sein eigenes Süppchen, und die Kennzeichnungen der Produkte sind nicht eindeutig. Auf den Webseiten der Laufradhersteller stehen Kompatibilitätslisten, welcher Reifen auf welcher Felge zugelassen ist. Diese Listen basieren auf statischen Überdrucktests, können als Stichproben aber nur einen Hinweis geben, welche Paarung funktioniert. Fehlende Reifen in den Listen werfen Fragen auf: Wurden sie nicht getestet, oder haben sie versagt?
Hier zeigt sich die entscheidende Schwäche der Norm: Der Reifen ist überhaupt nicht definiert – außer dass er zur Felge passen soll –, und die Drucksicherheit ist viel zu lasch angegeben.
Aus technischer Sicht ginge das viel besser. Wären auch Kennwerte des Reifens gegeben – Nennmaß und maximale Dehnung des Kerns bei einem Druck-Sicherheitsaufschlag von zum Beispiel 160 Prozent –, dann gäbe es das Thema Reifenabsprung mutmaßlich gar nicht, und jeder eindeutig als Hookless-fähig markierte Reifen wäre sicher auf einer maßhaltigen Hookless-Felge.
Dass die Norm so lasch ist, liegt wohl vor allem an wirtschaftlichen Gründen. Leichte und sehr steife Reifenkerne aus Zylon, die steifer sind als die übliche Aramid-Kerne, sind so teuer, dass Hersteller sie nicht flächendeckend verwenden.
Die erforderlichen Eigenschaften des Reifenkerns sind aber messbar. Der Laufradhersteller Enve hat eine Testmaschine dafür in seinem Labor stehen und spricht von signifikanten Unterschieden in der Reifenkernsteifigkeit. Vizepräsident Jake Pantone berichtet von Enves Erfahrungen: “Im Wesentlichen haben wir herausgefunden, dass das richtige Erfolgsrezept ein optimaler Bereich für Reifenwulststeifigkeit und Durchmesser ist. Grundsätzlich ist ein Wulst vorteilhaft, der steif ist und vor allem einer, der sich nicht im Laufe der Zeit dehnt. Zweitens ein Durchmesser, der die Montage ermöglicht, aber auch eng genug ist, um eine Abdichtung und einen Presssitz auf der Felge zu erreichen, aber wiederum nicht so eng, dass er die Felge zu sehr zusammendrückt. Einige Reifen mit kleinem Wulst drücken die Felge stark zusammen, was zu anderen Problemen wie dem Verlust der Speichenspannung führt.”
Ist Hookless also eigentlich doch sicher? Das hängt bei normgerechter Felge und eingehaltenen Drücken augenscheinlich vor allem vom Reifen ab. Gibt der Reifenwulst auch großen Kräften kaum nach – durch Reifeninnendruck oder durch dynamische Lastspitzen im Fahren –, sitzt der Reifen allzeit sicher im Bett.
Praktisch ist dies leider nicht immer der Fall. Nach unserer Recherche sind abspringende Reifen bei Hookless kein Massenphänomen, aber es finden sich Beispiele – auch in Leserzuschriften. Die Gefahr einer Fehlnutzung ist real. Ein Insider aus der Reifenbranche berichtete uns: “Viele Leute wissen gar nicht, dass sie Hookless fahren. Die Produkte kleiner Hersteller sind weiter verbreitet, als man denkt. Wenn da der falsche Reifen montiert wird, knallt’s.”
Kommen Felgen und Reifen aus einer Hand, wie bei Giant (Markenname Cadex), dürfte die Sicherheit hingegen relativ hoch sein. Giant lässt auch Reifendruck über 5 Bar für Hookless zu und testet relativ rigoros. Abspringende Reifen von Cadex-Felgen sind uns in der Recherche nicht begegnet. Kombiniert man Cadex-Laufräder mit Reifen anderer Hersteller, kommt es jedoch zu Einschränkungen. Giant listet auf seiner Webseite auch Reifen anderer Hersteller auf, die im Drucktest durchgefallen sind.
Zusammengefasst: Die Lage ist unbefriedigend, weil unübersichtlich. Die beste Lösung wäre ein verbindlicher und sinnvoller Standard, der das Sicherheitsniveau auch ohne Haken am Felgenhorn so hoch setzt, dass Reifenabsprünge ausgeschlossen sind. Hinzukommen sollte eine eindeutige und leicht lesbare Kennzeichnung von Felge und Reifen. Keine winzige Schrift, schwarz auf schwarz auf der Reifenflanke.
Bei niedrigem Reifendruck – an Gravel- und Mountainbikes – funktioniert Hookless auch heute schon gut, wenn man nicht übertreibt. Wer 2,4 Zoll breite Schlappen auf einer aktuellen Mountainbike-Felge auf 3,5 Bar pumpt, also etwa 2 Bar mehr als sinnvoll, überschreitet die Drucklimits der Felge und riskiert, dass diese explodiert.
Dass sich beim Rennrad der Reifendruck dank breiterer Pneus und Felgen gesenkt hat, ist ein Gewinn. Denn diese Kombinationen fahren sich schöner als die schmalen Hochdruckreifen der Vergangenheit. Der Fortschritt ist indirekt vielleicht auch ein Verdienst der exakt benannten Obergrenzen für das Hookless-System: Maximal 5 Bar am Rennrad signalisieren plakativ, dass sich etwas verändert hat. Aber Standpumpen geben locker viel mehr her, und 7 bis 8 Bar im Rennradpneu waren bis vor Kurzem noch relativ normal.
Es wird wohl noch etwas dauern, bis Hookless sich als narrensichere Technik etabliert. Dass sich das System durchsetzen wird, glaubt unter anderem Branchen-Veteran und Technik-Vordenker Josh Poertner, der Chef von Silca, denn bisher habe sich noch jede vorteilhafte Produktionsmethode auf lange Sicht durchgesetzt, sagte er in einem Gespräch mit Dan Empfield von Slowtwitch. Bis es so weit ist, heißt es: Augen auf bei der Reifenwahl und den Druck schön niedrig halten. Oder weiter konventionelle Felgen fahren, das Angebot ist ja groß.
Eine der Herausforderungen ist die perfekte Abstimmung von Felgen und Reifen, da diese als Einheit funktionieren müssen. Die Felgendimensionen sind genormt, die Reifen sind es nicht. Es liegt in der Verantwortung der Reifenhersteller, die Reifen für Hookless sicher zu konstruieren: dehnungsresistent, passgenau und damit absprungsicher.
Die Kompatibilität wird wechselseitig von Reifen- und Laufradherstellern getestet, aber nicht nach einer einheitlichen Norm. Jeder hat sein eigenes Verfahren. Naturgemäß gelingt die Paarung am einfachsten, wenn beide Komponenten von einem Hersteller stammen, wie es bei Giant unter der Marke Cadex der Fall ist.
Zu hoher Reifendruck kostet Performance auf der Straße – der Reifen rollt schlechter und weniger komfortabel. In Verbindung mit Hookless ist zu hoher Druck das Hauptrisiko. Moderne Reifen-Felgen-Kombinationen werden mit deutlich niedrigerem Druck gefahren als traditionelle Reifengrößen.
Deshalb sollte man unbedingt die einschlägigen Druckrechner bemühen, um vernünftigen Reifendruck einzustellen. Der liegt mit 28er-Reifen meist bei unter 5 Bar – dem Hookless-Drucklimit. Beträgt der empfohlene Druck 5 Bar oder mehr: breitere Reifen mit 30–34 Millimetern Nennmaß und entsprechend niedrigeren Reifendruck wählen.
Tipp: die Manometer an der Pumpe mit einem Druckprüfer gegenchecken.
28er-Reifen sind auf Felgen mit 25er-Innenmaß nach einem Update der Norm in 2023 nicht mehr zulässig. 29 Millimeter sind nun das Mindestmaß.
5 Bar sind der zulässige Höchstdruck für Hookless-Felgen mit geeigneten Reifen. Aber wie groß sind die Sicherheitsfaktoren – und sind diese ausreichend?
Ob Hookless sicher ist, hängt an einer Vielzahl von Faktoren. Zentrale Größen sind Druck, Maßhaltigkeit der Felge und Dehnbarkeit des Reifens. Denn der Absprungdruck liegt niedriger als bei Felgen mit Haken. Bei bestimmungsgemäßem Gebrauch liegt der Druck, mit dem Hookless gefahren wird, deutlich unter den 5 Bar, die die ETRTO als Höchstgrenze empfiehlt, und damit weit weg von den Testwerten der Hersteller, die in der Regel mit 150 bis 165 Prozent des maximal zulässigen Drucks testen, manche auch höher. Das klingt erst mal viel, aber die wahre Sicherheitsmarge ist nicht so groß, da sie durch Temperatur (minus 0,5 Bar für 40° C), Dehnung (ca. minus 1 Bar) und Montagefluid (minus 1 Bar) schrumpfen kann. Essenziell ist ein sehr steifer Reifenwulst – nur dann ist Sicherheit gegeben. 10 Bar, wie in unserem statischen Drucktest, entsprechen 200 Prozent Sicherheit. Die größte Unsicherheit entsteht durch die Kombination von Hookless-Felgen mit ungeeigneten Reifen.
Wir haben einige Kombinationen von Reifen und Felgen mit statischen Überdrucktests im Labor von DT Swiss getestet und die Laufräder auf Maßhaltigkeit vermessen. Ergebnis: Alle Laufräder liegen innerhalb der Norm, alle Reifen bzw. Felgenpaarungen bestanden den Absprung-Test. Erst bei doppeltem Nenndruck – also 10 Bar – und Verwendung von Montagefluid sprang bei der Paarung Zipp 303/Vittoria Corsa Pro 28 mm der Reifen ab.
Einige Reifen-Laufrad-Kombinationen haben wir einem Durchschlagtest mit abrollendem Reifen unterzogen – mit einem Prüfaufbau, den wir eigens hierzu entworfen haben. Dieser dynamische Test sollte klären, ob Reifen durch Stoßbelastungen von der Felge gezogen werden können. Ergebnis: Die dynamischen Stöße konnten die Reifen nicht von den Felgen ziehen, selbst kritische Felgen-Reifen-Kombinationen ertrugen schräge Stöße bei einem Druck knapp unterhalb des statischen Absprungdrucks, ohne dass die Reifen absprangen. Das heißt aber nicht, dass Stöße per se kein Problem darstellen. Mutmaßlich sind die Rahmenbedingungen unseres Versuchs nicht ausreichend scharf – so beträgt unsere Aufprallgeschwindigkeit wegen des limitieren Anlaufs nur 17,5 km/h.